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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Drinnen und draußen

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und mit ihr alle übrigen Paradoxen der
Einsteinschen Lehre, deutete er als bloße
Fiktionen, bloße Annahmen in scharfem
Gegensatze zu Lehrsätzen und Hypothesen.
Es war eigenartig, zu sehen, wie die doch aus
Positivistischen Gedankengängen erwachsene
Philosophie des Als Ob hier dem Rationa¬
lismus und Idealismus dienstbar gemacht
wurde.

Professor Julius Schulz' glänzend dis¬
ponierter und dargebotener Vortrag über
"die Fiktion vom Universum als Maschine"
brachte Leibnizens "Prästabilierte Harmonie"
-- aber, wohlgemerkt, nur als Fiktion! --
wieder zu Ehren, als einzige Möglichkeit,
das Universum begrifflich und rechnerisch zu
verstehen. Lehrreich waren Professor Kowa-
lewskis Ausführungen über "pädagogische
Fiktionen". Der Lehrer bedient sich ihrer
beim Bemessen von Durchschnittsleistungen,
bei der Zensurbeurteilung. Er gebraucht
illustrative Fiktionen für die Veranschaulichung
abstrakter Gedanken, ja seine ganze Ein¬
stellung ist fiktiv: er versetzt sich auf den
Standpunkt des Schülers: er fragt, als ob
er die Antwort nicht wisse. Denn jede
pädagogische Tendenz enthält zu ihrer Durch¬
führung einen logischen Fehler, der durch
einen anderen Fehler ausgeglichen werden muß
(Vaihingers Prinzip der doppelten Fehler).
Müller-Freienfels entwickelte in temperament¬
voller Rede die "Fiktionen in der Geschichts¬
wissenschaft", Dr. Knopf faßte die pictum.
strikteren Thesen der Psychoanalyse als heu¬
ristisch wertvolle Hilfssätze.

Die Haupttagung am Sonntag, dem
30. Mai, brachte die geschäftliche Sitzung:
Entlastungen, Wahlen, zumal neuer Ehren¬
mitglieder und die große Programmrede
Professor NatorPS: "Die Fortbildung des
kritischen Idealismus, Rückblick und Vorblick".
Es war das Fazit eines langen Lebens im
Dienste der Gedanken Platons und Kants.
Sein Korreferent Professor Liebert verstand
es, mit glänzender Beredsamkeit die Zukunfts¬
aufgaben des Neukantianismus noch deutlicher
zu umreißen, den kritischen Idealismus sogar,
mit Einsteins Begriffen in Einklang zu setzen
und allen Skeptizismus abzuwehren. Die
Freiheit als Eigengesetzlichkeit der schöpfe-
riichen Vernunft, die kritische Metaphysik als

[Spaltenumbruch]

Ziel philosophischer Bemühung: freilich, zu
diesen Idealen durfte der Redner auch weit
über den Umkreis der Marvurger Schule
hinaus auf begeisterte Zustimmung rechnen.

Die stärksten Eindrücke nahmen alle Teil¬
nehmer indes aus den Verhandlungen zum
gymnasialen Philosophieunterricht mit nach
Hause. Was ihnen Geheimer Studienrat
Goldbeck, der bekannte Berliner Schulmann,
bot, war ein nachhaltiges Erlebnis. Er wie
sein Korreferent Prtvatdozent Wichmann aus
Halle stimmten in der Forderung nach Philo¬
sophischer Durchdringung und Vertiefung der
gymnasialen Einzelfächer ohne Einführung
der Philosophie als besonderen Lehrfachs
überein. Von dem Skeptizismus Professor
Frischeisen-Köhlers angesichts der Prinzipiellen
Umkehrbarkeit der Philosophie bis zu den
Drängern auf Erweiterung der Lehrpläne
zugunsten der Philosophie ergab sich eine
reiche Abstufung der Meinungen unter den
anwesenden Philosophen und Erziehern. Aber
das Richtige hatte Direktor Goldbeck ge¬
troffen: die Jugend, viel verkannt und ge¬
schmäht, besitzt den Willen zum Wesentlichen,
den philosophischen Trieb nach einem Total¬
leben und nach einem umfassenden Welt¬
bild. Nicht neue Fächer -- eine neue Schule
muß kommen. Und die Philosophen müssen
kommen, die das in Gedanken fassen können,
wonach die Seele unserer Jugend hungert.

Dr. Paul Feldkeller
Zur Verantwortlichkeit am Kriege.

Ju
seinen politischen Betrachtungen in der Kevue
6es 6eux monäes hat Poincare geschrieben:
"Es ist schmerzlich, zu sehen, daß einige von
politischen Leidenschaften verblendete Franzosen
zu gleicher Zeit wie Deutschland an der Ent¬
stellung der Geschichte mitarbeiten und daß
sogar in Paris kühne Entstellungen über die
nahen oder fernen Ursprünge des Krieges
gedruckt werden. Was mich betrifft, der ich
mich seit 30 Jahren mit der Politik meines
Landes beschäftige, so habe ich niemals einen
Präsidenten der Republik, einen Kabinettschef
oder irgend einen Minister gekannt, der ver¬
blendet genug gewesen wäre, einen bewaffneten
Konflikt zwischen Deutschland und uns zu
wünschen und der die Ncvanchcidee ausge¬
sprochen oder auch nur erwogen hätte."

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Drinnen und draußen

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und mit ihr alle übrigen Paradoxen der
Einsteinschen Lehre, deutete er als bloße
Fiktionen, bloße Annahmen in scharfem
Gegensatze zu Lehrsätzen und Hypothesen.
Es war eigenartig, zu sehen, wie die doch aus
Positivistischen Gedankengängen erwachsene
Philosophie des Als Ob hier dem Rationa¬
lismus und Idealismus dienstbar gemacht
wurde.

Professor Julius Schulz' glänzend dis¬
ponierter und dargebotener Vortrag über
„die Fiktion vom Universum als Maschine"
brachte Leibnizens „Prästabilierte Harmonie"
— aber, wohlgemerkt, nur als Fiktion! —
wieder zu Ehren, als einzige Möglichkeit,
das Universum begrifflich und rechnerisch zu
verstehen. Lehrreich waren Professor Kowa-
lewskis Ausführungen über „pädagogische
Fiktionen". Der Lehrer bedient sich ihrer
beim Bemessen von Durchschnittsleistungen,
bei der Zensurbeurteilung. Er gebraucht
illustrative Fiktionen für die Veranschaulichung
abstrakter Gedanken, ja seine ganze Ein¬
stellung ist fiktiv: er versetzt sich auf den
Standpunkt des Schülers: er fragt, als ob
er die Antwort nicht wisse. Denn jede
pädagogische Tendenz enthält zu ihrer Durch¬
führung einen logischen Fehler, der durch
einen anderen Fehler ausgeglichen werden muß
(Vaihingers Prinzip der doppelten Fehler).
Müller-Freienfels entwickelte in temperament¬
voller Rede die „Fiktionen in der Geschichts¬
wissenschaft", Dr. Knopf faßte die pictum.
strikteren Thesen der Psychoanalyse als heu¬
ristisch wertvolle Hilfssätze.

Die Haupttagung am Sonntag, dem
30. Mai, brachte die geschäftliche Sitzung:
Entlastungen, Wahlen, zumal neuer Ehren¬
mitglieder und die große Programmrede
Professor NatorPS: „Die Fortbildung des
kritischen Idealismus, Rückblick und Vorblick".
Es war das Fazit eines langen Lebens im
Dienste der Gedanken Platons und Kants.
Sein Korreferent Professor Liebert verstand
es, mit glänzender Beredsamkeit die Zukunfts¬
aufgaben des Neukantianismus noch deutlicher
zu umreißen, den kritischen Idealismus sogar,
mit Einsteins Begriffen in Einklang zu setzen
und allen Skeptizismus abzuwehren. Die
Freiheit als Eigengesetzlichkeit der schöpfe-
riichen Vernunft, die kritische Metaphysik als

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Ziel philosophischer Bemühung: freilich, zu
diesen Idealen durfte der Redner auch weit
über den Umkreis der Marvurger Schule
hinaus auf begeisterte Zustimmung rechnen.

Die stärksten Eindrücke nahmen alle Teil¬
nehmer indes aus den Verhandlungen zum
gymnasialen Philosophieunterricht mit nach
Hause. Was ihnen Geheimer Studienrat
Goldbeck, der bekannte Berliner Schulmann,
bot, war ein nachhaltiges Erlebnis. Er wie
sein Korreferent Prtvatdozent Wichmann aus
Halle stimmten in der Forderung nach Philo¬
sophischer Durchdringung und Vertiefung der
gymnasialen Einzelfächer ohne Einführung
der Philosophie als besonderen Lehrfachs
überein. Von dem Skeptizismus Professor
Frischeisen-Köhlers angesichts der Prinzipiellen
Umkehrbarkeit der Philosophie bis zu den
Drängern auf Erweiterung der Lehrpläne
zugunsten der Philosophie ergab sich eine
reiche Abstufung der Meinungen unter den
anwesenden Philosophen und Erziehern. Aber
das Richtige hatte Direktor Goldbeck ge¬
troffen: die Jugend, viel verkannt und ge¬
schmäht, besitzt den Willen zum Wesentlichen,
den philosophischen Trieb nach einem Total¬
leben und nach einem umfassenden Welt¬
bild. Nicht neue Fächer — eine neue Schule
muß kommen. Und die Philosophen müssen
kommen, die das in Gedanken fassen können,
wonach die Seele unserer Jugend hungert.

Dr. Paul Feldkeller
Zur Verantwortlichkeit am Kriege.

Ju
seinen politischen Betrachtungen in der Kevue
6es 6eux monäes hat Poincare geschrieben:
„Es ist schmerzlich, zu sehen, daß einige von
politischen Leidenschaften verblendete Franzosen
zu gleicher Zeit wie Deutschland an der Ent¬
stellung der Geschichte mitarbeiten und daß
sogar in Paris kühne Entstellungen über die
nahen oder fernen Ursprünge des Krieges
gedruckt werden. Was mich betrifft, der ich
mich seit 30 Jahren mit der Politik meines
Landes beschäftige, so habe ich niemals einen
Präsidenten der Republik, einen Kabinettschef
oder irgend einen Minister gekannt, der ver¬
blendet genug gewesen wäre, einen bewaffneten
Konflikt zwischen Deutschland und uns zu
wünschen und der die Ncvanchcidee ausge¬
sprochen oder auch nur erwogen hätte."

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[0086] Drinnen und draußen und mit ihr alle übrigen Paradoxen der Einsteinschen Lehre, deutete er als bloße Fiktionen, bloße Annahmen in scharfem Gegensatze zu Lehrsätzen und Hypothesen. Es war eigenartig, zu sehen, wie die doch aus Positivistischen Gedankengängen erwachsene Philosophie des Als Ob hier dem Rationa¬ lismus und Idealismus dienstbar gemacht wurde. Professor Julius Schulz' glänzend dis¬ ponierter und dargebotener Vortrag über „die Fiktion vom Universum als Maschine" brachte Leibnizens „Prästabilierte Harmonie" — aber, wohlgemerkt, nur als Fiktion! — wieder zu Ehren, als einzige Möglichkeit, das Universum begrifflich und rechnerisch zu verstehen. Lehrreich waren Professor Kowa- lewskis Ausführungen über „pädagogische Fiktionen". Der Lehrer bedient sich ihrer beim Bemessen von Durchschnittsleistungen, bei der Zensurbeurteilung. Er gebraucht illustrative Fiktionen für die Veranschaulichung abstrakter Gedanken, ja seine ganze Ein¬ stellung ist fiktiv: er versetzt sich auf den Standpunkt des Schülers: er fragt, als ob er die Antwort nicht wisse. Denn jede pädagogische Tendenz enthält zu ihrer Durch¬ führung einen logischen Fehler, der durch einen anderen Fehler ausgeglichen werden muß (Vaihingers Prinzip der doppelten Fehler). Müller-Freienfels entwickelte in temperament¬ voller Rede die „Fiktionen in der Geschichts¬ wissenschaft", Dr. Knopf faßte die pictum. strikteren Thesen der Psychoanalyse als heu¬ ristisch wertvolle Hilfssätze. Die Haupttagung am Sonntag, dem 30. Mai, brachte die geschäftliche Sitzung: Entlastungen, Wahlen, zumal neuer Ehren¬ mitglieder und die große Programmrede Professor NatorPS: „Die Fortbildung des kritischen Idealismus, Rückblick und Vorblick". Es war das Fazit eines langen Lebens im Dienste der Gedanken Platons und Kants. Sein Korreferent Professor Liebert verstand es, mit glänzender Beredsamkeit die Zukunfts¬ aufgaben des Neukantianismus noch deutlicher zu umreißen, den kritischen Idealismus sogar, mit Einsteins Begriffen in Einklang zu setzen und allen Skeptizismus abzuwehren. Die Freiheit als Eigengesetzlichkeit der schöpfe- riichen Vernunft, die kritische Metaphysik als Ziel philosophischer Bemühung: freilich, zu diesen Idealen durfte der Redner auch weit über den Umkreis der Marvurger Schule hinaus auf begeisterte Zustimmung rechnen. Die stärksten Eindrücke nahmen alle Teil¬ nehmer indes aus den Verhandlungen zum gymnasialen Philosophieunterricht mit nach Hause. Was ihnen Geheimer Studienrat Goldbeck, der bekannte Berliner Schulmann, bot, war ein nachhaltiges Erlebnis. Er wie sein Korreferent Prtvatdozent Wichmann aus Halle stimmten in der Forderung nach Philo¬ sophischer Durchdringung und Vertiefung der gymnasialen Einzelfächer ohne Einführung der Philosophie als besonderen Lehrfachs überein. Von dem Skeptizismus Professor Frischeisen-Köhlers angesichts der Prinzipiellen Umkehrbarkeit der Philosophie bis zu den Drängern auf Erweiterung der Lehrpläne zugunsten der Philosophie ergab sich eine reiche Abstufung der Meinungen unter den anwesenden Philosophen und Erziehern. Aber das Richtige hatte Direktor Goldbeck ge¬ troffen: die Jugend, viel verkannt und ge¬ schmäht, besitzt den Willen zum Wesentlichen, den philosophischen Trieb nach einem Total¬ leben und nach einem umfassenden Welt¬ bild. Nicht neue Fächer — eine neue Schule muß kommen. Und die Philosophen müssen kommen, die das in Gedanken fassen können, wonach die Seele unserer Jugend hungert. Dr. Paul Feldkeller Zur Verantwortlichkeit am Kriege. Ju seinen politischen Betrachtungen in der Kevue 6es 6eux monäes hat Poincare geschrieben: „Es ist schmerzlich, zu sehen, daß einige von politischen Leidenschaften verblendete Franzosen zu gleicher Zeit wie Deutschland an der Ent¬ stellung der Geschichte mitarbeiten und daß sogar in Paris kühne Entstellungen über die nahen oder fernen Ursprünge des Krieges gedruckt werden. Was mich betrifft, der ich mich seit 30 Jahren mit der Politik meines Landes beschäftige, so habe ich niemals einen Präsidenten der Republik, einen Kabinettschef oder irgend einen Minister gekannt, der ver¬ blendet genug gewesen wäre, einen bewaffneten Konflikt zwischen Deutschland und uns zu wünschen und der die Ncvanchcidee ausge¬ sprochen oder auch nur erwogen hätte."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/86>, abgerufen am 01.07.2024.