Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.Briefe aus Sowjetrußland Juni 5920 persönlichen Gebrauch benötigt, zu normierten Preisen, d. h. umsonst, wegnimmt, Interessant sind die heutigen Heiraten in Sowjetrußland. Der Mann kann Das Eheleben an und für sich ist durch die trüben Wohnungsverhältnisse fast Für die deutschen Kriegsgefangenen in Moskau und Petersburg sorgen die Briefe aus Sowjetrußland Juni 5920 persönlichen Gebrauch benötigt, zu normierten Preisen, d. h. umsonst, wegnimmt, Interessant sind die heutigen Heiraten in Sowjetrußland. Der Mann kann Das Eheleben an und für sich ist durch die trüben Wohnungsverhältnisse fast Für die deutschen Kriegsgefangenen in Moskau und Petersburg sorgen die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337671"/> <fw type="header" place="top"> Briefe aus Sowjetrußland Juni 5920</fw><lb/> <p xml:id="ID_61" prev="#ID_60"> persönlichen Gebrauch benötigt, zu normierten Preisen, d. h. umsonst, wegnimmt,<lb/> läßt man ihn durch allerhand Dekrete seinen Viehstand nicht vergrößern. Man<lb/> requiriert ihm laut Dekret jedes überzählige Stück Vieh, so daß er nachts sein Kalb<lb/> schlachtet und das Fleisch heimlich, teils mit Lebensgefahr, an Stadtbewohner ver¬<lb/> kauft. Die größte Not im Dorfe herrscht an Salz (das Pfund Salz kostet<lb/> lOOl) Rubel). Der Bauer kann sich keine Wintervorräte einsahen. Er ißt sämtliche<lb/> Speisen ohne Salz und würde für Salz gern seine ganzen Produkte eintauschen.</p><lb/> <p xml:id="ID_62"> Interessant sind die heutigen Heiraten in Sowjetrußland. Der Mann kann<lb/> nach Wunsch den Namen der Frau annehmen, oder die Frau den Namen des<lb/> Mannes. Die Zeremonien vollziehen sich glatt und sehr schnell. Man geht auf das<lb/> Volkskommissariat, gibt seine Personalien an, bekommt einen Stempel und ist ver¬<lb/> heiratet. Als Prämie gibt die Sowjetrcgierung noch 40 Arschin leichten Stoff, eine<lb/> Teemaschine und noch einige Kleinigkeiten zu Markenprcisen. Viele heiraten nur,<lb/> um diese Sachen zu bekommen, um sie nachher im Schleichhandel zu hohen Preisen<lb/> wieder zu verkaufen. Ebenso leicht wie das Heiraten ist das Scheiden. Einer der<lb/> beiden Gatten geht auf das Volkskommissariat und in ebenfalls 5 Minuten ist die<lb/> Scheidung verwirklicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_63"> Das Eheleben an und für sich ist durch die trüben Wohnungsverhältnisse fast<lb/> vollkommen vernichtet. Jeder der Gatten ist angestellt und sorgt nur für das täg¬<lb/> liche Stückchen Brot. Eine Allgemeinerscheinung, wahrscheinlich infolge der schon<lb/> jahrelangen einseitigen Ernährung und Kartoffelkuren, ist die Unfruchtbarkeit bei<lb/> den Frauen. Theater und Kinematographen sind von den Kommunisten überfüllt,<lb/> während Konzerte außerordentlich schwach besucht werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_64" next="#ID_65"> Für die deutschen Kriegsgefangenen in Moskau und Petersburg sorgen die<lb/> dcrtigen deutschen Arbeiter- und Soldatenrätc. Sie sind nicistenteils frühere<lb/> Ordonnanzen der während des Brester Friedens in Rußland anwesenden deutschen<lb/> Konsulate und Hilfskommissionen. Um von der Sowjetregierung geduldet zu<lb/> werden, müssen sie unter den Kriegsgefangenen bolschewistische Propaganda ver¬<lb/> breiten, und es wird sehr anerkannt, wenn deutsche Soldaten infolge dieser Propa¬<lb/> ganda in die Rote Armee eintreten. Im großen und ganzen muß man aber vor allen<lb/> Dingen den Leitern der Heime alle Anerkennung für die Aufopferung den Kriegs¬<lb/> gefangenen gegenüber aussprechen, denn wenn diese Fürsorge nicht vorhanden wäre,<lb/> würde es unseren Gefangenen außerordentlich schlimm in Rußland gehen. Der<lb/> Abteilung VII vom Zentralkomitee der deutschen Vereine vom Roten Kreuz ist es<lb/> als erster gelungen, die Verbindung mit den in Sowjetrußland zurückgebliebenen<lb/> Deutschen wiederherzustellen. Es waren rührende Szenen und Ströme von Dankcs-<lb/> und Freudentränen, als unsere Landsleute nach zweijähriger Abgeschnittenhcit<lb/> wieder Nachrichten von ihren Angehörigen im Auslande erhielten. Ebenso um¬<lb/> gekehrt, als Nachrichten aus Rußland von längst erschossen oder verhungert ge¬<lb/> glaubten Freunden und Familienmitgliedern hier eintrafen. Es ist dies um so<lb/> mehr eine hervorragende Arbeit, als sich unsere Regierung um die in Moskau,<lb/> Petersburg usw. ansässigen deutschen Zivilpersonen absolut nicht kümmert. Für<lb/> die Kriegsgefangenen hat das Rote Kreuz viel statistisches Material, amtliche Todes¬<lb/> urkunden usw. erhalten und wird auch weiter, dank seiner internationalen Ver¬<lb/> bindungen und freundschaftlichem Zusammenarbeiten mit dem esthnischen Noten<lb/> Kreuz, in der Lage sein, Nachrichten über die in Rußland darbenden</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
Briefe aus Sowjetrußland Juni 5920
persönlichen Gebrauch benötigt, zu normierten Preisen, d. h. umsonst, wegnimmt,
läßt man ihn durch allerhand Dekrete seinen Viehstand nicht vergrößern. Man
requiriert ihm laut Dekret jedes überzählige Stück Vieh, so daß er nachts sein Kalb
schlachtet und das Fleisch heimlich, teils mit Lebensgefahr, an Stadtbewohner ver¬
kauft. Die größte Not im Dorfe herrscht an Salz (das Pfund Salz kostet
lOOl) Rubel). Der Bauer kann sich keine Wintervorräte einsahen. Er ißt sämtliche
Speisen ohne Salz und würde für Salz gern seine ganzen Produkte eintauschen.
Interessant sind die heutigen Heiraten in Sowjetrußland. Der Mann kann
nach Wunsch den Namen der Frau annehmen, oder die Frau den Namen des
Mannes. Die Zeremonien vollziehen sich glatt und sehr schnell. Man geht auf das
Volkskommissariat, gibt seine Personalien an, bekommt einen Stempel und ist ver¬
heiratet. Als Prämie gibt die Sowjetrcgierung noch 40 Arschin leichten Stoff, eine
Teemaschine und noch einige Kleinigkeiten zu Markenprcisen. Viele heiraten nur,
um diese Sachen zu bekommen, um sie nachher im Schleichhandel zu hohen Preisen
wieder zu verkaufen. Ebenso leicht wie das Heiraten ist das Scheiden. Einer der
beiden Gatten geht auf das Volkskommissariat und in ebenfalls 5 Minuten ist die
Scheidung verwirklicht.
Das Eheleben an und für sich ist durch die trüben Wohnungsverhältnisse fast
vollkommen vernichtet. Jeder der Gatten ist angestellt und sorgt nur für das täg¬
liche Stückchen Brot. Eine Allgemeinerscheinung, wahrscheinlich infolge der schon
jahrelangen einseitigen Ernährung und Kartoffelkuren, ist die Unfruchtbarkeit bei
den Frauen. Theater und Kinematographen sind von den Kommunisten überfüllt,
während Konzerte außerordentlich schwach besucht werden.
Für die deutschen Kriegsgefangenen in Moskau und Petersburg sorgen die
dcrtigen deutschen Arbeiter- und Soldatenrätc. Sie sind nicistenteils frühere
Ordonnanzen der während des Brester Friedens in Rußland anwesenden deutschen
Konsulate und Hilfskommissionen. Um von der Sowjetregierung geduldet zu
werden, müssen sie unter den Kriegsgefangenen bolschewistische Propaganda ver¬
breiten, und es wird sehr anerkannt, wenn deutsche Soldaten infolge dieser Propa¬
ganda in die Rote Armee eintreten. Im großen und ganzen muß man aber vor allen
Dingen den Leitern der Heime alle Anerkennung für die Aufopferung den Kriegs¬
gefangenen gegenüber aussprechen, denn wenn diese Fürsorge nicht vorhanden wäre,
würde es unseren Gefangenen außerordentlich schlimm in Rußland gehen. Der
Abteilung VII vom Zentralkomitee der deutschen Vereine vom Roten Kreuz ist es
als erster gelungen, die Verbindung mit den in Sowjetrußland zurückgebliebenen
Deutschen wiederherzustellen. Es waren rührende Szenen und Ströme von Dankcs-
und Freudentränen, als unsere Landsleute nach zweijähriger Abgeschnittenhcit
wieder Nachrichten von ihren Angehörigen im Auslande erhielten. Ebenso um¬
gekehrt, als Nachrichten aus Rußland von längst erschossen oder verhungert ge¬
glaubten Freunden und Familienmitgliedern hier eintrafen. Es ist dies um so
mehr eine hervorragende Arbeit, als sich unsere Regierung um die in Moskau,
Petersburg usw. ansässigen deutschen Zivilpersonen absolut nicht kümmert. Für
die Kriegsgefangenen hat das Rote Kreuz viel statistisches Material, amtliche Todes¬
urkunden usw. erhalten und wird auch weiter, dank seiner internationalen Ver¬
bindungen und freundschaftlichem Zusammenarbeiten mit dem esthnischen Noten
Kreuz, in der Lage sein, Nachrichten über die in Rußland darbenden
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |