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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Aus Geheimberichten an sen Grafen Hertling

J6J

Die öffentliche Meinung in England und Frankreich hat, entsprechend
den Aufwärts- und Abwärtsbewegungen der Kurve der Versenkungen neutraler
und eigener Schiffe durch deutsche Unterseeboote, sei 1. Februar drei verschiedene
erlebt. Die erste war die jenes ausgesprochenen Optimismus der Entente¬
länder, der die Ankündigung des verschärften Unterseebootskrieges als einen
Bluff erklärte. Sie dauerte etwa bis Ende März. Die zweite umfaßt die Zeit
von Beginn April bis Mitte Mai. Sie war durch die pessimistische Note gekenn¬
zeichnet, die am stärksten in den Erklärungen von Lloyd George über die zu¬
nehmenden Versorgungsschwierigkeiten Englands zum Ausdruck kam. Die
dritte setzte etwa Mitte Mai ein und schließt mit der ersten Dekade des Juni ab.
Sie ist charakterisiert durch eine sichtliche Entspannung, soweit das psychologische
Moment in Frage steht und durch ein sichtliches Wiederaufleben der Über¬
zeugung, daß der deutsche Unterseebootskrieg, soweit er die Niederwerfung
Englands als ullius, i alle" der deutschen Kriegsführung darstellt, diesen seinen
Zweck nicht erreichen, sondern lediglich den Krieg verlängern wird.

Man ist in London und Paris angesichts des Rückganges, den die Wirksam¬
keit des deutschen Unterseebootskrieges seit Ende Mai erfahren hat, bereits
wieder zu einer optimistischen Beurteilung der Gesamtlage zurückgekehrt und
hält die Krisis, von der speziell England bedroht war, für überwunden, wenn die
Zahl der Versenkungen ab 10. Juni weiterhin auf der bisher zu beobachtenden
Linie verbleibt. Die Anschauung der maßgebenden Kreise Englands und Frank¬
reichs läßt sich in folgende drei Leitsätze zusammenfassen:

1. Die tatsächliche Abnahme der Versenkungen in einem Zeitpunkt, in dem
Deutschland ein Lebensinteresse daran hätte, die Quote der Versenkungen
zum mindesten auf der Höhe der Aprilkurve zu halten, zeigt, daß die Höchst
leistung der deutschen Unterseeboote bereits im April erreicht war.
2. Die prozentuale Zunahme der durch die verstärkten und verbesserten Abwehr¬
methoden der englischen und französischen Flotte außer Gefecht gesetzten
deutschen Unterseeboote läßt es nicht als wahrscheinlich erscheinen, daß
die Versenkungen neuerdings zunehmen oder die Aprilkurve wieder er¬
reichen könnten.
3. Die Entlastung, die England und Frankreich in Ausübung der Meerespolizer
durch die Maßnahmen Amerikas erfahren, wird die durch die beiden erwähnten
Faktoren bedingte Verbesserung der Lage zu einer voraussichtlich dauernden
gestalten.

England wird, außer unter dem Zwang absoluter und äußerster Not¬
wendigkeit, unter keinen Umständen einen Frieden annehmen, der die An¬
erkennung einer Erschütterung seiner Seestellung in sich schließen würde.
England wird, selbst wenn es den Fall äußerster Notwendigkeit gegeben er¬
achten sollte, den Frieden auf dem Weg über Rußland herbeiführen, es aber
stritte vermeiden, von sich aus eine Initiative zu ergreifen, die mit einem Ein¬
geständnis seines Unterliegens gleichbedeutend wäre.




Aus Geheimberichten an sen Grafen Hertling

J6J

Die öffentliche Meinung in England und Frankreich hat, entsprechend
den Aufwärts- und Abwärtsbewegungen der Kurve der Versenkungen neutraler
und eigener Schiffe durch deutsche Unterseeboote, sei 1. Februar drei verschiedene
erlebt. Die erste war die jenes ausgesprochenen Optimismus der Entente¬
länder, der die Ankündigung des verschärften Unterseebootskrieges als einen
Bluff erklärte. Sie dauerte etwa bis Ende März. Die zweite umfaßt die Zeit
von Beginn April bis Mitte Mai. Sie war durch die pessimistische Note gekenn¬
zeichnet, die am stärksten in den Erklärungen von Lloyd George über die zu¬
nehmenden Versorgungsschwierigkeiten Englands zum Ausdruck kam. Die
dritte setzte etwa Mitte Mai ein und schließt mit der ersten Dekade des Juni ab.
Sie ist charakterisiert durch eine sichtliche Entspannung, soweit das psychologische
Moment in Frage steht und durch ein sichtliches Wiederaufleben der Über¬
zeugung, daß der deutsche Unterseebootskrieg, soweit er die Niederwerfung
Englands als ullius, i alle» der deutschen Kriegsführung darstellt, diesen seinen
Zweck nicht erreichen, sondern lediglich den Krieg verlängern wird.

Man ist in London und Paris angesichts des Rückganges, den die Wirksam¬
keit des deutschen Unterseebootskrieges seit Ende Mai erfahren hat, bereits
wieder zu einer optimistischen Beurteilung der Gesamtlage zurückgekehrt und
hält die Krisis, von der speziell England bedroht war, für überwunden, wenn die
Zahl der Versenkungen ab 10. Juni weiterhin auf der bisher zu beobachtenden
Linie verbleibt. Die Anschauung der maßgebenden Kreise Englands und Frank¬
reichs läßt sich in folgende drei Leitsätze zusammenfassen:

1. Die tatsächliche Abnahme der Versenkungen in einem Zeitpunkt, in dem
Deutschland ein Lebensinteresse daran hätte, die Quote der Versenkungen
zum mindesten auf der Höhe der Aprilkurve zu halten, zeigt, daß die Höchst
leistung der deutschen Unterseeboote bereits im April erreicht war.
2. Die prozentuale Zunahme der durch die verstärkten und verbesserten Abwehr¬
methoden der englischen und französischen Flotte außer Gefecht gesetzten
deutschen Unterseeboote läßt es nicht als wahrscheinlich erscheinen, daß
die Versenkungen neuerdings zunehmen oder die Aprilkurve wieder er¬
reichen könnten.
3. Die Entlastung, die England und Frankreich in Ausübung der Meerespolizer
durch die Maßnahmen Amerikas erfahren, wird die durch die beiden erwähnten
Faktoren bedingte Verbesserung der Lage zu einer voraussichtlich dauernden
gestalten.

England wird, außer unter dem Zwang absoluter und äußerster Not¬
wendigkeit, unter keinen Umständen einen Frieden annehmen, der die An¬
erkennung einer Erschütterung seiner Seestellung in sich schließen würde.
England wird, selbst wenn es den Fall äußerster Notwendigkeit gegeben er¬
achten sollte, den Frieden auf dem Weg über Rußland herbeiführen, es aber
stritte vermeiden, von sich aus eine Initiative zu ergreifen, die mit einem Ein¬
geständnis seines Unterliegens gleichbedeutend wäre.




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[0274] Aus Geheimberichten an sen Grafen Hertling J6J Die öffentliche Meinung in England und Frankreich hat, entsprechend den Aufwärts- und Abwärtsbewegungen der Kurve der Versenkungen neutraler und eigener Schiffe durch deutsche Unterseeboote, sei 1. Februar drei verschiedene erlebt. Die erste war die jenes ausgesprochenen Optimismus der Entente¬ länder, der die Ankündigung des verschärften Unterseebootskrieges als einen Bluff erklärte. Sie dauerte etwa bis Ende März. Die zweite umfaßt die Zeit von Beginn April bis Mitte Mai. Sie war durch die pessimistische Note gekenn¬ zeichnet, die am stärksten in den Erklärungen von Lloyd George über die zu¬ nehmenden Versorgungsschwierigkeiten Englands zum Ausdruck kam. Die dritte setzte etwa Mitte Mai ein und schließt mit der ersten Dekade des Juni ab. Sie ist charakterisiert durch eine sichtliche Entspannung, soweit das psychologische Moment in Frage steht und durch ein sichtliches Wiederaufleben der Über¬ zeugung, daß der deutsche Unterseebootskrieg, soweit er die Niederwerfung Englands als ullius, i alle» der deutschen Kriegsführung darstellt, diesen seinen Zweck nicht erreichen, sondern lediglich den Krieg verlängern wird. Man ist in London und Paris angesichts des Rückganges, den die Wirksam¬ keit des deutschen Unterseebootskrieges seit Ende Mai erfahren hat, bereits wieder zu einer optimistischen Beurteilung der Gesamtlage zurückgekehrt und hält die Krisis, von der speziell England bedroht war, für überwunden, wenn die Zahl der Versenkungen ab 10. Juni weiterhin auf der bisher zu beobachtenden Linie verbleibt. Die Anschauung der maßgebenden Kreise Englands und Frank¬ reichs läßt sich in folgende drei Leitsätze zusammenfassen: 1. Die tatsächliche Abnahme der Versenkungen in einem Zeitpunkt, in dem Deutschland ein Lebensinteresse daran hätte, die Quote der Versenkungen zum mindesten auf der Höhe der Aprilkurve zu halten, zeigt, daß die Höchst leistung der deutschen Unterseeboote bereits im April erreicht war. 2. Die prozentuale Zunahme der durch die verstärkten und verbesserten Abwehr¬ methoden der englischen und französischen Flotte außer Gefecht gesetzten deutschen Unterseeboote läßt es nicht als wahrscheinlich erscheinen, daß die Versenkungen neuerdings zunehmen oder die Aprilkurve wieder er¬ reichen könnten. 3. Die Entlastung, die England und Frankreich in Ausübung der Meerespolizer durch die Maßnahmen Amerikas erfahren, wird die durch die beiden erwähnten Faktoren bedingte Verbesserung der Lage zu einer voraussichtlich dauernden gestalten. England wird, außer unter dem Zwang absoluter und äußerster Not¬ wendigkeit, unter keinen Umständen einen Frieden annehmen, der die An¬ erkennung einer Erschütterung seiner Seestellung in sich schließen würde. England wird, selbst wenn es den Fall äußerster Notwendigkeit gegeben er¬ achten sollte, den Frieden auf dem Weg über Rußland herbeiführen, es aber stritte vermeiden, von sich aus eine Initiative zu ergreifen, die mit einem Ein¬ geständnis seines Unterliegens gleichbedeutend wäre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/274>, abgerufen am 01.07.2024.