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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Briefe aus Sowjetrußland Juni ^920

ordnung. Nur die Kommunisten schwelgen im Luxus. Ich fand in allen Sowjet¬
behörden die sogenannte Sabotage. In Wirklichkeit ist es aber keine Sabotage,
denn jedermann ist infolge des von der Sowjetregierung festgesetzten unmöglichen
Gehalts gezwungen, während seiner Arbeitszeit private Nebenbeschäftigung zu
haben, um sich sein tägliches Stück Schwarzbrot und vielleicht ein paar Kartoffeln,
und für den Feiertag etwas Grütze zu erwerben. Oder man spekuliert, d. h. man
verkauft etwas von seinen früher erworbenen Sachen. Nach den Sowjetgesetzen ist
dies strafbar. Der Hunger ist aber stärker als die Sowjetgesetze, so daß man trotz
der schärfsten Maßnahmen nicht allein den Diebstahl und die Spekulation nicht
bezwingen konnte, sondern diese durch die jedem Naturgesetz widersprechenden Gesetze
nur vergrößerte.

Ganz Rußland einschließlich der Arbeiter würde heute dem Sowjetparadies
den Rücken kehren, wenn man ihm eine Möglichkeit zur Ausreise geben würde.
Die Unmöglichkeit, dort zu leben, geht so weit, daß sich viele Leute finden, die sich
um die Sowjetregierung scharen, um ins Ausland zu Einkäufen kommandiert zu
werden, trotzdem deren Familien in Rußland als Geiseln zurückgehalten werden,
um etwaiger antibolschewistischer Propaganda vorzubeugen. Von einer politischen
sowie von einer wirtschaftlichen Freiheit der Arbeiter kann überhaupt keine Rede
sein. In den Versammlungen sprechen fast ausschließlich Kommunisten, und die
Resolution wird sofort nach der Rede des letzten Redners verlesen. Wenn die an¬
wesenden Arbeiter irgendwelche Einwendungen vorbringen, so wird die Versammlung
aufgehoben. Die wirtschaftliche Freiheit existiert schon insofern nicht, als sämtliche
Arbeiter in Rußland als mobilisiert gelten; keiner darf seinen Posten verlassen.
Sie werden außer ihrer gewöhnlichen Arbeitszeit abends sowie an Feiertagen zu
Zwangsarbeiten herangezogen, bei denen sie in Herden von einigen Hundert Per¬
sonen, bewacht von Letten und Chinesen, Straßen kehren, Holz spalten und die
Ruinen der abgerissenen Häuser wieder ausgleichen müssen? dies alles aber voll¬
kommen ohne jedwede Entschädigung tun müssen. Sie erhalten als Vergütung nur
300 Gramm Schwarzbrot.




Der 1. Mai d. I. sah sämtliche Kommunisten und Arbeiter Moskaus und
Petersburgs auf den Straßen arbeiten, Kisten und Kasten schleppen, aber keinesfalls
feiern. Wenn man die heutigen Löhne der Arbeiter betrachtet, so ergibt sich
folgendes Resultat: Der russische Arbeiter, ganz einerlei, ob Tagelöhner oder Ge¬
lehrter, erhält eine Monatsgage von 2400 bis 4200 Rubel, und außerdem in den
meisten Fabriken und Werkstätten sowie auch bei den Sowjetbehörden, den
sogenannten Pajok, d. h. etwas Suppe und Grütze oder Gemüse täglich. Natürlich
kann er von dieser Ration nicht existieren und ist gezwungen, sich bei Schleich¬
händlern oder auf der sogenannten Sucharewka Lebensmittel zu kaufen. Wie
weit er da mit seiner Gage kommt, mögen folgende Preise der Lebensmittel im
Schleichhandel zeigen:


Briefe aus Sowjetrußland Juni ^920

ordnung. Nur die Kommunisten schwelgen im Luxus. Ich fand in allen Sowjet¬
behörden die sogenannte Sabotage. In Wirklichkeit ist es aber keine Sabotage,
denn jedermann ist infolge des von der Sowjetregierung festgesetzten unmöglichen
Gehalts gezwungen, während seiner Arbeitszeit private Nebenbeschäftigung zu
haben, um sich sein tägliches Stück Schwarzbrot und vielleicht ein paar Kartoffeln,
und für den Feiertag etwas Grütze zu erwerben. Oder man spekuliert, d. h. man
verkauft etwas von seinen früher erworbenen Sachen. Nach den Sowjetgesetzen ist
dies strafbar. Der Hunger ist aber stärker als die Sowjetgesetze, so daß man trotz
der schärfsten Maßnahmen nicht allein den Diebstahl und die Spekulation nicht
bezwingen konnte, sondern diese durch die jedem Naturgesetz widersprechenden Gesetze
nur vergrößerte.

Ganz Rußland einschließlich der Arbeiter würde heute dem Sowjetparadies
den Rücken kehren, wenn man ihm eine Möglichkeit zur Ausreise geben würde.
Die Unmöglichkeit, dort zu leben, geht so weit, daß sich viele Leute finden, die sich
um die Sowjetregierung scharen, um ins Ausland zu Einkäufen kommandiert zu
werden, trotzdem deren Familien in Rußland als Geiseln zurückgehalten werden,
um etwaiger antibolschewistischer Propaganda vorzubeugen. Von einer politischen
sowie von einer wirtschaftlichen Freiheit der Arbeiter kann überhaupt keine Rede
sein. In den Versammlungen sprechen fast ausschließlich Kommunisten, und die
Resolution wird sofort nach der Rede des letzten Redners verlesen. Wenn die an¬
wesenden Arbeiter irgendwelche Einwendungen vorbringen, so wird die Versammlung
aufgehoben. Die wirtschaftliche Freiheit existiert schon insofern nicht, als sämtliche
Arbeiter in Rußland als mobilisiert gelten; keiner darf seinen Posten verlassen.
Sie werden außer ihrer gewöhnlichen Arbeitszeit abends sowie an Feiertagen zu
Zwangsarbeiten herangezogen, bei denen sie in Herden von einigen Hundert Per¬
sonen, bewacht von Letten und Chinesen, Straßen kehren, Holz spalten und die
Ruinen der abgerissenen Häuser wieder ausgleichen müssen? dies alles aber voll¬
kommen ohne jedwede Entschädigung tun müssen. Sie erhalten als Vergütung nur
300 Gramm Schwarzbrot.




Der 1. Mai d. I. sah sämtliche Kommunisten und Arbeiter Moskaus und
Petersburgs auf den Straßen arbeiten, Kisten und Kasten schleppen, aber keinesfalls
feiern. Wenn man die heutigen Löhne der Arbeiter betrachtet, so ergibt sich
folgendes Resultat: Der russische Arbeiter, ganz einerlei, ob Tagelöhner oder Ge¬
lehrter, erhält eine Monatsgage von 2400 bis 4200 Rubel, und außerdem in den
meisten Fabriken und Werkstätten sowie auch bei den Sowjetbehörden, den
sogenannten Pajok, d. h. etwas Suppe und Grütze oder Gemüse täglich. Natürlich
kann er von dieser Ration nicht existieren und ist gezwungen, sich bei Schleich¬
händlern oder auf der sogenannten Sucharewka Lebensmittel zu kaufen. Wie
weit er da mit seiner Gage kommt, mögen folgende Preise der Lebensmittel im
Schleichhandel zeigen:


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[0027] Briefe aus Sowjetrußland Juni ^920 ordnung. Nur die Kommunisten schwelgen im Luxus. Ich fand in allen Sowjet¬ behörden die sogenannte Sabotage. In Wirklichkeit ist es aber keine Sabotage, denn jedermann ist infolge des von der Sowjetregierung festgesetzten unmöglichen Gehalts gezwungen, während seiner Arbeitszeit private Nebenbeschäftigung zu haben, um sich sein tägliches Stück Schwarzbrot und vielleicht ein paar Kartoffeln, und für den Feiertag etwas Grütze zu erwerben. Oder man spekuliert, d. h. man verkauft etwas von seinen früher erworbenen Sachen. Nach den Sowjetgesetzen ist dies strafbar. Der Hunger ist aber stärker als die Sowjetgesetze, so daß man trotz der schärfsten Maßnahmen nicht allein den Diebstahl und die Spekulation nicht bezwingen konnte, sondern diese durch die jedem Naturgesetz widersprechenden Gesetze nur vergrößerte. Ganz Rußland einschließlich der Arbeiter würde heute dem Sowjetparadies den Rücken kehren, wenn man ihm eine Möglichkeit zur Ausreise geben würde. Die Unmöglichkeit, dort zu leben, geht so weit, daß sich viele Leute finden, die sich um die Sowjetregierung scharen, um ins Ausland zu Einkäufen kommandiert zu werden, trotzdem deren Familien in Rußland als Geiseln zurückgehalten werden, um etwaiger antibolschewistischer Propaganda vorzubeugen. Von einer politischen sowie von einer wirtschaftlichen Freiheit der Arbeiter kann überhaupt keine Rede sein. In den Versammlungen sprechen fast ausschließlich Kommunisten, und die Resolution wird sofort nach der Rede des letzten Redners verlesen. Wenn die an¬ wesenden Arbeiter irgendwelche Einwendungen vorbringen, so wird die Versammlung aufgehoben. Die wirtschaftliche Freiheit existiert schon insofern nicht, als sämtliche Arbeiter in Rußland als mobilisiert gelten; keiner darf seinen Posten verlassen. Sie werden außer ihrer gewöhnlichen Arbeitszeit abends sowie an Feiertagen zu Zwangsarbeiten herangezogen, bei denen sie in Herden von einigen Hundert Per¬ sonen, bewacht von Letten und Chinesen, Straßen kehren, Holz spalten und die Ruinen der abgerissenen Häuser wieder ausgleichen müssen? dies alles aber voll¬ kommen ohne jedwede Entschädigung tun müssen. Sie erhalten als Vergütung nur 300 Gramm Schwarzbrot. Der 1. Mai d. I. sah sämtliche Kommunisten und Arbeiter Moskaus und Petersburgs auf den Straßen arbeiten, Kisten und Kasten schleppen, aber keinesfalls feiern. Wenn man die heutigen Löhne der Arbeiter betrachtet, so ergibt sich folgendes Resultat: Der russische Arbeiter, ganz einerlei, ob Tagelöhner oder Ge¬ lehrter, erhält eine Monatsgage von 2400 bis 4200 Rubel, und außerdem in den meisten Fabriken und Werkstätten sowie auch bei den Sowjetbehörden, den sogenannten Pajok, d. h. etwas Suppe und Grütze oder Gemüse täglich. Natürlich kann er von dieser Ration nicht existieren und ist gezwungen, sich bei Schleich¬ händlern oder auf der sogenannten Sucharewka Lebensmittel zu kaufen. Wie weit er da mit seiner Gage kommt, mögen folgende Preise der Lebensmittel im Schleichhandel zeigen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/27>, abgerufen am 22.07.2024.