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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Aus Geheimberichten am den Grafen Hertling

hierbei die Absicht, Euerer Exzellenz pflichtgemäß die Auffassung zu melden,
die sich dem nüchternen Beobachter hier, im neutralen Lande, aufdrängt.

Diese Auffassung geht, in einem knappen Satze, dahin, daß, wenn wir
nicht noch in diesem Jahre den Frieden bekommen können, Deutschland schweren
und in ihren weiteren Wirkungen garnicht übersehbaren Erschütterungen ent¬
gegengeht. Daß unsere derzeitige politische Leitung auch beim besten Willen
in der Lage ist, den Frieden herbeizuführen, ist zu bezweifeln.




Luzern, den 18. April 1917.

Den Äußerungen eines bekannten linksgerichteten Reichstagsabgeordneten,
der dieser Tage in der Schweiz gewesen ist, konnte entnommen^werden, daß es
sich bei der für Preußen angekündigten Wahlreform allem Anschein nach nicht
um ein Pluralwahlrecht, sondern um die Übertragung des Reichstagswahlrechts
auf Preußen unter noch festzulegenden Modalitäten handelt. Derselbe Politiker
hält den Übergang zum parlamentarischen System auch im Reich, ungeachtet
der hinlänglich bekannten verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten, für notwendig
und wahrscheinlich. Seine Majestät der Kaiser, der sich hinsichtlich der Reform
in Preußen sehr large erweist, sei jedoch in diesem Punkte vorläufig intransigent.
Wenn der Krieg, wie es allen Anschein hat, für Deutschland nicht so endet, wie
die Nation annahm, dürfte der Standpunkt der Jntrcmsigenz wohl kaum mehr
haltbar sein.

Rücksichtlich des Unterseebootskrieges herrscht nach aus Bern an mich
gelangten Nachrichten in den Kreisen der Entente die Überzeugung, daß durch
den Eintritt Amerikas die Krisis für England überwunden sei. Der Verkehr
zwischen England und Frankreich wickle sich so glatt ab wie in Friedenszeiten,
eine ernsthafte Gefährdung der Ernährung der Bevölkerung komme nicht in
Betracht, wenn auch mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen sei. An¬
dererseits zirkulieren in den gleichen Kreisen immer bestimmter auftauchende
Meldungen von Unruhen und Hungerrevolten, mit denen Deutschland in den
Monaten Mai und Juni zu rechnen habe. Die aus Deutschland abgereisten
amerikanischen Diplomaten und Bürger, von denen ein großer Teil sich in der
Schweiz niedergelassen hat, tragen durch ihre Erzählungen hauptsächlich zur
Bildung dieser Gerüchte bei. In ähnlich ungünstigem Sinne wirken die Nach¬
richten, die durch die uuter gleichen Verhältnissen aus Österreich-Ungarn in die
Schweiz gelangten Amerikaner über die wirtschaftlichen Verhältnisse des ver¬
bündeten Kaiserreiches verbreitet werden. Sie werden durch Mitteilungen aus
Wien indirekt bestätigt, denen zufolge die Donaumonarchie nach Abzug des
Heeresbedarfs nur mehr für 70 Tage Getreide habe. Da die ersten Bodenfrüchte
in Südungarn, normale Witterungsverhältnisse vorausgesetzt, etwa in der
ersten Hälfte Juli zum Schnitt kommen, so ist für Österreich-Ungarn mit einer
kritischen Periode zu rechnen.

Es ist unter diesen Umständen zu verstehen, daß der Wunsch nach Frieden
sich in Österreich-Ungarn greifbarer und dringender kundgibt, als dies bisher
bei uns der Fall gewesen ist. Die Einberufung des Reichsrates, die vorläufig
für Mitte Mai in Aussicht genommen ist, hängt, wie die Wiener Presse unter


Aus Geheimberichten am den Grafen Hertling

hierbei die Absicht, Euerer Exzellenz pflichtgemäß die Auffassung zu melden,
die sich dem nüchternen Beobachter hier, im neutralen Lande, aufdrängt.

Diese Auffassung geht, in einem knappen Satze, dahin, daß, wenn wir
nicht noch in diesem Jahre den Frieden bekommen können, Deutschland schweren
und in ihren weiteren Wirkungen garnicht übersehbaren Erschütterungen ent¬
gegengeht. Daß unsere derzeitige politische Leitung auch beim besten Willen
in der Lage ist, den Frieden herbeizuführen, ist zu bezweifeln.




Luzern, den 18. April 1917.

Den Äußerungen eines bekannten linksgerichteten Reichstagsabgeordneten,
der dieser Tage in der Schweiz gewesen ist, konnte entnommen^werden, daß es
sich bei der für Preußen angekündigten Wahlreform allem Anschein nach nicht
um ein Pluralwahlrecht, sondern um die Übertragung des Reichstagswahlrechts
auf Preußen unter noch festzulegenden Modalitäten handelt. Derselbe Politiker
hält den Übergang zum parlamentarischen System auch im Reich, ungeachtet
der hinlänglich bekannten verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten, für notwendig
und wahrscheinlich. Seine Majestät der Kaiser, der sich hinsichtlich der Reform
in Preußen sehr large erweist, sei jedoch in diesem Punkte vorläufig intransigent.
Wenn der Krieg, wie es allen Anschein hat, für Deutschland nicht so endet, wie
die Nation annahm, dürfte der Standpunkt der Jntrcmsigenz wohl kaum mehr
haltbar sein.

Rücksichtlich des Unterseebootskrieges herrscht nach aus Bern an mich
gelangten Nachrichten in den Kreisen der Entente die Überzeugung, daß durch
den Eintritt Amerikas die Krisis für England überwunden sei. Der Verkehr
zwischen England und Frankreich wickle sich so glatt ab wie in Friedenszeiten,
eine ernsthafte Gefährdung der Ernährung der Bevölkerung komme nicht in
Betracht, wenn auch mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen sei. An¬
dererseits zirkulieren in den gleichen Kreisen immer bestimmter auftauchende
Meldungen von Unruhen und Hungerrevolten, mit denen Deutschland in den
Monaten Mai und Juni zu rechnen habe. Die aus Deutschland abgereisten
amerikanischen Diplomaten und Bürger, von denen ein großer Teil sich in der
Schweiz niedergelassen hat, tragen durch ihre Erzählungen hauptsächlich zur
Bildung dieser Gerüchte bei. In ähnlich ungünstigem Sinne wirken die Nach¬
richten, die durch die uuter gleichen Verhältnissen aus Österreich-Ungarn in die
Schweiz gelangten Amerikaner über die wirtschaftlichen Verhältnisse des ver¬
bündeten Kaiserreiches verbreitet werden. Sie werden durch Mitteilungen aus
Wien indirekt bestätigt, denen zufolge die Donaumonarchie nach Abzug des
Heeresbedarfs nur mehr für 70 Tage Getreide habe. Da die ersten Bodenfrüchte
in Südungarn, normale Witterungsverhältnisse vorausgesetzt, etwa in der
ersten Hälfte Juli zum Schnitt kommen, so ist für Österreich-Ungarn mit einer
kritischen Periode zu rechnen.

Es ist unter diesen Umständen zu verstehen, daß der Wunsch nach Frieden
sich in Österreich-Ungarn greifbarer und dringender kundgibt, als dies bisher
bei uns der Fall gewesen ist. Die Einberufung des Reichsrates, die vorläufig
für Mitte Mai in Aussicht genommen ist, hängt, wie die Wiener Presse unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/229>, abgerufen am 02.10.2024.