Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die polnische Nationalitätenfrage

Noch ungünstiger wird das Ergebnis, wenn wir die weiteren Gebiete
hinzurechnen, die der polnische Imperialismus zweifellos begehrt. Da sind
zunächst die Abstimmungsgebiete. Westpreußen und Ostpreußen haben sich bereits
für Deutschland entschieden. Diese beiden Abstimmungsgebiete können daher
außer Betracht bleiben. Anders ist es in Oberschlesien. Da jedoch dort der
Abstimmungstermin noch in weiter Ferne liegt, die Abstimmung selbst auch nicht
allein von nationalen Gesichtspunkten beherrscht sein dürfte, so mag auch dieser
mögliche Gebietszuwachs für Polen außer Betracht bleiben, Auf jeden Fall
würde der Erwerb irgendwelchen deutschen Abstimmungsgebietes das Zahlen¬
verhältnis von Polen zu NichtPolen im polnischen Staat nur verschlechtern,
da in jedem einzelnen Fall auf dem fraglichen Gebiet mindestens 40 v. H. deutsche
Bevölkerung mit übernommen werden müßte. Dagegen wird Polen ziemlich
sicher auf die Angliederung eines Teiles von Osterreichisch-Schlesien rechnen
können. In der Bezirkshauptmannschaft Teschen stehen 233 850 Polen nur
115 604 Tschechen und 76 916 Deutsche gegenüber.

Aktuell ist zur Zeit die Frage, welche Gebiete im Osten noch zum pol¬
nischen Staate gehören werden. Das von manchen polnischen Imperialisten
verfolgte Ziel, die Grenze von 1772, was gleichbedeutend mit dem Erwerb
von Litauen, ganz Weißrußland, Kurland, Livland, Wolhynien, Podolien,
Podlesien und weiteren Teilen der Ukraine bis nach Kiew wäre, wird ja wohl
sicher nicht erreicht werden. Es würde den polnischen Volksstamm in eine
Minderheit von 35--40 v. H. gegenüber einer fremdsprachigen Mehrheit
bringen und wird nach offiziellen Ententeerklärungen auch dort nicht gebilligt.
Mit dem Erwerb gewisser Teile dieser Gebiete muß jedoch gerechnet
werden. Wo die endgültige Grenze gezogen wird, wird wohl erst der
Ausgang des augenblicklichen polnisch-russischen Krieges entscheiden. Daß
Polen mit dem Erwerb solcher Gebiete rechnet, folgt z. B. aus dem polnischen
Staatsangehörigkeitsgesetz vom 20. Januar 1920, das bereits von den ehemals
russischen Gebieten außerhalb von Kongreßpolen spricht, die zum polnischen
Staat kommen. In Betracht kommen zunächst Teile des Gouvernements
Grodno. Daß es ganz an Polen fällt, erscheint unwahrscheinlich, da damit dem
litauischen Staate ein großer Teil seines Gebietes und seiner Bevölkerung
genommen wäre. Der Prozentsatz polnischer Bevölkerung betrügt für das
ganze Gouvernement Grodno berechnet auch nur 16 v. H. von annähernd
2 Millionen Einwohnern, würde also dem polnischen Staate neben V" Million
Polen auch iVg Million NichtPolen bringen. In gewissen an Polen grenzenden
Kreisen ist der Prozentsatz der Polen jedoch größer, und diese werden schon
jetzt von den Polen als ihr Eigentum betrachtet. Entscheiden wird darüber
der russische Sieger mit oder ohne Einverständnis der Entente. Es sind dies die
Kreise von Bialystok, Bielsk und Sokolsk, wo das Zahlenverhältnis sich

folgendermaßen gestaltet:

Einwohnerdavon Polen v. H. Polen
Bialystok251 100101 947 40,6
Bielsk .205 50073 363 35,7
Sokolsk129 70045 784 35,3
586 300221 094

Die polnische Nationalitätenfrage

Noch ungünstiger wird das Ergebnis, wenn wir die weiteren Gebiete
hinzurechnen, die der polnische Imperialismus zweifellos begehrt. Da sind
zunächst die Abstimmungsgebiete. Westpreußen und Ostpreußen haben sich bereits
für Deutschland entschieden. Diese beiden Abstimmungsgebiete können daher
außer Betracht bleiben. Anders ist es in Oberschlesien. Da jedoch dort der
Abstimmungstermin noch in weiter Ferne liegt, die Abstimmung selbst auch nicht
allein von nationalen Gesichtspunkten beherrscht sein dürfte, so mag auch dieser
mögliche Gebietszuwachs für Polen außer Betracht bleiben, Auf jeden Fall
würde der Erwerb irgendwelchen deutschen Abstimmungsgebietes das Zahlen¬
verhältnis von Polen zu NichtPolen im polnischen Staat nur verschlechtern,
da in jedem einzelnen Fall auf dem fraglichen Gebiet mindestens 40 v. H. deutsche
Bevölkerung mit übernommen werden müßte. Dagegen wird Polen ziemlich
sicher auf die Angliederung eines Teiles von Osterreichisch-Schlesien rechnen
können. In der Bezirkshauptmannschaft Teschen stehen 233 850 Polen nur
115 604 Tschechen und 76 916 Deutsche gegenüber.

Aktuell ist zur Zeit die Frage, welche Gebiete im Osten noch zum pol¬
nischen Staate gehören werden. Das von manchen polnischen Imperialisten
verfolgte Ziel, die Grenze von 1772, was gleichbedeutend mit dem Erwerb
von Litauen, ganz Weißrußland, Kurland, Livland, Wolhynien, Podolien,
Podlesien und weiteren Teilen der Ukraine bis nach Kiew wäre, wird ja wohl
sicher nicht erreicht werden. Es würde den polnischen Volksstamm in eine
Minderheit von 35—40 v. H. gegenüber einer fremdsprachigen Mehrheit
bringen und wird nach offiziellen Ententeerklärungen auch dort nicht gebilligt.
Mit dem Erwerb gewisser Teile dieser Gebiete muß jedoch gerechnet
werden. Wo die endgültige Grenze gezogen wird, wird wohl erst der
Ausgang des augenblicklichen polnisch-russischen Krieges entscheiden. Daß
Polen mit dem Erwerb solcher Gebiete rechnet, folgt z. B. aus dem polnischen
Staatsangehörigkeitsgesetz vom 20. Januar 1920, das bereits von den ehemals
russischen Gebieten außerhalb von Kongreßpolen spricht, die zum polnischen
Staat kommen. In Betracht kommen zunächst Teile des Gouvernements
Grodno. Daß es ganz an Polen fällt, erscheint unwahrscheinlich, da damit dem
litauischen Staate ein großer Teil seines Gebietes und seiner Bevölkerung
genommen wäre. Der Prozentsatz polnischer Bevölkerung betrügt für das
ganze Gouvernement Grodno berechnet auch nur 16 v. H. von annähernd
2 Millionen Einwohnern, würde also dem polnischen Staate neben V» Million
Polen auch iVg Million NichtPolen bringen. In gewissen an Polen grenzenden
Kreisen ist der Prozentsatz der Polen jedoch größer, und diese werden schon
jetzt von den Polen als ihr Eigentum betrachtet. Entscheiden wird darüber
der russische Sieger mit oder ohne Einverständnis der Entente. Es sind dies die
Kreise von Bialystok, Bielsk und Sokolsk, wo das Zahlenverhältnis sich

folgendermaßen gestaltet:

Einwohnerdavon Polen v. H. Polen
Bialystok251 100101 947 40,6
Bielsk .205 50073 363 35,7
Sokolsk129 70045 784 35,3
586 300221 094

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0182" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337823"/>
          <fw type="header" place="top"> Die polnische Nationalitätenfrage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_665"> Noch ungünstiger wird das Ergebnis, wenn wir die weiteren Gebiete<lb/>
hinzurechnen, die der polnische Imperialismus zweifellos begehrt. Da sind<lb/>
zunächst die Abstimmungsgebiete. Westpreußen und Ostpreußen haben sich bereits<lb/>
für Deutschland entschieden. Diese beiden Abstimmungsgebiete können daher<lb/>
außer Betracht bleiben. Anders ist es in Oberschlesien. Da jedoch dort der<lb/>
Abstimmungstermin noch in weiter Ferne liegt, die Abstimmung selbst auch nicht<lb/>
allein von nationalen Gesichtspunkten beherrscht sein dürfte, so mag auch dieser<lb/>
mögliche Gebietszuwachs für Polen außer Betracht bleiben, Auf jeden Fall<lb/>
würde der Erwerb irgendwelchen deutschen Abstimmungsgebietes das Zahlen¬<lb/>
verhältnis von Polen zu NichtPolen im polnischen Staat nur verschlechtern,<lb/>
da in jedem einzelnen Fall auf dem fraglichen Gebiet mindestens 40 v. H. deutsche<lb/>
Bevölkerung mit übernommen werden müßte. Dagegen wird Polen ziemlich<lb/>
sicher auf die Angliederung eines Teiles von Osterreichisch-Schlesien rechnen<lb/>
können. In der Bezirkshauptmannschaft Teschen stehen 233 850 Polen nur<lb/>
115 604 Tschechen und 76 916 Deutsche gegenüber.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_666" next="#ID_667"> Aktuell ist zur Zeit die Frage, welche Gebiete im Osten noch zum pol¬<lb/>
nischen Staate gehören werden. Das von manchen polnischen Imperialisten<lb/>
verfolgte Ziel, die Grenze von 1772, was gleichbedeutend mit dem Erwerb<lb/>
von Litauen, ganz Weißrußland, Kurland, Livland, Wolhynien, Podolien,<lb/>
Podlesien und weiteren Teilen der Ukraine bis nach Kiew wäre, wird ja wohl<lb/>
sicher nicht erreicht werden. Es würde den polnischen Volksstamm in eine<lb/>
Minderheit von 35&#x2014;40 v. H. gegenüber einer fremdsprachigen Mehrheit<lb/>
bringen und wird nach offiziellen Ententeerklärungen auch dort nicht gebilligt.<lb/>
Mit dem Erwerb gewisser Teile dieser Gebiete muß jedoch gerechnet<lb/>
werden. Wo die endgültige Grenze gezogen wird, wird wohl erst der<lb/>
Ausgang des augenblicklichen polnisch-russischen Krieges entscheiden. Daß<lb/>
Polen mit dem Erwerb solcher Gebiete rechnet, folgt z. B. aus dem polnischen<lb/>
Staatsangehörigkeitsgesetz vom 20. Januar 1920, das bereits von den ehemals<lb/>
russischen Gebieten außerhalb von Kongreßpolen spricht, die zum polnischen<lb/>
Staat kommen. In Betracht kommen zunächst Teile des Gouvernements<lb/>
Grodno. Daß es ganz an Polen fällt, erscheint unwahrscheinlich, da damit dem<lb/>
litauischen Staate ein großer Teil seines Gebietes und seiner Bevölkerung<lb/>
genommen wäre. Der Prozentsatz polnischer Bevölkerung betrügt für das<lb/>
ganze Gouvernement Grodno berechnet auch nur 16 v. H. von annähernd<lb/>
2 Millionen Einwohnern, würde also dem polnischen Staate neben V» Million<lb/>
Polen auch iVg Million NichtPolen bringen. In gewissen an Polen grenzenden<lb/>
Kreisen ist der Prozentsatz der Polen jedoch größer, und diese werden schon<lb/>
jetzt von den Polen als ihr Eigentum betrachtet. Entscheiden wird darüber<lb/>
der russische Sieger mit oder ohne Einverständnis der Entente. Es sind dies die<lb/>
Kreise von Bialystok, Bielsk und Sokolsk, wo das Zahlenverhältnis sich</p><lb/>
          <p xml:id="ID_667" prev="#ID_666"> folgendermaßen gestaltet:</p><lb/>
          <list>
            <item> Einwohnerdavon Polen  v. H. Polen</item>
            <item> Bialystok251 100101 947 40,6</item>
            <item> Bielsk .205 50073 363 35,7</item>
            <item> Sokolsk129 70045 784 35,3</item>
            <item> 586 300221 094</item>
          </list><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0182] Die polnische Nationalitätenfrage Noch ungünstiger wird das Ergebnis, wenn wir die weiteren Gebiete hinzurechnen, die der polnische Imperialismus zweifellos begehrt. Da sind zunächst die Abstimmungsgebiete. Westpreußen und Ostpreußen haben sich bereits für Deutschland entschieden. Diese beiden Abstimmungsgebiete können daher außer Betracht bleiben. Anders ist es in Oberschlesien. Da jedoch dort der Abstimmungstermin noch in weiter Ferne liegt, die Abstimmung selbst auch nicht allein von nationalen Gesichtspunkten beherrscht sein dürfte, so mag auch dieser mögliche Gebietszuwachs für Polen außer Betracht bleiben, Auf jeden Fall würde der Erwerb irgendwelchen deutschen Abstimmungsgebietes das Zahlen¬ verhältnis von Polen zu NichtPolen im polnischen Staat nur verschlechtern, da in jedem einzelnen Fall auf dem fraglichen Gebiet mindestens 40 v. H. deutsche Bevölkerung mit übernommen werden müßte. Dagegen wird Polen ziemlich sicher auf die Angliederung eines Teiles von Osterreichisch-Schlesien rechnen können. In der Bezirkshauptmannschaft Teschen stehen 233 850 Polen nur 115 604 Tschechen und 76 916 Deutsche gegenüber. Aktuell ist zur Zeit die Frage, welche Gebiete im Osten noch zum pol¬ nischen Staate gehören werden. Das von manchen polnischen Imperialisten verfolgte Ziel, die Grenze von 1772, was gleichbedeutend mit dem Erwerb von Litauen, ganz Weißrußland, Kurland, Livland, Wolhynien, Podolien, Podlesien und weiteren Teilen der Ukraine bis nach Kiew wäre, wird ja wohl sicher nicht erreicht werden. Es würde den polnischen Volksstamm in eine Minderheit von 35—40 v. H. gegenüber einer fremdsprachigen Mehrheit bringen und wird nach offiziellen Ententeerklärungen auch dort nicht gebilligt. Mit dem Erwerb gewisser Teile dieser Gebiete muß jedoch gerechnet werden. Wo die endgültige Grenze gezogen wird, wird wohl erst der Ausgang des augenblicklichen polnisch-russischen Krieges entscheiden. Daß Polen mit dem Erwerb solcher Gebiete rechnet, folgt z. B. aus dem polnischen Staatsangehörigkeitsgesetz vom 20. Januar 1920, das bereits von den ehemals russischen Gebieten außerhalb von Kongreßpolen spricht, die zum polnischen Staat kommen. In Betracht kommen zunächst Teile des Gouvernements Grodno. Daß es ganz an Polen fällt, erscheint unwahrscheinlich, da damit dem litauischen Staate ein großer Teil seines Gebietes und seiner Bevölkerung genommen wäre. Der Prozentsatz polnischer Bevölkerung betrügt für das ganze Gouvernement Grodno berechnet auch nur 16 v. H. von annähernd 2 Millionen Einwohnern, würde also dem polnischen Staate neben V» Million Polen auch iVg Million NichtPolen bringen. In gewissen an Polen grenzenden Kreisen ist der Prozentsatz der Polen jedoch größer, und diese werden schon jetzt von den Polen als ihr Eigentum betrachtet. Entscheiden wird darüber der russische Sieger mit oder ohne Einverständnis der Entente. Es sind dies die Kreise von Bialystok, Bielsk und Sokolsk, wo das Zahlenverhältnis sich folgendermaßen gestaltet: Einwohnerdavon Polen v. H. Polen Bialystok251 100101 947 40,6 Bielsk .205 50073 363 35,7 Sokolsk129 70045 784 35,3 586 300221 094

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/182
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/182>, abgerufen am 03.07.2024.