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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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Drinnen und draußen

[Beginn Spaltensatz]

Wuchergerichten hat zuteil werden lassen, daß
diese keine mit dem Gerichtsverfassungsgesetz
vereinbaren Gerichte seien, und daß die vor
diesen Gerichten Angeklagten ihrem ordent¬
lichen Richter entzogen würden?

Ich habe wahrlich für die Lüttwitz und
Genossen nichts übrig; möge sie, die in
unverantwortlicher Weise die Ruhe Deutsch¬
lands gestört und heut noch gar nicht zu über¬
sehende Gefahren heraufbeschworen haben, das
Gesetz nach seiner Strenge treffen. Damit
diese Strafe aber auch in allen Kreisen als
eine gerechte empfunden werde, darf sie nicht
von einem Gericht ausgesprochen werden,
welches nur eigens für diesen Fall für zu¬
ständig erklärt worden ist, und welchem darum
mit Recht der Einwand des Ausnahmegerichtes
entgegengesetzt werden wird. Es ist bedauer¬
lich, daß die Nationalversammlung sich zu
einer solchen Gelegenheitsgcsetzgebung hat
hinreißen lassen, statt die lex Schiffer ein¬
stimmig abzulehnen.

Kammergerichtsrat Dr. Sontcig,
Grazer Brief.

Deutschösterreich kommt
aus seinen schweren inneren Krisen nicht
heraus. Der Eisenbahnerstreik ist glücklich
beigelegt, so folgt schon ein zweiter in der
Industrie. Diesmal sind eS die Beamten,
die das Streithammer ergreifen. Warum
sollten auch gerade sie ein so kümmerliches
Leben führen, während die Schieber aller
Gattungen, die in ihrer Umgebung so reich¬
lich vertreten sind, sich unendlich viel besser
stehen. Eine gründliche Reinigung des ge¬
samten Wirtschaftslebens wäre die einzige
erfolgreiche Abwehr solcher Streiks. Aber
wer vermag daran überhaupt nur zu
denken. Bekommt der Staats-Gummiball
eine Beule, so wird sie eben herausgedrückt, in¬
dem man eine andere hineindrückt, da keiner
imstande ist, das Loch zu verstopfen, das
die Lebensluft des Balles herausläßt, und
so geht es fort, bis der Ball luftleer ist.

Der Eisenbahnerstreik in Jugoslawien ist
die andere schwere Wolke, die in den letzten
Tagen den Himmel Deuischösterreichs ver¬
düsterte. Auf der Eisenbahnlinie Trieft--
Wien, die durch Jugoslawien führt, beruht
nun einmal das ganze Kunstgebilde dieses
Staates, zum mindesten aber ist sie die Haupt-

[Spaltenumbruch]

lebensader der Millionenstadt Wien. Nur
etwa fünf Prozent seines Fettbestandes und
27 Prozent seines Getreideverbrauches be¬
zieht Wien wie auch die anderen größeren
Städte aus den Erzeugnissen des eigenen
Landes. Alles übrige muß eingeführt wer¬
den. Hierfür aber kommen fast nur Italien
und die Überseegebiete in Betracht, denn
der benachbarte Agrarstaat Jugoslawien hat
seinen Lieferungsvertrag gekündigt, und
Ungarn ist zurzeit nicht ausfuhrfähig. Eine
vollkommene Selbstversorgung wird den
österreichischen Ländern bei dieser Zusammen¬
setzung Wohl nie möglich werden. Dagegen
wäre eine wesentliche Herabminderung der
Einfuhr bei genügender Ausnutzung des
Bodens und geregelter Verteilung sehr Wohl
denkbar. Bisher tann von einer intensiven
Landwirtschaft im modernen Sinne hier
nicht die Rede sein. Künstliche Düngung
ist noch gänzlich unbekannt, und wenn man
sie wirklich anwenden wollte, so würde das
nur eine weitere große Belastung des Ein¬
fuhrkontingents bedeuten, deren Kosten sich
unter den gegenwärtigen Valuta- und Ver¬
kehrsverhältnissen nur schwerlich bezahlt
machen. Außerdem liegt viel anbaufähiges
Land uoch brach oder findet nur als Wiesen¬
oder Weideland Verwendung. Es haben
diese Gebiete eben von jeher in erster Linie
Viehzucht betrieben, während man das feh¬
lende Getreide aus Ungarn und Böhmen
gegen Milch und Fleischprodukte eintauschte.
Die gegenwärtigen Ablieferungsbedingungen
sind nun nicht gerade dazu angetan, auf
den Getreidebau besonders anspornend zu
wirken, und die sozialdemokratische Regie¬
rung verfügt weder über Ansehen noch Macht
genug, um ihren Wünschen bei der Land¬
bevölkerung Geltung zu verschaffen. Nicht
einmal eine geregelte Ablieferung der vor¬
handenen Lebensmittel hat sie bisher durch¬
drücken können.

Derselbe Parteigeist, der allen Regie¬
rungsmaßnahmen das Gepräge aufdrückt,
hat auch auf die Landbevölkerung abgefärbt.
Es ist von großem Einfluß auf das Ab-
lisferungsergebnis, ob die betreffenden
Bauern der christlich sozialen Partei oder
dem Bauernbund angehören und ein Chvist-
lich-sozialer, ein Vauernbündler oder sonst

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Grenzboten II 1S2013
Drinnen und draußen

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Wuchergerichten hat zuteil werden lassen, daß
diese keine mit dem Gerichtsverfassungsgesetz
vereinbaren Gerichte seien, und daß die vor
diesen Gerichten Angeklagten ihrem ordent¬
lichen Richter entzogen würden?

Ich habe wahrlich für die Lüttwitz und
Genossen nichts übrig; möge sie, die in
unverantwortlicher Weise die Ruhe Deutsch¬
lands gestört und heut noch gar nicht zu über¬
sehende Gefahren heraufbeschworen haben, das
Gesetz nach seiner Strenge treffen. Damit
diese Strafe aber auch in allen Kreisen als
eine gerechte empfunden werde, darf sie nicht
von einem Gericht ausgesprochen werden,
welches nur eigens für diesen Fall für zu¬
ständig erklärt worden ist, und welchem darum
mit Recht der Einwand des Ausnahmegerichtes
entgegengesetzt werden wird. Es ist bedauer¬
lich, daß die Nationalversammlung sich zu
einer solchen Gelegenheitsgcsetzgebung hat
hinreißen lassen, statt die lex Schiffer ein¬
stimmig abzulehnen.

Kammergerichtsrat Dr. Sontcig,
Grazer Brief.

Deutschösterreich kommt
aus seinen schweren inneren Krisen nicht
heraus. Der Eisenbahnerstreik ist glücklich
beigelegt, so folgt schon ein zweiter in der
Industrie. Diesmal sind eS die Beamten,
die das Streithammer ergreifen. Warum
sollten auch gerade sie ein so kümmerliches
Leben führen, während die Schieber aller
Gattungen, die in ihrer Umgebung so reich¬
lich vertreten sind, sich unendlich viel besser
stehen. Eine gründliche Reinigung des ge¬
samten Wirtschaftslebens wäre die einzige
erfolgreiche Abwehr solcher Streiks. Aber
wer vermag daran überhaupt nur zu
denken. Bekommt der Staats-Gummiball
eine Beule, so wird sie eben herausgedrückt, in¬
dem man eine andere hineindrückt, da keiner
imstande ist, das Loch zu verstopfen, das
die Lebensluft des Balles herausläßt, und
so geht es fort, bis der Ball luftleer ist.

Der Eisenbahnerstreik in Jugoslawien ist
die andere schwere Wolke, die in den letzten
Tagen den Himmel Deuischösterreichs ver¬
düsterte. Auf der Eisenbahnlinie Trieft—
Wien, die durch Jugoslawien führt, beruht
nun einmal das ganze Kunstgebilde dieses
Staates, zum mindesten aber ist sie die Haupt-

[Spaltenumbruch]

lebensader der Millionenstadt Wien. Nur
etwa fünf Prozent seines Fettbestandes und
27 Prozent seines Getreideverbrauches be¬
zieht Wien wie auch die anderen größeren
Städte aus den Erzeugnissen des eigenen
Landes. Alles übrige muß eingeführt wer¬
den. Hierfür aber kommen fast nur Italien
und die Überseegebiete in Betracht, denn
der benachbarte Agrarstaat Jugoslawien hat
seinen Lieferungsvertrag gekündigt, und
Ungarn ist zurzeit nicht ausfuhrfähig. Eine
vollkommene Selbstversorgung wird den
österreichischen Ländern bei dieser Zusammen¬
setzung Wohl nie möglich werden. Dagegen
wäre eine wesentliche Herabminderung der
Einfuhr bei genügender Ausnutzung des
Bodens und geregelter Verteilung sehr Wohl
denkbar. Bisher tann von einer intensiven
Landwirtschaft im modernen Sinne hier
nicht die Rede sein. Künstliche Düngung
ist noch gänzlich unbekannt, und wenn man
sie wirklich anwenden wollte, so würde das
nur eine weitere große Belastung des Ein¬
fuhrkontingents bedeuten, deren Kosten sich
unter den gegenwärtigen Valuta- und Ver¬
kehrsverhältnissen nur schwerlich bezahlt
machen. Außerdem liegt viel anbaufähiges
Land uoch brach oder findet nur als Wiesen¬
oder Weideland Verwendung. Es haben
diese Gebiete eben von jeher in erster Linie
Viehzucht betrieben, während man das feh¬
lende Getreide aus Ungarn und Böhmen
gegen Milch und Fleischprodukte eintauschte.
Die gegenwärtigen Ablieferungsbedingungen
sind nun nicht gerade dazu angetan, auf
den Getreidebau besonders anspornend zu
wirken, und die sozialdemokratische Regie¬
rung verfügt weder über Ansehen noch Macht
genug, um ihren Wünschen bei der Land¬
bevölkerung Geltung zu verschaffen. Nicht
einmal eine geregelte Ablieferung der vor¬
handenen Lebensmittel hat sie bisher durch¬
drücken können.

Derselbe Parteigeist, der allen Regie¬
rungsmaßnahmen das Gepräge aufdrückt,
hat auch auf die Landbevölkerung abgefärbt.
Es ist von großem Einfluß auf das Ab-
lisferungsergebnis, ob die betreffenden
Bauern der christlich sozialen Partei oder
dem Bauernbund angehören und ein Chvist-
lich-sozialer, ein Vauernbündler oder sonst

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Grenzboten II 1S2013
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/279>, abgerufen am 01.07.2024.