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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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Die Geburt des neuen Zuschauers

muß mit Gewalt gelöst werden." Die "Politiker" schrieb am 6. Februar
1909: "Entweder muß Europa unseren Ansprüchen nachgeben oder es wird zu
einem schrecklichen, blutigen Krieg kommen." Die Zeitschrift "Piemont", die
der serbische Offiziersverein (die schwarze Hand) eigens zu dem Zweck gegründet
hatte, reizte seit 1910 die Serben und Kroaten der Monarchie systematisch zu
Attentaten gegen Persönlichkeiten in leitenden Stellungen auf. Sonst betrieb
die Zeitschrift, wie schon ihr Name sagt, die Propaganda für die Befreiung
Bosniens, Dalmatiens, Kroatiens und der anderen serbischen Gebiete vom öster¬
reichisch-ungarischen Joch. Schließlich sei noch erwähnt, daß der serbische Konsulats¬
beamte Zemowitsch 1916 in Odessa mit Genehmigung der russischen Zensur ein
Buch."Der Friede und die nationale Gleichberechtigung" erscheinen ließ, in dem
er für Serbien den unvergänglichen Ruhm in Anspruch nimmt, daß es als
schwacher Kleinstaat durch langjährige beharrliche Arbeit den Weltkrieg zu ent¬
fesseln vermochte.

Danach mag man die Frage beurteilen, ob und für wie lange es möglich
war, 1914 durch weitere Nachgiebigkeit den Krieg zu verhindern. Man kann sich
nicht des Gefühls erwehren, daß weitere Nachgiebigkeit Oesterreich, das von seinen
Gegnern ohnehin schon damals totgesagt wurde, bei Feind und Freund um jede
Achtung gebracht hätte. Der Staat wäre ein Spielball seiner Gegner und der
Jrredenta geworden und hätte als Bundesgenosse alle Bedeutung verloren.

Diese Anschauung scheint auch 1914 die überwiegende gewesen zu sein.
Erst die Entwicklung seit 1913 hat die Erkenntnis getrübt.




Die Geburt des neuen Zuschauers
Lin Lindruck
Thcoxhile von Bodisco von

le unterirdisch wühlenden Wandlungsprozesse einer Zeit drücken sich
in allem Geformten aus, im Staatswesen, in der Kunst, in der
Wissenschaft. Sie geben dadurch gewissermaßen Signale. Wir
stehen in einer zitternden Zeit. Wohin wir auch schauen, sehen
uns neue Gesichter an. Ohne daß wir uns dessen bewußt sind,
wandelt es sich auch in uns. Die Beziehungen werden andere.

Auch das Große Schauspielhaus ist solch ein Ausdruck, solch ein Signal.
Wilh soll es? Ist es nur die pomphafte Gebärde eines Einzelnen, ein Versuch,
Altes zu beleben? Oder ist dies überlieferte Schema nur der vorläufige Anhalts¬
punkt, kämpft sich hier nicht in Anlehnung -- alles wurzelt irgendwie, da alles
w Kontinuität steht -- ein neues Werden durch? Stellt sich hier nicht vielleicht
em Problem hin, in dem ein neues Leben verborgen ist, das zu uns strömen will?

Zuerst tritt es als Raumproblem, das zugleich ein Zeitproblem birgt, auf.
Neue Zeiten künden sich oft durch eine andere Beziehung zu diesen Problemen
°n. In diesem großen Theater sollen Zeit und Raum für uns zu etwas anderem


Die Geburt des neuen Zuschauers

muß mit Gewalt gelöst werden." Die „Politiker" schrieb am 6. Februar
1909: „Entweder muß Europa unseren Ansprüchen nachgeben oder es wird zu
einem schrecklichen, blutigen Krieg kommen." Die Zeitschrift „Piemont", die
der serbische Offiziersverein (die schwarze Hand) eigens zu dem Zweck gegründet
hatte, reizte seit 1910 die Serben und Kroaten der Monarchie systematisch zu
Attentaten gegen Persönlichkeiten in leitenden Stellungen auf. Sonst betrieb
die Zeitschrift, wie schon ihr Name sagt, die Propaganda für die Befreiung
Bosniens, Dalmatiens, Kroatiens und der anderen serbischen Gebiete vom öster¬
reichisch-ungarischen Joch. Schließlich sei noch erwähnt, daß der serbische Konsulats¬
beamte Zemowitsch 1916 in Odessa mit Genehmigung der russischen Zensur ein
Buch.„Der Friede und die nationale Gleichberechtigung" erscheinen ließ, in dem
er für Serbien den unvergänglichen Ruhm in Anspruch nimmt, daß es als
schwacher Kleinstaat durch langjährige beharrliche Arbeit den Weltkrieg zu ent¬
fesseln vermochte.

Danach mag man die Frage beurteilen, ob und für wie lange es möglich
war, 1914 durch weitere Nachgiebigkeit den Krieg zu verhindern. Man kann sich
nicht des Gefühls erwehren, daß weitere Nachgiebigkeit Oesterreich, das von seinen
Gegnern ohnehin schon damals totgesagt wurde, bei Feind und Freund um jede
Achtung gebracht hätte. Der Staat wäre ein Spielball seiner Gegner und der
Jrredenta geworden und hätte als Bundesgenosse alle Bedeutung verloren.

Diese Anschauung scheint auch 1914 die überwiegende gewesen zu sein.
Erst die Entwicklung seit 1913 hat die Erkenntnis getrübt.




Die Geburt des neuen Zuschauers
Lin Lindruck
Thcoxhile von Bodisco von

le unterirdisch wühlenden Wandlungsprozesse einer Zeit drücken sich
in allem Geformten aus, im Staatswesen, in der Kunst, in der
Wissenschaft. Sie geben dadurch gewissermaßen Signale. Wir
stehen in einer zitternden Zeit. Wohin wir auch schauen, sehen
uns neue Gesichter an. Ohne daß wir uns dessen bewußt sind,
wandelt es sich auch in uns. Die Beziehungen werden andere.

Auch das Große Schauspielhaus ist solch ein Ausdruck, solch ein Signal.
Wilh soll es? Ist es nur die pomphafte Gebärde eines Einzelnen, ein Versuch,
Altes zu beleben? Oder ist dies überlieferte Schema nur der vorläufige Anhalts¬
punkt, kämpft sich hier nicht in Anlehnung — alles wurzelt irgendwie, da alles
w Kontinuität steht — ein neues Werden durch? Stellt sich hier nicht vielleicht
em Problem hin, in dem ein neues Leben verborgen ist, das zu uns strömen will?

Zuerst tritt es als Raumproblem, das zugleich ein Zeitproblem birgt, auf.
Neue Zeiten künden sich oft durch eine andere Beziehung zu diesen Problemen
°n. In diesem großen Theater sollen Zeit und Raum für uns zu etwas anderem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/27>, abgerufen am 22.07.2024.