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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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den Neichsiagswahlen die Mehrheit erringen könnten, die sie in der November¬
revolution antizipieren wollten, die ihnen aber am Wahltage der National¬
versammlung versagt blieb, ist wohl für alle Beurteiler der politischen Lage, sei
es innerhalb oder außerhalb der Sozialdemokratischen Partei, ausgeschlossen.

Damit ergibt sich für aufmerksame Beobachter die merkwürdige Erscheinung,
daß die wirklich leitenden Führer der drei Koalitionsparteien Wohl oder übel ihre
Hauptfühler nach rechts hinaus leiten. Die gegebene Trägerin ihrer Rechts¬
entwicklung ist selbstverständlich das Zentrum, das als ein Parlament aller
Schattierungen in sich stets die Möglichkeit birgt, durch interne Verschiebungen
sich eine andere dein Augenblick angepaßte Nuancierung zu geben. Während
daher Mehrheitssozialdemokraiie und Demokratie in ihren Wahlaufrufen mehr
oder weniger mir stilistische Verwcisserimgen auszuweisen haben, erfordert das
gegenwärtige taktische Verhalten des Zentrums das größte politische Interesse.
Der Sturz Erzbergers, der wohl von keiner Partei herzlicher begrüßt worden ist
als eben vom Zentrum selbst, gibt der Christlichen Volkspartei die volle Freiheit
jedweder Entwicklung wieder. Eine Entwicklung freilich, die das Zentrum seil
seinen GründungZtagen und mit besonderem Nachdruck in dem Aufsteigen Erz¬
bergers stets als dankbare Rolle zu spielen wußte, die Abwehrstellung gegen eine
bürokratisch-parteilose Regierung wird nunmehr nach Menscheuermessen der Partei
für absehbare Zeiten versagt bleiben. Das Zentrum des neuen Reiches bildet,
wenn man den univahrscheinlichen Fall einer rein sozialistischen Regierung aus¬
nimmt, wohl oder übel die Regierungspartei sans piu-ase. Sie innre, sofern sie nur
über ein genügendes Maß von Führiüpersönlichkeiten verfügt, jederzeit frei, sich
ihre Gefährten zu wählen. Das Zentrum selbst läßt auch seine engeren Bundes¬
genossen innerhalb der Koalitionsregierung keineswegs über diejenige Rolle im
Zweifel, die daS Zentrum nach der strategischen Gunst seiner polnischen Stellung
und der Zuverlässigkeit seiner Anhängerschaft fordern kann. Während Demokratie
und Mehrheitssozialdemokratie zur Stunde über die wirkliche Masse ihrer An¬
hänger völlig im Dunkeln tappen, kann das Zentrum wieder wie seit einem
Menschenalter auch in diesen Wahlen auf seine alte Gefolgschaft zählen. Die
Ereignisse des letzten Jahres, insbesondere der bolschewistische Krieg an der Ruhr,
trafen die allbeliebte Verbindung mit der Mehiheitssozialistisch'en und Unab¬
hängigen Gefolgschaft in das Herz.

Das wertvollste Barometer für die kommenden Wahlen sind die Beiricbs-
rätewcihlen, die kürzlich stattfanden. Der Prozentsatz der Arbeiter, die für die
christlich-sozialen Gewerkschaften stimmten, hat sich gegen früher nicht verändert.
Er beträgt 25 Prozent. Dagegen sind die freien sozialistischen Gewerkschaften
auf 85 Prozent zurückgegangen, während die Syndikalisten (Unionisten), die ihnen
die Kassen großenteils abspenstig gemacht haben, 40 Prozent erreichten.

Die drei Parteien, die heute in der Regierung beisammen sitzen, hatten sich
im alten Reich in der dankbaren Rolle der Opposition zusammengefunden. Viele
ihrer Führer hatten nie daran gedacht, selbst regieren zu dürfen oder zu müssen.
Einzelne von ihnen, die den Weg von der Ohnmacht zur Macht lieber nicht so
rasch zurückgelegt hätten, empfanden bei dem Eintritt in die Negierung nicht viel
anders als Michaelis und Hertling: sie sprangen in die Bresche. Wieder andere
griffen streberhaft nach der Macht. Beide Typen werden als Regierung kaute
cle mieux empfunden. Jetzt bindet sie nicht mehr gemeinsame Opposition, sondern
die mehr oder weniger angenehme Gewohnheit des Regierens zusammen und über¬
brückt ihre großen inneren Gegensätze. Erzberger und Scheidemann überwachten
die Rahtskeller zwischen den Regierungsparteien, die sich als Inbegriff der Demo¬
kratie, auch in steigendem Maß als Mittelparteien fühlten. Wie aber, wenn
zweien der drei verbundenen Parteien jetzt die Wählermassen entgleiten? Die
Mehrheitssozialisten sind ihrer ganzen Struktur nach nur als Oppositionspartei
zugkräftig, den Demokraten schwimmen die vielen Elemente weg, die sich nach
der Revolution bei ihnen als der vermeintlich einzigen und großen Bürgerpartei
sammelten. Welchen Grund aber sollte das Zentrum haben, jene von Erzberger


Roichsspiegel

den Neichsiagswahlen die Mehrheit erringen könnten, die sie in der November¬
revolution antizipieren wollten, die ihnen aber am Wahltage der National¬
versammlung versagt blieb, ist wohl für alle Beurteiler der politischen Lage, sei
es innerhalb oder außerhalb der Sozialdemokratischen Partei, ausgeschlossen.

Damit ergibt sich für aufmerksame Beobachter die merkwürdige Erscheinung,
daß die wirklich leitenden Führer der drei Koalitionsparteien Wohl oder übel ihre
Hauptfühler nach rechts hinaus leiten. Die gegebene Trägerin ihrer Rechts¬
entwicklung ist selbstverständlich das Zentrum, das als ein Parlament aller
Schattierungen in sich stets die Möglichkeit birgt, durch interne Verschiebungen
sich eine andere dein Augenblick angepaßte Nuancierung zu geben. Während
daher Mehrheitssozialdemokraiie und Demokratie in ihren Wahlaufrufen mehr
oder weniger mir stilistische Verwcisserimgen auszuweisen haben, erfordert das
gegenwärtige taktische Verhalten des Zentrums das größte politische Interesse.
Der Sturz Erzbergers, der wohl von keiner Partei herzlicher begrüßt worden ist
als eben vom Zentrum selbst, gibt der Christlichen Volkspartei die volle Freiheit
jedweder Entwicklung wieder. Eine Entwicklung freilich, die das Zentrum seil
seinen GründungZtagen und mit besonderem Nachdruck in dem Aufsteigen Erz¬
bergers stets als dankbare Rolle zu spielen wußte, die Abwehrstellung gegen eine
bürokratisch-parteilose Regierung wird nunmehr nach Menscheuermessen der Partei
für absehbare Zeiten versagt bleiben. Das Zentrum des neuen Reiches bildet,
wenn man den univahrscheinlichen Fall einer rein sozialistischen Regierung aus¬
nimmt, wohl oder übel die Regierungspartei sans piu-ase. Sie innre, sofern sie nur
über ein genügendes Maß von Führiüpersönlichkeiten verfügt, jederzeit frei, sich
ihre Gefährten zu wählen. Das Zentrum selbst läßt auch seine engeren Bundes¬
genossen innerhalb der Koalitionsregierung keineswegs über diejenige Rolle im
Zweifel, die daS Zentrum nach der strategischen Gunst seiner polnischen Stellung
und der Zuverlässigkeit seiner Anhängerschaft fordern kann. Während Demokratie
und Mehrheitssozialdemokratie zur Stunde über die wirkliche Masse ihrer An¬
hänger völlig im Dunkeln tappen, kann das Zentrum wieder wie seit einem
Menschenalter auch in diesen Wahlen auf seine alte Gefolgschaft zählen. Die
Ereignisse des letzten Jahres, insbesondere der bolschewistische Krieg an der Ruhr,
trafen die allbeliebte Verbindung mit der Mehiheitssozialistisch'en und Unab¬
hängigen Gefolgschaft in das Herz.

Das wertvollste Barometer für die kommenden Wahlen sind die Beiricbs-
rätewcihlen, die kürzlich stattfanden. Der Prozentsatz der Arbeiter, die für die
christlich-sozialen Gewerkschaften stimmten, hat sich gegen früher nicht verändert.
Er beträgt 25 Prozent. Dagegen sind die freien sozialistischen Gewerkschaften
auf 85 Prozent zurückgegangen, während die Syndikalisten (Unionisten), die ihnen
die Kassen großenteils abspenstig gemacht haben, 40 Prozent erreichten.

Die drei Parteien, die heute in der Regierung beisammen sitzen, hatten sich
im alten Reich in der dankbaren Rolle der Opposition zusammengefunden. Viele
ihrer Führer hatten nie daran gedacht, selbst regieren zu dürfen oder zu müssen.
Einzelne von ihnen, die den Weg von der Ohnmacht zur Macht lieber nicht so
rasch zurückgelegt hätten, empfanden bei dem Eintritt in die Negierung nicht viel
anders als Michaelis und Hertling: sie sprangen in die Bresche. Wieder andere
griffen streberhaft nach der Macht. Beide Typen werden als Regierung kaute
cle mieux empfunden. Jetzt bindet sie nicht mehr gemeinsame Opposition, sondern
die mehr oder weniger angenehme Gewohnheit des Regierens zusammen und über¬
brückt ihre großen inneren Gegensätze. Erzberger und Scheidemann überwachten
die Rahtskeller zwischen den Regierungsparteien, die sich als Inbegriff der Demo¬
kratie, auch in steigendem Maß als Mittelparteien fühlten. Wie aber, wenn
zweien der drei verbundenen Parteien jetzt die Wählermassen entgleiten? Die
Mehrheitssozialisten sind ihrer ganzen Struktur nach nur als Oppositionspartei
zugkräftig, den Demokraten schwimmen die vielen Elemente weg, die sich nach
der Revolution bei ihnen als der vermeintlich einzigen und großen Bürgerpartei
sammelten. Welchen Grund aber sollte das Zentrum haben, jene von Erzberger


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[0146] Roichsspiegel den Neichsiagswahlen die Mehrheit erringen könnten, die sie in der November¬ revolution antizipieren wollten, die ihnen aber am Wahltage der National¬ versammlung versagt blieb, ist wohl für alle Beurteiler der politischen Lage, sei es innerhalb oder außerhalb der Sozialdemokratischen Partei, ausgeschlossen. Damit ergibt sich für aufmerksame Beobachter die merkwürdige Erscheinung, daß die wirklich leitenden Führer der drei Koalitionsparteien Wohl oder übel ihre Hauptfühler nach rechts hinaus leiten. Die gegebene Trägerin ihrer Rechts¬ entwicklung ist selbstverständlich das Zentrum, das als ein Parlament aller Schattierungen in sich stets die Möglichkeit birgt, durch interne Verschiebungen sich eine andere dein Augenblick angepaßte Nuancierung zu geben. Während daher Mehrheitssozialdemokraiie und Demokratie in ihren Wahlaufrufen mehr oder weniger mir stilistische Verwcisserimgen auszuweisen haben, erfordert das gegenwärtige taktische Verhalten des Zentrums das größte politische Interesse. Der Sturz Erzbergers, der wohl von keiner Partei herzlicher begrüßt worden ist als eben vom Zentrum selbst, gibt der Christlichen Volkspartei die volle Freiheit jedweder Entwicklung wieder. Eine Entwicklung freilich, die das Zentrum seil seinen GründungZtagen und mit besonderem Nachdruck in dem Aufsteigen Erz¬ bergers stets als dankbare Rolle zu spielen wußte, die Abwehrstellung gegen eine bürokratisch-parteilose Regierung wird nunmehr nach Menscheuermessen der Partei für absehbare Zeiten versagt bleiben. Das Zentrum des neuen Reiches bildet, wenn man den univahrscheinlichen Fall einer rein sozialistischen Regierung aus¬ nimmt, wohl oder übel die Regierungspartei sans piu-ase. Sie innre, sofern sie nur über ein genügendes Maß von Führiüpersönlichkeiten verfügt, jederzeit frei, sich ihre Gefährten zu wählen. Das Zentrum selbst läßt auch seine engeren Bundes¬ genossen innerhalb der Koalitionsregierung keineswegs über diejenige Rolle im Zweifel, die daS Zentrum nach der strategischen Gunst seiner polnischen Stellung und der Zuverlässigkeit seiner Anhängerschaft fordern kann. Während Demokratie und Mehrheitssozialdemokratie zur Stunde über die wirkliche Masse ihrer An¬ hänger völlig im Dunkeln tappen, kann das Zentrum wieder wie seit einem Menschenalter auch in diesen Wahlen auf seine alte Gefolgschaft zählen. Die Ereignisse des letzten Jahres, insbesondere der bolschewistische Krieg an der Ruhr, trafen die allbeliebte Verbindung mit der Mehiheitssozialistisch'en und Unab¬ hängigen Gefolgschaft in das Herz. Das wertvollste Barometer für die kommenden Wahlen sind die Beiricbs- rätewcihlen, die kürzlich stattfanden. Der Prozentsatz der Arbeiter, die für die christlich-sozialen Gewerkschaften stimmten, hat sich gegen früher nicht verändert. Er beträgt 25 Prozent. Dagegen sind die freien sozialistischen Gewerkschaften auf 85 Prozent zurückgegangen, während die Syndikalisten (Unionisten), die ihnen die Kassen großenteils abspenstig gemacht haben, 40 Prozent erreichten. Die drei Parteien, die heute in der Regierung beisammen sitzen, hatten sich im alten Reich in der dankbaren Rolle der Opposition zusammengefunden. Viele ihrer Führer hatten nie daran gedacht, selbst regieren zu dürfen oder zu müssen. Einzelne von ihnen, die den Weg von der Ohnmacht zur Macht lieber nicht so rasch zurückgelegt hätten, empfanden bei dem Eintritt in die Negierung nicht viel anders als Michaelis und Hertling: sie sprangen in die Bresche. Wieder andere griffen streberhaft nach der Macht. Beide Typen werden als Regierung kaute cle mieux empfunden. Jetzt bindet sie nicht mehr gemeinsame Opposition, sondern die mehr oder weniger angenehme Gewohnheit des Regierens zusammen und über¬ brückt ihre großen inneren Gegensätze. Erzberger und Scheidemann überwachten die Rahtskeller zwischen den Regierungsparteien, die sich als Inbegriff der Demo¬ kratie, auch in steigendem Maß als Mittelparteien fühlten. Wie aber, wenn zweien der drei verbundenen Parteien jetzt die Wählermassen entgleiten? Die Mehrheitssozialisten sind ihrer ganzen Struktur nach nur als Oppositionspartei zugkräftig, den Demokraten schwimmen die vielen Elemente weg, die sich nach der Revolution bei ihnen als der vermeintlich einzigen und großen Bürgerpartei sammelten. Welchen Grund aber sollte das Zentrum haben, jene von Erzberger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/146>, abgerufen am 02.07.2024.