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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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Die Aerzteschaft unter der Macht der Krankenkassen

einkommen, ohne Rücksicht auf die Herkunft desselben, und zwar mit steigendem
Einkommen in steigendem Verhältnis. Die Kassenmitglieder dagegen werden nicht
nur nicht mit ihrem Gesamteinkommen, sondern gerade die bestbezahlten noch
nicht einmal mit ihrem vollen Arbeitsverdienst zu dem Beitrag herangezogen.
Dort muß der wirtschaftlich Stärkere größere Lasten tragen, hier leistet der
bestbezahlte Arbeiter im Verhältnis geringere Beiträge als der schlecht bezahlte.
Die alten Verträge mit den Kassen sind sämtlich unter der Voraussetzung eines
Höchstgrnndlohnes von 10 Mark abgeschlossen worden und die Kassen haben ---
ob mit Recht, bleibe dahingestellt -- immer erklärt, sie seien deswegen zu besserer
Bezahlung der Ärzte nicht imstande. Nun wird der Grundlohn bis zu 30 Mark
hinaufgesetzt. Die soziale Ungerechtigkeit bleibt' denn daS Einkommen kann
nur bis zu 9000 Mark für die Beiträge erfaßt werden. Aber auch so
steigen die Einnahmen der Kassen erheblich, da sie bisher das Einkommen ihrer
Mitglieder nur bis zu 3000 Mark zu den Beiträgen heranziehen konnten. Da¬
durch sind wesentliche Voraussetzungen der alten Verträge und damit diese selbst
hinfällig. Herr Fräßdorf erhebt zwar bereits in der "Ortskrankenkasse" das
übliche Geschrei über Vertragsbruch, aber das wird die Erwägungen und Beschlüsse
der Ärzte nicht stören. Man darf der nächsten Zeit mit Spannung entgegensehen.
In Berlin, das in der jetzigen Bewegung vorangegangen ist, haben die Kassen sich zu
Verhandlungen bereit erklärt. Die Berliner Ärzte fordern eine vollkommene Neu¬
regelung ihrer Beziehungen zu den Kassen, Zulassung aller dazu bereiten Ärzte
zur Kassenpraxis und zeitgemäße Bezahlung. Von dem Verständnis der Kassen
wird es hier wie im Reich abhängen, ob Verständigung oder Kampf, Aufbau
oder Zerstörung folgen wird. Kommt es ^um Kampf, so wird er schwer und
erbittert sein. Denn die Arzte wissen, daß sie vielleicht zum letzten Male die
Möglichkeit haben, sich gegen die drohende Verelendung und Versklavung zu
wehren. Es wird in solchem Falle in der Öffentlichkeit gern von Ärztestreik
gesprochen. Das ist falsch. Streik heißt Arbeitsverweigerung. Die ärztliche
Arbeit ist die Krankenbehandlung. Diese ist bei Konflikten mit Kassen noch nie
abgelehnt worden. Verweigert wird in solchen Fällen nur der Abschluß von
Verträgen mit den Kassen und die Behandlung ihrer Mitglieder als Kassen¬
patienten. Ich kann mir nur einen Fall denken, in dem es dabei zu einem
Streik, dann aber zu einem Generalstreik der Arzte kommen könnte: wenn
man versuchen wollte, ihnen in solchem Existenzkampfe durch gesetzliche Zwangs¬
maßregeln die Hände zu binden.




Die Aerzteschaft unter der Macht der Krankenkassen

einkommen, ohne Rücksicht auf die Herkunft desselben, und zwar mit steigendem
Einkommen in steigendem Verhältnis. Die Kassenmitglieder dagegen werden nicht
nur nicht mit ihrem Gesamteinkommen, sondern gerade die bestbezahlten noch
nicht einmal mit ihrem vollen Arbeitsverdienst zu dem Beitrag herangezogen.
Dort muß der wirtschaftlich Stärkere größere Lasten tragen, hier leistet der
bestbezahlte Arbeiter im Verhältnis geringere Beiträge als der schlecht bezahlte.
Die alten Verträge mit den Kassen sind sämtlich unter der Voraussetzung eines
Höchstgrnndlohnes von 10 Mark abgeschlossen worden und die Kassen haben —-
ob mit Recht, bleibe dahingestellt — immer erklärt, sie seien deswegen zu besserer
Bezahlung der Ärzte nicht imstande. Nun wird der Grundlohn bis zu 30 Mark
hinaufgesetzt. Die soziale Ungerechtigkeit bleibt' denn daS Einkommen kann
nur bis zu 9000 Mark für die Beiträge erfaßt werden. Aber auch so
steigen die Einnahmen der Kassen erheblich, da sie bisher das Einkommen ihrer
Mitglieder nur bis zu 3000 Mark zu den Beiträgen heranziehen konnten. Da¬
durch sind wesentliche Voraussetzungen der alten Verträge und damit diese selbst
hinfällig. Herr Fräßdorf erhebt zwar bereits in der „Ortskrankenkasse" das
übliche Geschrei über Vertragsbruch, aber das wird die Erwägungen und Beschlüsse
der Ärzte nicht stören. Man darf der nächsten Zeit mit Spannung entgegensehen.
In Berlin, das in der jetzigen Bewegung vorangegangen ist, haben die Kassen sich zu
Verhandlungen bereit erklärt. Die Berliner Ärzte fordern eine vollkommene Neu¬
regelung ihrer Beziehungen zu den Kassen, Zulassung aller dazu bereiten Ärzte
zur Kassenpraxis und zeitgemäße Bezahlung. Von dem Verständnis der Kassen
wird es hier wie im Reich abhängen, ob Verständigung oder Kampf, Aufbau
oder Zerstörung folgen wird. Kommt es ^um Kampf, so wird er schwer und
erbittert sein. Denn die Arzte wissen, daß sie vielleicht zum letzten Male die
Möglichkeit haben, sich gegen die drohende Verelendung und Versklavung zu
wehren. Es wird in solchem Falle in der Öffentlichkeit gern von Ärztestreik
gesprochen. Das ist falsch. Streik heißt Arbeitsverweigerung. Die ärztliche
Arbeit ist die Krankenbehandlung. Diese ist bei Konflikten mit Kassen noch nie
abgelehnt worden. Verweigert wird in solchen Fällen nur der Abschluß von
Verträgen mit den Kassen und die Behandlung ihrer Mitglieder als Kassen¬
patienten. Ich kann mir nur einen Fall denken, in dem es dabei zu einem
Streik, dann aber zu einem Generalstreik der Arzte kommen könnte: wenn
man versuchen wollte, ihnen in solchem Existenzkampfe durch gesetzliche Zwangs¬
maßregeln die Hände zu binden.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/144>, abgerufen am 03.07.2024.