Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.Die Aerzteschaft unter der Macht der Krankenkassen haben; für diese angebliche Ursache eines solchen ist aber noch niemals ein Nach¬ Im November 1918 war die Versicherungsgrenze von 2300 auf 5000 Mark Die Aerzteschaft unter der Macht der Krankenkassen haben; für diese angebliche Ursache eines solchen ist aber noch niemals ein Nach¬ Im November 1918 war die Versicherungsgrenze von 2300 auf 5000 Mark <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0142" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337379"/> <fw type="header" place="top"> Die Aerzteschaft unter der Macht der Krankenkassen</fw><lb/> <p xml:id="ID_528" prev="#ID_527"> haben; für diese angebliche Ursache eines solchen ist aber noch niemals ein Nach¬<lb/> weis geführt worden, der einer kritischen Nachprüfung standgehalten hätte. Es<lb/> muß mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß die Arzte aller Richtungen<lb/> für die Familienbehandlung einmütig die freie Arztwahl fordern, und zwar nicht<lb/> nur im Interesse des eigenen Standes, fondern ebenso sehr in den: der Ver¬<lb/> sicherten. Demgegenüber ist es bemerkenswert, daß von dem Vorsitzenden des<lb/> Hauptverbandes deutscher Ortskrankenkassen Fräszdorf den Ärzten ein Recht auf<lb/> Arbeit nicht zuerkannt wird. Seine Neigung geht dahin, möglichst eine be¬<lb/> schränkte Zahl von festangestellten Kassenärzten zu schaffen, die dann natürlich<lb/> ganz von ihren Arbeitgebern, den Kassen, abhängig sein würden. Man scheut sich<lb/> also nicht, von einer Verminderung der Kassenärzte zu sprechen in einer Zeit, in<lb/> der die ärztliche Arbeit als solche in ständigen Wachsen ist, in der mit jeder Er¬<lb/> weiterung der Versicherung die Inanspruchnahme des Arztes zunimmt und zu¬<lb/> gleich die Einführung der Familienversicherung in Aussicht steht, die eine un¬<lb/> geheure Steigerung der Inanspruchnahme der Arzte mit sich bringen wird. Und<lb/> das zu einer Zeit, wo man Arbeiter und Angestellte überall gegen Entlassung und<lb/> Erwerbslosigkeit zu sichern sucht und ihnen auch in den Betrieben besondere Rechte<lb/> gesetzlich zuerkannt hat! In einer Eingabe des Hauptverbandes deutscher Orts¬<lb/> krankenkassen an die Nationalversammlung wird sogar die Forderung eines<lb/> Z w an gsgesetzesgegen die Arzte aufgestellt, indem „der ärztliche Beruf<lb/> deu Bedürfnissen der Krankenversicherung (das heißt der Kassen!) angepaßt<lb/> werden soll. Die Bemühungen der ärztlichen Hauptorganisation, des wirtschaft¬<lb/> lichen Verbandes der Arzte Deutschlands in Leipzig, mit den großen Kranken¬<lb/> kassenverbänden durch Tarifabkommen zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit im<lb/> Interesse der Sozialversicherung zu gelangen, vermochten es nicht zu verhindern,<lb/> daß die Kassen gerade in allerjüngster Zeit den berechtigten Wünschen der Arzte<lb/> gegenüber in herausfordernder Weife ihren alten Herrenstandpunkt hervorkehrten.</p><lb/> <p xml:id="ID_529" next="#ID_530"> Im November 1918 war die Versicherungsgrenze von 2300 auf 5000 Mark<lb/> heraufgesetzt worden. Diese Versicherungsgrenze gilt übrigens nur für die<lb/> Angestellten und einige andere Gruppen von Versicherten, während die Arbeiter<lb/> ohne jede Einkommensgrenze versicherungspflichtig sind; tatsächlich sind unter den<lb/> letzteren heute nicht wenige mit 20 000 und mehr Mark Einkommen Kassenmitglieder»<lb/> zweifellos eine Überspannung des Versicherungsgedankens; denn die Versicherung<lb/> soll nur denjenigen schützen, der im Krankheitsfall sich nicht selbst das Nötige<lb/> beschaffen kann. Völlig sinnlos ist daher auch die im November 1918 ebenfalls<lb/> durch Verordnung erfolgte Aufhebung jeder Einkommensgrenze für die freiwillige<lb/> Weiterversicherung früherer Kassenmitglieder. Schon dadurch, daß für die Ver¬<lb/> hinderungspflicht nur das Einkommen aus der Versicherungspflichtigen Beschäftigung,<lb/> nicht aber das Gesamteinkommen maßgebend ist, waren immer mehr Angehörige<lb/> gutsituierter Kreise in die Krankenkassen gekommen. Dies hatte sich noch durch<lb/> die unsinnigen Bestimmungen des Hilfsdienstgesetzes gesteigert. Nun können sogar<lb/> alle Versicherten freiwillige Kassenmitglieder bleiben oder wieder werden, ohne Rück¬<lb/> sicht auf die Art ihres Berufes, ihre soziale Stellung und die Höhe ihres Gesamt¬<lb/> einkommens. Bei Einführung der Familienversicherung würden auch ihre Ange¬<lb/> hörigen Kassenmitglieder werden können. Der Kriegsgewinnler, der gestern noch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0142]
Die Aerzteschaft unter der Macht der Krankenkassen
haben; für diese angebliche Ursache eines solchen ist aber noch niemals ein Nach¬
weis geführt worden, der einer kritischen Nachprüfung standgehalten hätte. Es
muß mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß die Arzte aller Richtungen
für die Familienbehandlung einmütig die freie Arztwahl fordern, und zwar nicht
nur im Interesse des eigenen Standes, fondern ebenso sehr in den: der Ver¬
sicherten. Demgegenüber ist es bemerkenswert, daß von dem Vorsitzenden des
Hauptverbandes deutscher Ortskrankenkassen Fräszdorf den Ärzten ein Recht auf
Arbeit nicht zuerkannt wird. Seine Neigung geht dahin, möglichst eine be¬
schränkte Zahl von festangestellten Kassenärzten zu schaffen, die dann natürlich
ganz von ihren Arbeitgebern, den Kassen, abhängig sein würden. Man scheut sich
also nicht, von einer Verminderung der Kassenärzte zu sprechen in einer Zeit, in
der die ärztliche Arbeit als solche in ständigen Wachsen ist, in der mit jeder Er¬
weiterung der Versicherung die Inanspruchnahme des Arztes zunimmt und zu¬
gleich die Einführung der Familienversicherung in Aussicht steht, die eine un¬
geheure Steigerung der Inanspruchnahme der Arzte mit sich bringen wird. Und
das zu einer Zeit, wo man Arbeiter und Angestellte überall gegen Entlassung und
Erwerbslosigkeit zu sichern sucht und ihnen auch in den Betrieben besondere Rechte
gesetzlich zuerkannt hat! In einer Eingabe des Hauptverbandes deutscher Orts¬
krankenkassen an die Nationalversammlung wird sogar die Forderung eines
Z w an gsgesetzesgegen die Arzte aufgestellt, indem „der ärztliche Beruf
deu Bedürfnissen der Krankenversicherung (das heißt der Kassen!) angepaßt
werden soll. Die Bemühungen der ärztlichen Hauptorganisation, des wirtschaft¬
lichen Verbandes der Arzte Deutschlands in Leipzig, mit den großen Kranken¬
kassenverbänden durch Tarifabkommen zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit im
Interesse der Sozialversicherung zu gelangen, vermochten es nicht zu verhindern,
daß die Kassen gerade in allerjüngster Zeit den berechtigten Wünschen der Arzte
gegenüber in herausfordernder Weife ihren alten Herrenstandpunkt hervorkehrten.
Im November 1918 war die Versicherungsgrenze von 2300 auf 5000 Mark
heraufgesetzt worden. Diese Versicherungsgrenze gilt übrigens nur für die
Angestellten und einige andere Gruppen von Versicherten, während die Arbeiter
ohne jede Einkommensgrenze versicherungspflichtig sind; tatsächlich sind unter den
letzteren heute nicht wenige mit 20 000 und mehr Mark Einkommen Kassenmitglieder»
zweifellos eine Überspannung des Versicherungsgedankens; denn die Versicherung
soll nur denjenigen schützen, der im Krankheitsfall sich nicht selbst das Nötige
beschaffen kann. Völlig sinnlos ist daher auch die im November 1918 ebenfalls
durch Verordnung erfolgte Aufhebung jeder Einkommensgrenze für die freiwillige
Weiterversicherung früherer Kassenmitglieder. Schon dadurch, daß für die Ver¬
hinderungspflicht nur das Einkommen aus der Versicherungspflichtigen Beschäftigung,
nicht aber das Gesamteinkommen maßgebend ist, waren immer mehr Angehörige
gutsituierter Kreise in die Krankenkassen gekommen. Dies hatte sich noch durch
die unsinnigen Bestimmungen des Hilfsdienstgesetzes gesteigert. Nun können sogar
alle Versicherten freiwillige Kassenmitglieder bleiben oder wieder werden, ohne Rück¬
sicht auf die Art ihres Berufes, ihre soziale Stellung und die Höhe ihres Gesamt¬
einkommens. Bei Einführung der Familienversicherung würden auch ihre Ange¬
hörigen Kassenmitglieder werden können. Der Kriegsgewinnler, der gestern noch
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