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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Parteien und Mahlen in Elsaß-Lothringen

im ganzen Lande vorgenommenen Gemeinderatswahlen. In Straßburg haben
sich die Parteien zu einem freiwilligen Proporz unter Zugrundelegung der bei
den Kammerwahlen erzielten Stimmenziffern entschlossen. Danach erhielten die
Sozialisten 17, die Radikalen 4, die Blockparteien 15 Vertreter. Die Sozialisten
und Radikalen verfügen also über die absolute Mehrheit, und die Wiederwahl
Peirotes' zum Bürgermeister ist gesichert. In Colmar wurde die vereinigte Liste
der Radikalen und Sozialisten gewählt, in Mülhausen 18 Bürgerliche und 1.8
Sozialdemokraten. Das "nationale" Bekenntnis sieht also hier erheblich anders
aus. Es ist auch sehr bezeichnend, daß der scheidende Präfekt vou Lothringen,
Mirman, die Parteien in Metz zu einem freiwilligen Proporz nach Straßburger
Muster aufgefordert hat. Die Republikanische Union ging allerdings nicht darauf
ein, und ihre Kandidaten wurden bis auf vier gewählt, aber man sieht daraus doch,
daß die Regierung es für sehr gefährlich ansieht, wenn auch in der Kommunal¬
politik die "antinationale" Sozialdemokratie von der Mitbestimmung völlig aus¬
geschaltet bleibt.

Am 8. Dezember gaben die neugewählten elsässischen und lothringischen
Abgeordneten bei der Eröffnung der Kammer eine Erklärung ab, die den rück¬
haltlosen Anschluß des Landes an Frankreich verkündete. Man wird diese nicht
auf dieselbe Stufe wie die Loyalitütserklärungen des Präsidenten des elsa߬
lothringischen Landtags während des Krieges stellen dürfen. Aber es sind hier
doch, ganz abgesehen von der theatralischen Ausmachung des Vorgangs, erheblich"
Einwände am Platze. Die in Elsaß-Lothringen herrschende Unzufriedenheit gibt
einen merkwürdigen Hintergrund ab für die bei einer solchen Gelegenheit unum¬
gängliche offizielle Erklärung. Das Rätsel der "nationalen" Wahlen ist gelöst,
wenn man bedenkt, daß die Kandidaten der Blockparteien auf Grund eines
Programmes gewählt sind, das in wohlberechneter Absicht die partikularen
' Forderungen allen andern voranstellt, also diejenigen, in denen die allgemeine
Mißstimmung ihren Niederschlag gefunden hat. Zuerst Elsaß und Lothringen,
dann Frankreich! Hätten die Wähler nicht gewußt, das dem so sei, so hätten
alle Drohungen der "Ordnungsparteien" mit dem bolschewistischen Gespenst nichts
genützt. Es ist ja auch charakteristisch, daß gerade diese Parteien im Gegensatz
zu den Radikalen und Sozialisten sich keiner der großen französischen Parteien
angeschlossen haben. In dem Wahlergebnis findet also die in der Kammer
verlesene Erklärung keine Stütze, denn die Wahlen haben weder für noch gegen
Frankreich, sondern nur für ein im Rahmen Frankreichs seiner staatlichen
Individualität sich bewußtes Elsaß-Lothringen entschieden.




Parteien und Mahlen in Elsaß-Lothringen

im ganzen Lande vorgenommenen Gemeinderatswahlen. In Straßburg haben
sich die Parteien zu einem freiwilligen Proporz unter Zugrundelegung der bei
den Kammerwahlen erzielten Stimmenziffern entschlossen. Danach erhielten die
Sozialisten 17, die Radikalen 4, die Blockparteien 15 Vertreter. Die Sozialisten
und Radikalen verfügen also über die absolute Mehrheit, und die Wiederwahl
Peirotes' zum Bürgermeister ist gesichert. In Colmar wurde die vereinigte Liste
der Radikalen und Sozialisten gewählt, in Mülhausen 18 Bürgerliche und 1.8
Sozialdemokraten. Das „nationale" Bekenntnis sieht also hier erheblich anders
aus. Es ist auch sehr bezeichnend, daß der scheidende Präfekt vou Lothringen,
Mirman, die Parteien in Metz zu einem freiwilligen Proporz nach Straßburger
Muster aufgefordert hat. Die Republikanische Union ging allerdings nicht darauf
ein, und ihre Kandidaten wurden bis auf vier gewählt, aber man sieht daraus doch,
daß die Regierung es für sehr gefährlich ansieht, wenn auch in der Kommunal¬
politik die „antinationale" Sozialdemokratie von der Mitbestimmung völlig aus¬
geschaltet bleibt.

Am 8. Dezember gaben die neugewählten elsässischen und lothringischen
Abgeordneten bei der Eröffnung der Kammer eine Erklärung ab, die den rück¬
haltlosen Anschluß des Landes an Frankreich verkündete. Man wird diese nicht
auf dieselbe Stufe wie die Loyalitütserklärungen des Präsidenten des elsa߬
lothringischen Landtags während des Krieges stellen dürfen. Aber es sind hier
doch, ganz abgesehen von der theatralischen Ausmachung des Vorgangs, erheblich«
Einwände am Platze. Die in Elsaß-Lothringen herrschende Unzufriedenheit gibt
einen merkwürdigen Hintergrund ab für die bei einer solchen Gelegenheit unum¬
gängliche offizielle Erklärung. Das Rätsel der „nationalen" Wahlen ist gelöst,
wenn man bedenkt, daß die Kandidaten der Blockparteien auf Grund eines
Programmes gewählt sind, das in wohlberechneter Absicht die partikularen
' Forderungen allen andern voranstellt, also diejenigen, in denen die allgemeine
Mißstimmung ihren Niederschlag gefunden hat. Zuerst Elsaß und Lothringen,
dann Frankreich! Hätten die Wähler nicht gewußt, das dem so sei, so hätten
alle Drohungen der „Ordnungsparteien" mit dem bolschewistischen Gespenst nichts
genützt. Es ist ja auch charakteristisch, daß gerade diese Parteien im Gegensatz
zu den Radikalen und Sozialisten sich keiner der großen französischen Parteien
angeschlossen haben. In dem Wahlergebnis findet also die in der Kammer
verlesene Erklärung keine Stütze, denn die Wahlen haben weder für noch gegen
Frankreich, sondern nur für ein im Rahmen Frankreichs seiner staatlichen
Individualität sich bewußtes Elsaß-Lothringen entschieden.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/58>, abgerufen am 28.07.2024.