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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Parteien und Wahlen in Llsaß-Lothrinaen

Ich denke hier an jenen kleinen Kalcrbresen in de Amicis Roman "Herz .
welcher in Piemont in eine Schule hineinfahren, und an den Empfang, den ihm
die Piemontesischen Schüler nach den patriotischen Worten des Lehrers bereiten Er
gemahnt sie daran, daß Italien fünfzig Jahre für die Einheit gekämpft und dasz
MV00 Italiener dafür das Leben gelassen haben.

Das Theatralische dieser Rhapsodie beiseite. - wie unendlich weit ist der
Deutsche doch noch von solcher Auffassung entfernt I

Sie konnte im Reich von 1871, mit seinen Sonderungskristallp"nkten kaum
entstehen. Sie wurde jedenfalls nach Kräften hintangehalten. Der Einheitsstaat
nutz sie uns bringen. In ihm nutz es verpönt sein. den. der eine andere
Mundart spricht, 'zu verspotten oder, abzulehnen. Er wird der Erzieher zur
Deutschheit sein. Und damit zur Wiedergeburt!

Da das deutsche Volk eS in der Hand hat. den höchsten sittlichen nationalen
Stand, die innere geistige und politische Einheit, zu erreichen, nenne ich es trotz
all seines Unglücks ein glückliches. Wer das positive Ziel, welches diese Einheit
darstellt, als sittlich empfindet, wird die Schwere unserer Zeit leichter ertragen
als der Gegner der Einheit. Dieses Ziel erhebt, denn es verheitzt ideale Gesinnung,
wirkliche Brüderlichkeit für die Zukunft.

Aber das erfordert viel Umkehr vom Gewohnten. Darum ist es nicht nur
ein Ziel, sondern auch eine Forderung. Für jeden Einzelnen!




Parteien und Wahlen in Maß-Lothringen
v Paul Reicher on

in 16. November haben in Elsaß-Lothringen wie im übrigen Frank¬
reich die Kammerwahlen, die ersten Wahlen seit dem Verlust des
Landes, stattgefunden. Die politische Umwälzung rief eine völlige
Neubildung der Parteien hervor. Die mächtigste Partei des Landes,
das Zentrum, nannte sich im Elsaß Republikanische Volkspartei,
in Lothringen, wo sie eine Verschmelzung mit dem früheren Lothringer Block ein¬
ging. Republikanische Union. Der wichtigste Programmpunkt ist die Aufrecht¬
erhaltung der deutschen Kirchen- und Schulgesetzgebung, der Widerstand gegen die
Trennung von Kirche und Staat und gegen die Laienschule. Die zweite große
Partei des Landes, die Sozialdemokratie, steht natürlich auf dem entgegengesetzten
Standpunkt, wie sie überhaupt ihrem Parteidogma zufolge jede Sonderlümelei
Elsaß-Lothringens innerhalb des französischen Einheitsstaates verwirft. Die
Hauptforderung der Sozialdemokratie ist die Nationalisierung der Eisenbahnen,
der großen Jndustrieunternehmungen und der Bodenschätze. Den gleichen Stand¬
punkt in der Kultur- und WirtschaftSfrage nimmt die Radikale Partei ein, die aus
der früheren Liberal-demokratischen Partei hervorgegangen ist und eine entschieden
demokratische Politik verfolgt. Weniger trifft dies zu auf die neue Demokratisch-
republikanische Partei, die den größeren Teil der Liberal-demokratischen Partei in


Parteien und Wahlen in Llsaß-Lothrinaen

Ich denke hier an jenen kleinen Kalcrbresen in de Amicis Roman „Herz .
welcher in Piemont in eine Schule hineinfahren, und an den Empfang, den ihm
die Piemontesischen Schüler nach den patriotischen Worten des Lehrers bereiten Er
gemahnt sie daran, daß Italien fünfzig Jahre für die Einheit gekämpft und dasz
MV00 Italiener dafür das Leben gelassen haben.

Das Theatralische dieser Rhapsodie beiseite. - wie unendlich weit ist der
Deutsche doch noch von solcher Auffassung entfernt I

Sie konnte im Reich von 1871, mit seinen Sonderungskristallp«nkten kaum
entstehen. Sie wurde jedenfalls nach Kräften hintangehalten. Der Einheitsstaat
nutz sie uns bringen. In ihm nutz es verpönt sein. den. der eine andere
Mundart spricht, 'zu verspotten oder, abzulehnen. Er wird der Erzieher zur
Deutschheit sein. Und damit zur Wiedergeburt!

Da das deutsche Volk eS in der Hand hat. den höchsten sittlichen nationalen
Stand, die innere geistige und politische Einheit, zu erreichen, nenne ich es trotz
all seines Unglücks ein glückliches. Wer das positive Ziel, welches diese Einheit
darstellt, als sittlich empfindet, wird die Schwere unserer Zeit leichter ertragen
als der Gegner der Einheit. Dieses Ziel erhebt, denn es verheitzt ideale Gesinnung,
wirkliche Brüderlichkeit für die Zukunft.

Aber das erfordert viel Umkehr vom Gewohnten. Darum ist es nicht nur
ein Ziel, sondern auch eine Forderung. Für jeden Einzelnen!




Parteien und Wahlen in Maß-Lothringen
v Paul Reicher on

in 16. November haben in Elsaß-Lothringen wie im übrigen Frank¬
reich die Kammerwahlen, die ersten Wahlen seit dem Verlust des
Landes, stattgefunden. Die politische Umwälzung rief eine völlige
Neubildung der Parteien hervor. Die mächtigste Partei des Landes,
das Zentrum, nannte sich im Elsaß Republikanische Volkspartei,
in Lothringen, wo sie eine Verschmelzung mit dem früheren Lothringer Block ein¬
ging. Republikanische Union. Der wichtigste Programmpunkt ist die Aufrecht¬
erhaltung der deutschen Kirchen- und Schulgesetzgebung, der Widerstand gegen die
Trennung von Kirche und Staat und gegen die Laienschule. Die zweite große
Partei des Landes, die Sozialdemokratie, steht natürlich auf dem entgegengesetzten
Standpunkt, wie sie überhaupt ihrem Parteidogma zufolge jede Sonderlümelei
Elsaß-Lothringens innerhalb des französischen Einheitsstaates verwirft. Die
Hauptforderung der Sozialdemokratie ist die Nationalisierung der Eisenbahnen,
der großen Jndustrieunternehmungen und der Bodenschätze. Den gleichen Stand¬
punkt in der Kultur- und WirtschaftSfrage nimmt die Radikale Partei ein, die aus
der früheren Liberal-demokratischen Partei hervorgegangen ist und eine entschieden
demokratische Politik verfolgt. Weniger trifft dies zu auf die neue Demokratisch-
republikanische Partei, die den größeren Teil der Liberal-demokratischen Partei in


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[0053] Parteien und Wahlen in Llsaß-Lothrinaen Ich denke hier an jenen kleinen Kalcrbresen in de Amicis Roman „Herz . welcher in Piemont in eine Schule hineinfahren, und an den Empfang, den ihm die Piemontesischen Schüler nach den patriotischen Worten des Lehrers bereiten Er gemahnt sie daran, daß Italien fünfzig Jahre für die Einheit gekämpft und dasz MV00 Italiener dafür das Leben gelassen haben. Das Theatralische dieser Rhapsodie beiseite. - wie unendlich weit ist der Deutsche doch noch von solcher Auffassung entfernt I Sie konnte im Reich von 1871, mit seinen Sonderungskristallp«nkten kaum entstehen. Sie wurde jedenfalls nach Kräften hintangehalten. Der Einheitsstaat nutz sie uns bringen. In ihm nutz es verpönt sein. den. der eine andere Mundart spricht, 'zu verspotten oder, abzulehnen. Er wird der Erzieher zur Deutschheit sein. Und damit zur Wiedergeburt! Da das deutsche Volk eS in der Hand hat. den höchsten sittlichen nationalen Stand, die innere geistige und politische Einheit, zu erreichen, nenne ich es trotz all seines Unglücks ein glückliches. Wer das positive Ziel, welches diese Einheit darstellt, als sittlich empfindet, wird die Schwere unserer Zeit leichter ertragen als der Gegner der Einheit. Dieses Ziel erhebt, denn es verheitzt ideale Gesinnung, wirkliche Brüderlichkeit für die Zukunft. Aber das erfordert viel Umkehr vom Gewohnten. Darum ist es nicht nur ein Ziel, sondern auch eine Forderung. Für jeden Einzelnen! Parteien und Wahlen in Maß-Lothringen v Paul Reicher on in 16. November haben in Elsaß-Lothringen wie im übrigen Frank¬ reich die Kammerwahlen, die ersten Wahlen seit dem Verlust des Landes, stattgefunden. Die politische Umwälzung rief eine völlige Neubildung der Parteien hervor. Die mächtigste Partei des Landes, das Zentrum, nannte sich im Elsaß Republikanische Volkspartei, in Lothringen, wo sie eine Verschmelzung mit dem früheren Lothringer Block ein¬ ging. Republikanische Union. Der wichtigste Programmpunkt ist die Aufrecht¬ erhaltung der deutschen Kirchen- und Schulgesetzgebung, der Widerstand gegen die Trennung von Kirche und Staat und gegen die Laienschule. Die zweite große Partei des Landes, die Sozialdemokratie, steht natürlich auf dem entgegengesetzten Standpunkt, wie sie überhaupt ihrem Parteidogma zufolge jede Sonderlümelei Elsaß-Lothringens innerhalb des französischen Einheitsstaates verwirft. Die Hauptforderung der Sozialdemokratie ist die Nationalisierung der Eisenbahnen, der großen Jndustrieunternehmungen und der Bodenschätze. Den gleichen Stand¬ punkt in der Kultur- und WirtschaftSfrage nimmt die Radikale Partei ein, die aus der früheren Liberal-demokratischen Partei hervorgegangen ist und eine entschieden demokratische Politik verfolgt. Weniger trifft dies zu auf die neue Demokratisch- republikanische Partei, die den größeren Teil der Liberal-demokratischen Partei in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/53>, abgerufen am 22.12.2024.