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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Das angeblich elsässische Jubelfest

Wenden wir sodann von Kunst und Wissenschaft unsere Blicke auf Handel,
Industrie und Gewerbe, so treffen wir auch in diesem Gebiete wieder denselben
unaufhaltsamen Verfall. Handel, Gewerbe und Handwerke liegen darnieder.
Längst schon sind die Zeiten dahin, wo Straßburg, vermöge seiner Lage am
Rhein, wetteifernd den ausgezeichnetsten rheinischen Handelsstädten zur Seite stand,
wo die reiche Zunft der Schiffleute sogar eine Afterzunft hatte zu Mainz. Von
1732 hinweg, die Zeit des Kontinentalsystems ausgenommen, nahm außer Handel
unaufhörlich ab von Jahr zu Jahr, und jetzt, wo Straßburg und Elsas? rücksichtslos
dem Interesse der französischen Seehäfen aufgeopfert sind, verdient kaum noch das
bißchen Transit, das durch Straßburg geht, den Namen eines Handels. Wohl
kann bei dem bevorstehenden Fest einer unserer vorzüglichsten Kaufleute die
Mülhäuser noch begrüßen in einem Toast, obgleich niemand unbekannt ist, auf welchen
morschen Füßen die oberelsässische Industrie ruht. Wer aber könnte mit gutem Gewissen
es auf sich nehmen, einen Spruch auszubringen zum Lobe des blühenden Handels
in Straßburg? Wie könnte es auch anders sein! Sind uns doch sämtliche natürliche
Ausgangs abgeschnitten und verschlossen. Hinter uns erheben sich die Vogesen als
Scheidewand zwischen Elsaß und Frankreich. Nichts begehrt ja das große Mutterland
von dem immer noch als erobert betrachteten und behandelten deutschen Stiefkinde
außer dem regelmäßigen Abtrage der bedeutenden Abgaben. Vor uns ist der
Rhein, ehemals die Hauptpulsader Straßburgischen und elsässischen Handels und
Wohlstandes, und Deutschland -- unzugänglich durch den preußischen Zollverein.
Ebenso unten die Pfalz und oben die Schweiz gesperrt oder doch der Eingang
erschwert durch Prohibitivgesetze. Und so ringsum mit einer unüberwindlichen
chinesischen Mauer umgeben; gewaltsam eingeengt zwischen dem Rhein und den
Vogesen, von all seinen ehemaligen natürlichen Ausflüssen abgerissen und dös
freien Rheins beraubt, erstickt nach und nach das reiche, ehemals so blühende
Ländchen mitten in all seinem ReichtumI

Jedenfalls suche niemand Uebertreibung in dein soeben Gesagten. Können
ja selbst diejenigen, welche sich so überschwenglich glücklich fühlen in ihrer Auf¬
lösung in Frankreich, diejenigen selbst, welche das jetzige Jubelfest veranstaltet
haben, nicht den betrübenden Zustand der Dinge leugnen. Und wieviel mehr
Bedeutung erhält nicht in ihrem Munde der Ausdruck gerechter Entrüstung?
Folgende Stelle, welche ich dem vor einigen Tagen erst von dem jetzigen Maire
gehaltenen Vortrage gegen den Vorschlag der Aufhebung der hiesigen medizinischen
Fakultät enthebe, liefert hierzu den besten, schlagendsten Beleg. Nachdem der
Maire den von Paris ausgehenden "feindseligen Plan" besprochen, nachdem er
die zahllosen Opfer aufgezählt, welche Straßburg dargebracht für seine Hochschule
im allgemeinen und für die medizinische Fakultät und die fortwährende Ver¬
größerung der von ihr abhängigen wissenschaftlichen Sammlungen insbesondere,
nachdem er die schreiende Ungerechtigkeit herausgehoben, welche nach solchen Vor¬
gängen die Ausführung der von Paris aus erklungenen Drohung Straßbnrg und
dem ganzen Elsaß zufügen würde, läßt er unter anderem folgende bemerkenswerte
Klagen einfließen, die ich wörtlich hier einschalte: "Diese Verhandlung," sagte der
Maire, "mußte ich anregen, um dem einmütiger Schrei der öffentlichen Meinung
zu entsprechen. Sollten wir denn verurteilt sein, stillschweigend der Vernichtung
aller Elemente des Wohlstandes unserer Stadt beizuwohnen und unsere wehend-


Das angeblich elsässische Jubelfest

Wenden wir sodann von Kunst und Wissenschaft unsere Blicke auf Handel,
Industrie und Gewerbe, so treffen wir auch in diesem Gebiete wieder denselben
unaufhaltsamen Verfall. Handel, Gewerbe und Handwerke liegen darnieder.
Längst schon sind die Zeiten dahin, wo Straßburg, vermöge seiner Lage am
Rhein, wetteifernd den ausgezeichnetsten rheinischen Handelsstädten zur Seite stand,
wo die reiche Zunft der Schiffleute sogar eine Afterzunft hatte zu Mainz. Von
1732 hinweg, die Zeit des Kontinentalsystems ausgenommen, nahm außer Handel
unaufhörlich ab von Jahr zu Jahr, und jetzt, wo Straßburg und Elsas? rücksichtslos
dem Interesse der französischen Seehäfen aufgeopfert sind, verdient kaum noch das
bißchen Transit, das durch Straßburg geht, den Namen eines Handels. Wohl
kann bei dem bevorstehenden Fest einer unserer vorzüglichsten Kaufleute die
Mülhäuser noch begrüßen in einem Toast, obgleich niemand unbekannt ist, auf welchen
morschen Füßen die oberelsässische Industrie ruht. Wer aber könnte mit gutem Gewissen
es auf sich nehmen, einen Spruch auszubringen zum Lobe des blühenden Handels
in Straßburg? Wie könnte es auch anders sein! Sind uns doch sämtliche natürliche
Ausgangs abgeschnitten und verschlossen. Hinter uns erheben sich die Vogesen als
Scheidewand zwischen Elsaß und Frankreich. Nichts begehrt ja das große Mutterland
von dem immer noch als erobert betrachteten und behandelten deutschen Stiefkinde
außer dem regelmäßigen Abtrage der bedeutenden Abgaben. Vor uns ist der
Rhein, ehemals die Hauptpulsader Straßburgischen und elsässischen Handels und
Wohlstandes, und Deutschland — unzugänglich durch den preußischen Zollverein.
Ebenso unten die Pfalz und oben die Schweiz gesperrt oder doch der Eingang
erschwert durch Prohibitivgesetze. Und so ringsum mit einer unüberwindlichen
chinesischen Mauer umgeben; gewaltsam eingeengt zwischen dem Rhein und den
Vogesen, von all seinen ehemaligen natürlichen Ausflüssen abgerissen und dös
freien Rheins beraubt, erstickt nach und nach das reiche, ehemals so blühende
Ländchen mitten in all seinem ReichtumI

Jedenfalls suche niemand Uebertreibung in dein soeben Gesagten. Können
ja selbst diejenigen, welche sich so überschwenglich glücklich fühlen in ihrer Auf¬
lösung in Frankreich, diejenigen selbst, welche das jetzige Jubelfest veranstaltet
haben, nicht den betrübenden Zustand der Dinge leugnen. Und wieviel mehr
Bedeutung erhält nicht in ihrem Munde der Ausdruck gerechter Entrüstung?
Folgende Stelle, welche ich dem vor einigen Tagen erst von dem jetzigen Maire
gehaltenen Vortrage gegen den Vorschlag der Aufhebung der hiesigen medizinischen
Fakultät enthebe, liefert hierzu den besten, schlagendsten Beleg. Nachdem der
Maire den von Paris ausgehenden „feindseligen Plan" besprochen, nachdem er
die zahllosen Opfer aufgezählt, welche Straßburg dargebracht für seine Hochschule
im allgemeinen und für die medizinische Fakultät und die fortwährende Ver¬
größerung der von ihr abhängigen wissenschaftlichen Sammlungen insbesondere,
nachdem er die schreiende Ungerechtigkeit herausgehoben, welche nach solchen Vor¬
gängen die Ausführung der von Paris aus erklungenen Drohung Straßbnrg und
dem ganzen Elsaß zufügen würde, läßt er unter anderem folgende bemerkenswerte
Klagen einfließen, die ich wörtlich hier einschalte: „Diese Verhandlung," sagte der
Maire, „mußte ich anregen, um dem einmütiger Schrei der öffentlichen Meinung
zu entsprechen. Sollten wir denn verurteilt sein, stillschweigend der Vernichtung
aller Elemente des Wohlstandes unserer Stadt beizuwohnen und unsere wehend-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/234>, abgerufen am 22.12.2024.