Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.Attslioferungsfrage und Gstproblei" hier weiß ein Volk, daß es moralisch gemordet werden soll und sieht der Ver- Die Wahlverwandtschaft verzweifelnder Völker ist es, die unseren Blick nach Die Ratlosigkeit des Westens gegenüber der russischen Sphinx beginnt offen¬ Auf den Zusammenbruch der Bermondt-Farce, an dem der Westen mit¬ Aber die Fädelungen durchkreuzen sich zum schier unentwirrbaren Gewebe, Um Polen bewirbt sich Lenin ganz besonders. Dem Friedensangebot aus Attslioferungsfrage und Gstproblei» hier weiß ein Volk, daß es moralisch gemordet werden soll und sieht der Ver- Die Wahlverwandtschaft verzweifelnder Völker ist es, die unseren Blick nach Die Ratlosigkeit des Westens gegenüber der russischen Sphinx beginnt offen¬ Auf den Zusammenbruch der Bermondt-Farce, an dem der Westen mit¬ Aber die Fädelungen durchkreuzen sich zum schier unentwirrbaren Gewebe, Um Polen bewirbt sich Lenin ganz besonders. Dem Friedensangebot aus <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0201" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337046"/> <fw type="header" place="top"> Attslioferungsfrage und Gstproblei»</fw><lb/> <p xml:id="ID_1783" prev="#ID_1782"> hier weiß ein Volk, daß es moralisch gemordet werden soll und sieht der Ver-<lb/> zweiflung unmittelbar ins Gesicht. Diese Wirkung brauchen wir. Wir brauchen<lb/> sie drinnen und wir brauchen sie draußen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1784"> Die Wahlverwandtschaft verzweifelnder Völker ist es, die unseren Blick nach<lb/> Osten lenkt, wo ein anderes Volk dem Tode irr ins Auge blickt. Das russische<lb/> Volk ist seit drei Jahren von der Verzweiflungskrise des Bolschewismus befallen.<lb/> Und Europa doktert stümperhaft an ihm herum, ohne zu durchgreifender Hilfe<lb/> Geschick und Kraft aufzubringen. Es meidet den Kranken wie einen Aussätzigen,<lb/> und fühlt doch bereits in sich die Ansteckung. Es stellt Prognosen, die sich an<lb/> hilflose Analogien klammern, und ist doch weit entfernt, das Übel auch nur zu<lb/> begreifen. Deutschland hat sich in eine faule westeuropäische Solidarität tiefer<lb/> verstrickt, als e3 heute verantworten kann, wo es sich vom übrigen Westen an-<lb/> gespielt sieht. Wir haben uns wie ein Enterbter benommen, der die Rolle des<lb/> Besitzenden noch eine Weile auf schäbigen Pump fortführt. Die schlechtgespiclle<lb/> Rolle kann bei unseren Protagonisten nicht verwundern. Aber schließlich ist ein<lb/> V^'ik auch für die Führung haftbar, die es duldet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1785"> Die Ratlosigkeit des Westens gegenüber der russischen Sphinx beginnt offen¬<lb/> bar zu werden. England unterstützte Judenitsch und Denikin und Koltschak. Aber<lb/> ugend etwas stimmte nicht. Warum halfen englische Schiffsgeschütze den halb-<lb/> bolschewistischen Ullmanis-Letten gegen Needra und die Deutschbalten, denen es<lb/> mit dem Kampf gegen den Bolschewismus wirklich Ernst war? Warum tauchten<lb/> ^gelinäßig organisierte Banden im Rücken der antibolschewistischsn Heere auf und<lb/> 'machten ihre Erfolge zu nichte? Woher hatten diese Banden Waffen und Mnni-<lb/> iu'n V Und wie verantwortet das ritterliche Frankreich, daß es Koltschak in die<lb/> Bazonette seiner meuternden Soldaten lieferte?</p><lb/> <p xml:id="ID_1786"> Auf den Zusammenbruch der Bermondt-Farce, an dem der Westen mit¬<lb/> schuldig ist, f^gte Englands ostentative Schwenkung. In mehreren Anläufen, die<lb/> durch dekorative Reuter-Dementis unterbrochen wurden, schickt England seit dem<lb/> gerbst den natioiral-sozialen Arbeiterführer O'Grady vor, der in Kopenhagen mit<lb/> ^itwinow verhandelt, im Augenblick angeblich nur über Gefangenenaustausch.<lb/> dieser neuesten Beschwichtignngsfloskel spuken die kommenden Parlaments¬<lb/> wahlen vor. Indessen berufen sich Werbeofsiziere der Baltischen Landeswehr, die<lb/> 'hre Versprengten sammeln, auf Äußerungen des Chefs der interalliierten<lb/> Bnltiknm-Kommission, des Generals Niessel, wonach in England und Frankreich<lb/> >ur ein großes Freiwilligenheer gegen den Bolschewismus geworben werde.</p><lb/> <p xml:id="ID_1787"> Aber die Fädelungen durchkreuzen sich zum schier unentwirrbaren Gewebe,<lb/> ^et es französischer Einfluß, der die südlichen Raubstaaten nicht zum Frieden mit<lb/> Sowjet-Rußland kommen läßt, während Finnland und neuerdings auch Estland<lb/> die Anerkennung ihrer Selbständigkeit in Moskau durchgesetzt haben? In der<lb/> ^t ist in Lettland in den letzten Monaten eine kleine Rechtsschwenkung bemerk-<lb/> luh. Polen, dem England zum Frieden mit Nußland rät, scheint von Frankreich<lb/> M Widerstande bestärkt zu werden. Immer wieder konferieren die Raubstaaten<lb/> untereinander, zuletzt in Helsingfors. Klare Ergebnisse werden nicht bekannt,<lb/> widerspruchsvolle Gegeneinflüsse scheinen ein einheitliches Vorgehen zu verhindern.</p><lb/> <p xml:id="ID_1788" next="#ID_1789"> Um Polen bewirbt sich Lenin ganz besonders. Dem Friedensangebot aus<lb/> dem Dezember folgt ein schärfer umrissenes im Januar, ein .Nachtrag weist be-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0201]
Attslioferungsfrage und Gstproblei»
hier weiß ein Volk, daß es moralisch gemordet werden soll und sieht der Ver-
zweiflung unmittelbar ins Gesicht. Diese Wirkung brauchen wir. Wir brauchen
sie drinnen und wir brauchen sie draußen.
Die Wahlverwandtschaft verzweifelnder Völker ist es, die unseren Blick nach
Osten lenkt, wo ein anderes Volk dem Tode irr ins Auge blickt. Das russische
Volk ist seit drei Jahren von der Verzweiflungskrise des Bolschewismus befallen.
Und Europa doktert stümperhaft an ihm herum, ohne zu durchgreifender Hilfe
Geschick und Kraft aufzubringen. Es meidet den Kranken wie einen Aussätzigen,
und fühlt doch bereits in sich die Ansteckung. Es stellt Prognosen, die sich an
hilflose Analogien klammern, und ist doch weit entfernt, das Übel auch nur zu
begreifen. Deutschland hat sich in eine faule westeuropäische Solidarität tiefer
verstrickt, als e3 heute verantworten kann, wo es sich vom übrigen Westen an-
gespielt sieht. Wir haben uns wie ein Enterbter benommen, der die Rolle des
Besitzenden noch eine Weile auf schäbigen Pump fortführt. Die schlechtgespiclle
Rolle kann bei unseren Protagonisten nicht verwundern. Aber schließlich ist ein
V^'ik auch für die Führung haftbar, die es duldet.
Die Ratlosigkeit des Westens gegenüber der russischen Sphinx beginnt offen¬
bar zu werden. England unterstützte Judenitsch und Denikin und Koltschak. Aber
ugend etwas stimmte nicht. Warum halfen englische Schiffsgeschütze den halb-
bolschewistischen Ullmanis-Letten gegen Needra und die Deutschbalten, denen es
mit dem Kampf gegen den Bolschewismus wirklich Ernst war? Warum tauchten
^gelinäßig organisierte Banden im Rücken der antibolschewistischsn Heere auf und
'machten ihre Erfolge zu nichte? Woher hatten diese Banden Waffen und Mnni-
iu'n V Und wie verantwortet das ritterliche Frankreich, daß es Koltschak in die
Bazonette seiner meuternden Soldaten lieferte?
Auf den Zusammenbruch der Bermondt-Farce, an dem der Westen mit¬
schuldig ist, f^gte Englands ostentative Schwenkung. In mehreren Anläufen, die
durch dekorative Reuter-Dementis unterbrochen wurden, schickt England seit dem
gerbst den natioiral-sozialen Arbeiterführer O'Grady vor, der in Kopenhagen mit
^itwinow verhandelt, im Augenblick angeblich nur über Gefangenenaustausch.
dieser neuesten Beschwichtignngsfloskel spuken die kommenden Parlaments¬
wahlen vor. Indessen berufen sich Werbeofsiziere der Baltischen Landeswehr, die
'hre Versprengten sammeln, auf Äußerungen des Chefs der interalliierten
Bnltiknm-Kommission, des Generals Niessel, wonach in England und Frankreich
>ur ein großes Freiwilligenheer gegen den Bolschewismus geworben werde.
Aber die Fädelungen durchkreuzen sich zum schier unentwirrbaren Gewebe,
^et es französischer Einfluß, der die südlichen Raubstaaten nicht zum Frieden mit
Sowjet-Rußland kommen läßt, während Finnland und neuerdings auch Estland
die Anerkennung ihrer Selbständigkeit in Moskau durchgesetzt haben? In der
^t ist in Lettland in den letzten Monaten eine kleine Rechtsschwenkung bemerk-
luh. Polen, dem England zum Frieden mit Nußland rät, scheint von Frankreich
M Widerstande bestärkt zu werden. Immer wieder konferieren die Raubstaaten
untereinander, zuletzt in Helsingfors. Klare Ergebnisse werden nicht bekannt,
widerspruchsvolle Gegeneinflüsse scheinen ein einheitliches Vorgehen zu verhindern.
Um Polen bewirbt sich Lenin ganz besonders. Dem Friedensangebot aus
dem Dezember folgt ein schärfer umrissenes im Januar, ein .Nachtrag weist be-
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