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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Georg Lleinow und die GrenzKoten

ählings unterbrochen -- aber seine Ideen sind gegenwärtig noch frisch und
jung und zukunftsfroh. Was die im Kriege herangereifte Jugend heute als das
ihr eigentümliche Programm verkündet: die aus einer großen Sehnsucht ge¬
borene Forderung: "Heraus aus der Parteischablone, aus Militarismus und
engstirniger Wirtschaftlichkeit" ist nichts als Cleinows Kampfruf, den er un¬
ermüdlich erschallen ließ.

In der Tat! Das politische Denken hatte anarchische Formen an¬
genommen! "Die alten Begriffe konservativ, liberal, demokratisch", so schrieb
Cleinow, "lassen sich zur Bezeichnung einzelner Parteirichtungen oder zum Ver¬
ständnis einer Parteipolitik gar nicht mehr heranziehen; sie sind inhaltlose
Schlagworte geworden, mit denen auf die Masse und auf die gebildete Jugend
eingewirkt wird, um sie dem Gegner abspenstig zu machen. Das Heer der
sozialdemokratischen Wähler setzt sich zu einem großen Teil aus Männern zu¬
sammen, deren Idealismus sich nicht in Magenfragen erschöpft. Umgekehrt
trägt der gerade herrschende Teil der Konservativen Merkmale eines
Materialismus an sich, der bereit ist, alle Tradition über den Haufen zu
werfen, wenn nur an seiner Herrschaft im Lande nicht gerüttelt wird. Neben
diesen Extremen sind die Liberalen in ihrer letzten Entwicklung fast nationale
und partikularistische Chauvinisten, die Wirtschaftskämpfe mit Tradition und
Hurra auskämpfen wollen, und die Nationalisten stecken so tief im demokratischen
Sozialismus, daß sie bereit sind, traditionelle Grundlagen zu opfern, lediglich,
um ein verhältnismäßig naheliegendes Ziel zu erreichen. Selbstverständlich
leben alle in der festen Überzeugung, streng auf dem Boden des Patteidogmas
oder der Parteitradition zu stehen. Selbstverständlich bilden sie sich alle ein,
dem Staat oder der Nation als Ganzem zu dienen, -- die Demokratie und
das Zentrum freilich mit der Speziältugend, die Menschheit zu beglücken."
(Grenzboten 1910, II, Ur. 20)

Diese Veränderung im Bestände sowie in den Zielen der Parteien knüpft
an die Periode der Reichsgründung an und war durch den Zollverein vor¬
bereitet: sie war die Folge des Aufschwungs von Industrie und Handel. Das
Wesentliche dieses Vorganges läßt sich als Zersetzung der alten politischen
Parteien durch Jnteressenverbände bezeichnen. Die ganze Nation hatte sich in
eine unendliche Zahl von kleinen und großen Verbänden mit wirtschaftlichen
Zielen gegliedert, die sich zur politischen Betätigung drängten. Die ausschlag¬
gebenden Persönlichkeiten waren nicht mehr die Parteivorstände, sondern die
Verbandssekretäre. Eine "deutsche Frage", die nicht vorwiegend Wirtschafts¬
frage gewesen wäre, gab es in der amtlichen Politik kaum mehr, obgleich das
Deutsche Reich seine historische Aufgabe, die Einigung aller deutschen Stämme,
nicht erfüllt hatte. Der Materialismus hatte über den deutschen Gedanken ge¬
siegt und aus dem aristokratischen Kulturträger war ein demokratisch empfindender
Staatsbürger geworden, der vom Staat nichts mehr verlangte, als die
Förderung seiner Arbeit.


Georg Lleinow und die GrenzKoten

ählings unterbrochen — aber seine Ideen sind gegenwärtig noch frisch und
jung und zukunftsfroh. Was die im Kriege herangereifte Jugend heute als das
ihr eigentümliche Programm verkündet: die aus einer großen Sehnsucht ge¬
borene Forderung: „Heraus aus der Parteischablone, aus Militarismus und
engstirniger Wirtschaftlichkeit" ist nichts als Cleinows Kampfruf, den er un¬
ermüdlich erschallen ließ.

In der Tat! Das politische Denken hatte anarchische Formen an¬
genommen! „Die alten Begriffe konservativ, liberal, demokratisch", so schrieb
Cleinow, „lassen sich zur Bezeichnung einzelner Parteirichtungen oder zum Ver¬
ständnis einer Parteipolitik gar nicht mehr heranziehen; sie sind inhaltlose
Schlagworte geworden, mit denen auf die Masse und auf die gebildete Jugend
eingewirkt wird, um sie dem Gegner abspenstig zu machen. Das Heer der
sozialdemokratischen Wähler setzt sich zu einem großen Teil aus Männern zu¬
sammen, deren Idealismus sich nicht in Magenfragen erschöpft. Umgekehrt
trägt der gerade herrschende Teil der Konservativen Merkmale eines
Materialismus an sich, der bereit ist, alle Tradition über den Haufen zu
werfen, wenn nur an seiner Herrschaft im Lande nicht gerüttelt wird. Neben
diesen Extremen sind die Liberalen in ihrer letzten Entwicklung fast nationale
und partikularistische Chauvinisten, die Wirtschaftskämpfe mit Tradition und
Hurra auskämpfen wollen, und die Nationalisten stecken so tief im demokratischen
Sozialismus, daß sie bereit sind, traditionelle Grundlagen zu opfern, lediglich,
um ein verhältnismäßig naheliegendes Ziel zu erreichen. Selbstverständlich
leben alle in der festen Überzeugung, streng auf dem Boden des Patteidogmas
oder der Parteitradition zu stehen. Selbstverständlich bilden sie sich alle ein,
dem Staat oder der Nation als Ganzem zu dienen, — die Demokratie und
das Zentrum freilich mit der Speziältugend, die Menschheit zu beglücken."
(Grenzboten 1910, II, Ur. 20)

Diese Veränderung im Bestände sowie in den Zielen der Parteien knüpft
an die Periode der Reichsgründung an und war durch den Zollverein vor¬
bereitet: sie war die Folge des Aufschwungs von Industrie und Handel. Das
Wesentliche dieses Vorganges läßt sich als Zersetzung der alten politischen
Parteien durch Jnteressenverbände bezeichnen. Die ganze Nation hatte sich in
eine unendliche Zahl von kleinen und großen Verbänden mit wirtschaftlichen
Zielen gegliedert, die sich zur politischen Betätigung drängten. Die ausschlag¬
gebenden Persönlichkeiten waren nicht mehr die Parteivorstände, sondern die
Verbandssekretäre. Eine „deutsche Frage", die nicht vorwiegend Wirtschafts¬
frage gewesen wäre, gab es in der amtlichen Politik kaum mehr, obgleich das
Deutsche Reich seine historische Aufgabe, die Einigung aller deutschen Stämme,
nicht erfüllt hatte. Der Materialismus hatte über den deutschen Gedanken ge¬
siegt und aus dem aristokratischen Kulturträger war ein demokratisch empfindender
Staatsbürger geworden, der vom Staat nichts mehr verlangte, als die
Förderung seiner Arbeit.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/18>, abgerufen am 27.07.2024.