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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Neudeutscher Gemeinsinn

kampfgedanken verquickt bleibt und die naturgegebene Vielfalt der Leistungsstufen
auf eine simple Zwieheit von Lohnklassen zurückschraubt, wird ihm nie der Schritt
vom Verzehrer- zum Erzeugersrandpunkt gelingen, den wir als den schlechthin
entscheidenden erkannten. Hier liegt, wie Plenge mit Recht bemerkt hat, der
.Kardinalfehler des Marxismus, der die produktive Leistung des Kapitals völlig
vernachlässigte und in der Mehrwerttheorie einen abwegigen Gedanken der Ertrags¬
verteilung hetzerisch in den Vordergrund rückte. Die "Enteignung ber Enteigner"
bleibt solange ein leeres und dabei verderbliches Schlagwort, bis nicht sowohl
eine Neuverteilung des Arbeitsertrages, als vielmehr der verantwortlichen Führung
gefunden ist, die gleiche oder höhere Produktivität des Gesamtbetriebes psychologisch
und materiell ermöglicht. Auch der Sozialismus soll und muß anerkennen, daß
zu Führung Reife und zu neuen Bindungen Vertrauen gehört. Zwar ist heilte
das Vertrauen zum Unternehmer und seinem obrigkeitlichen Leitungsapparat
geschwunden, zugleich aber schrumpft auch das Zuiraueu zum Gewerkschaftsführer
und zu den eignen Standesorganisationen ein. Der chaotische Zwischenzustand
, einer allseitigen Führungskatastrophe mit seinem durchgehenden Vertrauens¬
schwund bringt unser Gesamtleben in die äußerste Gefahr innerer Zerrüttung und
Zersetzung.

Sehr möglich, daß die augenfällige Proletarisierung der bislang gesellschaftlich
führenden Schichten und damit der äußere Ausgleich der Lebenshaltung erst viel
weiter vorschreiten muß, um die zähen Vorurteile der Massen gegen wirtschaftliche
Bevormundung zu zerstreuen, die.heute noch die wirtschaftliche Solidarität der
horizontal gelagerten Berufsschichten verhindern. Der Stand der neuen Armen,
zu dem die Intelligenz einstweilen immer mehr wird, ist ein Element sozialer
Einebnung, das vielleicht den Boden einer wirklichen Neuauswägung der Verant¬
wortlichkeit im Wirtschaftsprozeß vorbereitet. Vertikale Standesabgrenzungen
werden in Zukunft den sozialen Rahmen für ein Neudeutschtum abgeben, das
einen produktiven Gemeinsinn zur Wirklichkeit machen und in ihm die größte
individuelle Leistung bei angemessen gestufter Entlohnung ermöglichen soll. Damit
wäre die Frage intensivster Nutzung der Einzelkräfte für die breiteste Gesamt¬
leistung auf dem sozialen Gebiet gelöst. Es ist das wichtigste Gebiet, weil die
Neuordnung sozialer Auslese und Einfügung der Begabungen auch die rationellste
Nutzung der Materialien, also die höchstwertige Qualität der Leistung, verbürgt

Die Einstellung auf kühle Sachlichkeit, die dein neudeutschen Leistungs-
Menschentum eigen ist, verbietet eine^schematischs Anähnelung der verschiedenen
Produktionsgebiete, wie etwa der Industrie und der Landwirtschaft'). Der
organische Fortschritt, der überall taktischer Grundsatz ist, verlangt Hineinwachsen
aller Stände in den neuen Geist nach den Gesetzen, die ihnen eigen sind, verlangt
genügende Weittnaschigkeit des Systems, um soziale Differenzierung im Interesse
der Leistung gewähren zu lassen. Höchste Anspannung der Leistungsfähigkeit
bleibt nirgends erspart, Intensivierung setzt sich überall durch. Tüchtigkeit soll
die Auslese regeln, jedem Einzelnen in Stadt und Land der Platz zugänglich
werden, den er nach Leistung und Stellung im Interesse des Volksganzen höchst¬
wertig auszufüllen vermag. Mechanisch-sachhasie werden sich mit organisch-



') Vgl. meinen Aussatz Siade und Land in Ur. 4 der Grenzbvtei-
Neudeutscher Gemeinsinn

kampfgedanken verquickt bleibt und die naturgegebene Vielfalt der Leistungsstufen
auf eine simple Zwieheit von Lohnklassen zurückschraubt, wird ihm nie der Schritt
vom Verzehrer- zum Erzeugersrandpunkt gelingen, den wir als den schlechthin
entscheidenden erkannten. Hier liegt, wie Plenge mit Recht bemerkt hat, der
.Kardinalfehler des Marxismus, der die produktive Leistung des Kapitals völlig
vernachlässigte und in der Mehrwerttheorie einen abwegigen Gedanken der Ertrags¬
verteilung hetzerisch in den Vordergrund rückte. Die „Enteignung ber Enteigner"
bleibt solange ein leeres und dabei verderbliches Schlagwort, bis nicht sowohl
eine Neuverteilung des Arbeitsertrages, als vielmehr der verantwortlichen Führung
gefunden ist, die gleiche oder höhere Produktivität des Gesamtbetriebes psychologisch
und materiell ermöglicht. Auch der Sozialismus soll und muß anerkennen, daß
zu Führung Reife und zu neuen Bindungen Vertrauen gehört. Zwar ist heilte
das Vertrauen zum Unternehmer und seinem obrigkeitlichen Leitungsapparat
geschwunden, zugleich aber schrumpft auch das Zuiraueu zum Gewerkschaftsführer
und zu den eignen Standesorganisationen ein. Der chaotische Zwischenzustand
, einer allseitigen Führungskatastrophe mit seinem durchgehenden Vertrauens¬
schwund bringt unser Gesamtleben in die äußerste Gefahr innerer Zerrüttung und
Zersetzung.

Sehr möglich, daß die augenfällige Proletarisierung der bislang gesellschaftlich
führenden Schichten und damit der äußere Ausgleich der Lebenshaltung erst viel
weiter vorschreiten muß, um die zähen Vorurteile der Massen gegen wirtschaftliche
Bevormundung zu zerstreuen, die.heute noch die wirtschaftliche Solidarität der
horizontal gelagerten Berufsschichten verhindern. Der Stand der neuen Armen,
zu dem die Intelligenz einstweilen immer mehr wird, ist ein Element sozialer
Einebnung, das vielleicht den Boden einer wirklichen Neuauswägung der Verant¬
wortlichkeit im Wirtschaftsprozeß vorbereitet. Vertikale Standesabgrenzungen
werden in Zukunft den sozialen Rahmen für ein Neudeutschtum abgeben, das
einen produktiven Gemeinsinn zur Wirklichkeit machen und in ihm die größte
individuelle Leistung bei angemessen gestufter Entlohnung ermöglichen soll. Damit
wäre die Frage intensivster Nutzung der Einzelkräfte für die breiteste Gesamt¬
leistung auf dem sozialen Gebiet gelöst. Es ist das wichtigste Gebiet, weil die
Neuordnung sozialer Auslese und Einfügung der Begabungen auch die rationellste
Nutzung der Materialien, also die höchstwertige Qualität der Leistung, verbürgt

Die Einstellung auf kühle Sachlichkeit, die dein neudeutschen Leistungs-
Menschentum eigen ist, verbietet eine^schematischs Anähnelung der verschiedenen
Produktionsgebiete, wie etwa der Industrie und der Landwirtschaft'). Der
organische Fortschritt, der überall taktischer Grundsatz ist, verlangt Hineinwachsen
aller Stände in den neuen Geist nach den Gesetzen, die ihnen eigen sind, verlangt
genügende Weittnaschigkeit des Systems, um soziale Differenzierung im Interesse
der Leistung gewähren zu lassen. Höchste Anspannung der Leistungsfähigkeit
bleibt nirgends erspart, Intensivierung setzt sich überall durch. Tüchtigkeit soll
die Auslese regeln, jedem Einzelnen in Stadt und Land der Platz zugänglich
werden, den er nach Leistung und Stellung im Interesse des Volksganzen höchst¬
wertig auszufüllen vermag. Mechanisch-sachhasie werden sich mit organisch-



') Vgl. meinen Aussatz Siade und Land in Ur. 4 der Grenzbvtei-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/152>, abgerufen am 22.12.2024.