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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr.

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Otto Braun

objektivieren begriff, ließ ihm vielleicht die Form dieser Gedankengebungen als
noch zu persönlich scheinen. Dennoch müssen wir der verehrungswürdigen Frau,
die ihm von der sterbenden Mutter als mütterliche Freundin bestellt wurde, von
Herzen dafür danken, daß sie aus der Fülle des literarischen Nachlasses diese
Blätter herausgehoben und sie in vier Abschnitte (Aus Tagebüchern des Ncun-
bis Dreizehnjährigen, -- des Vierzehn- bis siebzehnjährigen, -- des Siebzehn-
bis Zwanzigjährigen, -- Gedichte) gegliedert hat. Jedem dieser Abschnitte hat
sie wundervolle einleitende Worte von äußerster, dabei das Menschliche des
Verfassers erschöpfender Knappheit und Sachlichkeit vorangestellt.

Die allgemeinste Form der durch diese Blätter dokumentierten Entwicklung
ist die bereits angedeutete ständig fortschreitende Dialektik der Persönlichkeit und
der gegenständlichen Werte. Die werdende Seele des Knaben und Jünglings
wird durch die unerschöpflich zuströmenden und rein aufgefaßten Natur- und
Bildungserlebnisse aufgebaut und genährt, sie wächst, indem sie sich das Äußere
assimiliert, und findet in ihrem Wachstum, in fortschreitender Bewußtwerdung
ständig neue Aufgaben, ständig neue Kräfte, sie zu lösen, und Substrate, auf die
die geistige Arbeit sich fruchtbar zu beziehen vermag. Die reichste Lebenswelt tut
sich vor uns auf: von der bildenden Liebe der Eltern, denen er in unwandelbarer,
herzlichster Liebe zugetan ist, und von sorgfältiger Erziehung geführt, erschließen
sich ihm drei Welten, die er rastlos durchforscht: die Natur, die bildende und
dichtende Kunst und die Geschichte. Eine Reihe schöner Zeugnisse eigenen dichte¬
rischen Vermögens sind dem Buche beigefügt. Es ist die Welt Hölderlins und
seine Gestalten, die die Phantasie und das rhythmische Gefühl des Jünglings
anziehen. Dabei gelingt ihm eine von Konvention ganz freie, persönliche, wenn
auch noch nicht neuschöpferische Sprache. Späteren Gestaltungen gelingt auch
dies: man lese "Erinnerung an Dresden" Seite 247. Terzinen, in denen der
bestimmte und eigenartige Stil dieser Stadt und ihrer Denkmäler zu restloser und
adäquater Versgestaltung gebracht ist: man lese die prachtvollen Worte des Eros
an Psyche, Seite 290 unten u. f., deren köstliche Reife dem kaum Sechszehn¬
jährigen gelungen ist.

Dennoch beweist die in den Tagebüchern und Briefen bezeichnete geistige
Entwicklung, daß seine eigentlichen Wirkungsmöglichkeiten nicht so sehr in der
freien künstlerischen, als vielmehr in der gegenstandsgebundenen wissenschaftlichen
Tätigkeit lagen. Man verfolge, wie der Zwölf- und Dreizehnjährige in strengster
Konzentration an Hand der Quellen die ältere deutsche Literaturgeschichte durch¬
arbeitet, wie er daran später, nach Jahren intensivster, dabei planvollster und
fruchtbarster geistiger Arbeit neben seinem neuen soldatischen Beruf, dem er sich
sogleich bei Kriegsbeginn widmet, mit gleichbleibender Energie weiter zu lernen
und zu forschen bemüht ist. Die Gegenstände wandeln sich: er sucht seiner
praktischen Tätigkeit als Soldat, bald als Offizier, dem von Kameraden das
höchste unbedingteste Lob gespendet wird, den breitesten theoretischen Unterbau
durch militärisch-technische, strategische und politische Studien zu geben. Diese
einzigartige Verbindung von soldatischer Zucht und geistiger, oder, um es genauer
zu bezeichnen: humanistischer Innerlichkeit, spiegelt sich in der schönen Photo-
graphie des siebzehnjährigen Soldaten, die neben das Titelblatt gestellt ist. (Wir
würden der Herausgeberin dankbar sein, wenn wir in neuen Auflagen des Werkes
ein Bildnis, das Otto Braun ohne Helm darstellt, finden würden.)


Otto Braun

objektivieren begriff, ließ ihm vielleicht die Form dieser Gedankengebungen als
noch zu persönlich scheinen. Dennoch müssen wir der verehrungswürdigen Frau,
die ihm von der sterbenden Mutter als mütterliche Freundin bestellt wurde, von
Herzen dafür danken, daß sie aus der Fülle des literarischen Nachlasses diese
Blätter herausgehoben und sie in vier Abschnitte (Aus Tagebüchern des Ncun-
bis Dreizehnjährigen, — des Vierzehn- bis siebzehnjährigen, — des Siebzehn-
bis Zwanzigjährigen, — Gedichte) gegliedert hat. Jedem dieser Abschnitte hat
sie wundervolle einleitende Worte von äußerster, dabei das Menschliche des
Verfassers erschöpfender Knappheit und Sachlichkeit vorangestellt.

Die allgemeinste Form der durch diese Blätter dokumentierten Entwicklung
ist die bereits angedeutete ständig fortschreitende Dialektik der Persönlichkeit und
der gegenständlichen Werte. Die werdende Seele des Knaben und Jünglings
wird durch die unerschöpflich zuströmenden und rein aufgefaßten Natur- und
Bildungserlebnisse aufgebaut und genährt, sie wächst, indem sie sich das Äußere
assimiliert, und findet in ihrem Wachstum, in fortschreitender Bewußtwerdung
ständig neue Aufgaben, ständig neue Kräfte, sie zu lösen, und Substrate, auf die
die geistige Arbeit sich fruchtbar zu beziehen vermag. Die reichste Lebenswelt tut
sich vor uns auf: von der bildenden Liebe der Eltern, denen er in unwandelbarer,
herzlichster Liebe zugetan ist, und von sorgfältiger Erziehung geführt, erschließen
sich ihm drei Welten, die er rastlos durchforscht: die Natur, die bildende und
dichtende Kunst und die Geschichte. Eine Reihe schöner Zeugnisse eigenen dichte¬
rischen Vermögens sind dem Buche beigefügt. Es ist die Welt Hölderlins und
seine Gestalten, die die Phantasie und das rhythmische Gefühl des Jünglings
anziehen. Dabei gelingt ihm eine von Konvention ganz freie, persönliche, wenn
auch noch nicht neuschöpferische Sprache. Späteren Gestaltungen gelingt auch
dies: man lese „Erinnerung an Dresden" Seite 247. Terzinen, in denen der
bestimmte und eigenartige Stil dieser Stadt und ihrer Denkmäler zu restloser und
adäquater Versgestaltung gebracht ist: man lese die prachtvollen Worte des Eros
an Psyche, Seite 290 unten u. f., deren köstliche Reife dem kaum Sechszehn¬
jährigen gelungen ist.

Dennoch beweist die in den Tagebüchern und Briefen bezeichnete geistige
Entwicklung, daß seine eigentlichen Wirkungsmöglichkeiten nicht so sehr in der
freien künstlerischen, als vielmehr in der gegenstandsgebundenen wissenschaftlichen
Tätigkeit lagen. Man verfolge, wie der Zwölf- und Dreizehnjährige in strengster
Konzentration an Hand der Quellen die ältere deutsche Literaturgeschichte durch¬
arbeitet, wie er daran später, nach Jahren intensivster, dabei planvollster und
fruchtbarster geistiger Arbeit neben seinem neuen soldatischen Beruf, dem er sich
sogleich bei Kriegsbeginn widmet, mit gleichbleibender Energie weiter zu lernen
und zu forschen bemüht ist. Die Gegenstände wandeln sich: er sucht seiner
praktischen Tätigkeit als Soldat, bald als Offizier, dem von Kameraden das
höchste unbedingteste Lob gespendet wird, den breitesten theoretischen Unterbau
durch militärisch-technische, strategische und politische Studien zu geben. Diese
einzigartige Verbindung von soldatischer Zucht und geistiger, oder, um es genauer
zu bezeichnen: humanistischer Innerlichkeit, spiegelt sich in der schönen Photo-
graphie des siebzehnjährigen Soldaten, die neben das Titelblatt gestellt ist. (Wir
würden der Herausgeberin dankbar sein, wenn wir in neuen Auflagen des Werkes
ein Bildnis, das Otto Braun ohne Helm darstellt, finden würden.)


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[0100] Otto Braun objektivieren begriff, ließ ihm vielleicht die Form dieser Gedankengebungen als noch zu persönlich scheinen. Dennoch müssen wir der verehrungswürdigen Frau, die ihm von der sterbenden Mutter als mütterliche Freundin bestellt wurde, von Herzen dafür danken, daß sie aus der Fülle des literarischen Nachlasses diese Blätter herausgehoben und sie in vier Abschnitte (Aus Tagebüchern des Ncun- bis Dreizehnjährigen, — des Vierzehn- bis siebzehnjährigen, — des Siebzehn- bis Zwanzigjährigen, — Gedichte) gegliedert hat. Jedem dieser Abschnitte hat sie wundervolle einleitende Worte von äußerster, dabei das Menschliche des Verfassers erschöpfender Knappheit und Sachlichkeit vorangestellt. Die allgemeinste Form der durch diese Blätter dokumentierten Entwicklung ist die bereits angedeutete ständig fortschreitende Dialektik der Persönlichkeit und der gegenständlichen Werte. Die werdende Seele des Knaben und Jünglings wird durch die unerschöpflich zuströmenden und rein aufgefaßten Natur- und Bildungserlebnisse aufgebaut und genährt, sie wächst, indem sie sich das Äußere assimiliert, und findet in ihrem Wachstum, in fortschreitender Bewußtwerdung ständig neue Aufgaben, ständig neue Kräfte, sie zu lösen, und Substrate, auf die die geistige Arbeit sich fruchtbar zu beziehen vermag. Die reichste Lebenswelt tut sich vor uns auf: von der bildenden Liebe der Eltern, denen er in unwandelbarer, herzlichster Liebe zugetan ist, und von sorgfältiger Erziehung geführt, erschließen sich ihm drei Welten, die er rastlos durchforscht: die Natur, die bildende und dichtende Kunst und die Geschichte. Eine Reihe schöner Zeugnisse eigenen dichte¬ rischen Vermögens sind dem Buche beigefügt. Es ist die Welt Hölderlins und seine Gestalten, die die Phantasie und das rhythmische Gefühl des Jünglings anziehen. Dabei gelingt ihm eine von Konvention ganz freie, persönliche, wenn auch noch nicht neuschöpferische Sprache. Späteren Gestaltungen gelingt auch dies: man lese „Erinnerung an Dresden" Seite 247. Terzinen, in denen der bestimmte und eigenartige Stil dieser Stadt und ihrer Denkmäler zu restloser und adäquater Versgestaltung gebracht ist: man lese die prachtvollen Worte des Eros an Psyche, Seite 290 unten u. f., deren köstliche Reife dem kaum Sechszehn¬ jährigen gelungen ist. Dennoch beweist die in den Tagebüchern und Briefen bezeichnete geistige Entwicklung, daß seine eigentlichen Wirkungsmöglichkeiten nicht so sehr in der freien künstlerischen, als vielmehr in der gegenstandsgebundenen wissenschaftlichen Tätigkeit lagen. Man verfolge, wie der Zwölf- und Dreizehnjährige in strengster Konzentration an Hand der Quellen die ältere deutsche Literaturgeschichte durch¬ arbeitet, wie er daran später, nach Jahren intensivster, dabei planvollster und fruchtbarster geistiger Arbeit neben seinem neuen soldatischen Beruf, dem er sich sogleich bei Kriegsbeginn widmet, mit gleichbleibender Energie weiter zu lernen und zu forschen bemüht ist. Die Gegenstände wandeln sich: er sucht seiner praktischen Tätigkeit als Soldat, bald als Offizier, dem von Kameraden das höchste unbedingteste Lob gespendet wird, den breitesten theoretischen Unterbau durch militärisch-technische, strategische und politische Studien zu geben. Diese einzigartige Verbindung von soldatischer Zucht und geistiger, oder, um es genauer zu bezeichnen: humanistischer Innerlichkeit, spiegelt sich in der schönen Photo- graphie des siebzehnjährigen Soldaten, die neben das Titelblatt gestellt ist. (Wir würden der Herausgeberin dankbar sein, wenn wir in neuen Auflagen des Werkes ein Bildnis, das Otto Braun ohne Helm darstellt, finden würden.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_336844/100>, abgerufen am 22.12.2024.