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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.

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können, von drei Ententemächten ratifiziert sein muß, fing man an' sich, trotzdem der
"Temps" flehenden Einspruch erhob, mit dem Gedanken vertraut zu machen, dasz
im Notfalle auch Italien als dritter Ratifikant herhalten könnte, und war infolge¬
dessen geneigt, die italienischen Ansprüche auf Fiume mit freundlicheren Augen
anzusehen. Gern tat man das in Frankreich nicht, da man noch immer auf
engen Zusammenschluß mit Amerika hofft (dem der "Temps" sogar französische
Unterstützung in Ostosien anbot), und es daher vermeiden möchte, Wilson blo߬
zustellen, eine Rücksicht, die England, das den Völkerbund nicht mehr braucht und
dessen Einfluß angesichts der in den Senatsverhandlungen zutage getretenen
amerikanisch englischen Rivalität um die Weltherrschaft wegen Irland, Persien
und Ägypten eher fürchtet, kaum mehr nötig zu haben glaubt. Man einigte sich
aber in Clairfontaine darauf, daß Italiens Mandat über Albanien, sein Anspruch
auf Valona anerkannt werden sollten. Die Meerenge von Korfu sollte neutralisiert
werden -- ein alter englischer Wunsch --, Zara sollte Freistadt, Dalmatien süd¬
slawisch werden. Fiume sollte italienisch sein, sein Hafen und seine Eisenbahn
ins Hinterland jedoch dem Völkerbund unterstellt werden. Das war eine Lösung,
die Tittoni, wenn auch nicht für absolut befriedigend, doch, da sie genügende
Garantie für ein italienisches Übergewicht im adriatischen Meer bot, für aus¬
reichend hielt. Es blieb nur noch übrig, die Zustimmung des auf seiner Prvpa-
gandcireise begriffenen Wilson einzuholen, ohne die weder England noch Frankreich
sich binden wollten (wobei es allerdings dahingestellt bleiben muß, ob man von
seiten der Westmächte die Verantwortung für die Nichtbefriedigung der italienischen
Ansprüche nicht einfach von sich ab- und Wilson zuschieben wollte).
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Dies war im Gange als dAnnunzio der Entwicklung Vorgriff und Fiume
eigenmächtig für Italien annektierte. Er tat damit nichts anderes, als was der
General Haller den Ukrainern, die Rumänen Ungarn gegenüber getan hatten.
Was die Lage komplizierte, war nur, daß hinter diesen der ganze Staat stand,
hinter d'Annunzio anscheinend nur ein paar Freiwillige, und ein paar natio¬
nalistische Gruppen, ja daß die Regierung des eigenen Staates sich gegen ihn
erklärte. Was hätte sie anders tun können? Bereits durch den Fall des
Kabinetts Orlando war erwiesen worden, daß eine Brüskieruug der Friedens¬
konferenz, ein eigenmächtiges Vorgehen Italiens nicht möglich war. Die
Drohung Wilsons im Falle vorgreifender Besetzung Fmmes durch Italien keine
Schiffe (also auch keine Lebensmittel) schicken zu wollen, klang dem eifrig mit
dem Wiederaufbau des noch immer von Streiks und Bolschewismus (eigen¬
mächtiger Landbereicherung durch die Bauern Apuliens!) erschütterten Landes
eindringlich in den Ohren, er sah das Land aufs neue dem Hunger, der ohne
amerikanische Hilfe untilgbaren Schuldenlast und dem wirtschaftlichen Ruin preis¬
gegeben. Allerdings ist schwer begreiflich, wie d'Annunzio seinen Plan, der der
Regierung nach "Avcmti" schon im Juli bekannt gewesen sein muß, hat durch¬
führen können, ohne daß die Negierung etwas merkte. Aber an der
Ehrlichkeit von Nittis Abschüttelungserklärung kann trotzdem kaum gezweifelt
werden, man muß eben berücksichtigen, daß die Stellung des Kabinetts Riedl nie
so fest gewesen ist, als daß es nicht jeden Zusammenstoß mit nationalistischen
Kreisen tunlichst hätte vermieden sehen wollen. Möglich, daß sie im
ehrlichen Bestreben, das unbedingt Beste des Landes zu wollen und den sichersten
Weg zu gehen, die Imponderabilien falsch eingeschätzt hat, möglich auch, daß gerade
der unglückselige Gedanke der Engländer, in Fiume Polizeisoldaten aus Malta
zu verwenden, also Italiener gegen Italien zu stellen, für d'Annunzios sofortige?
Handeln den Ausschlag gegeben hat, jedenfalls fiel die Regierung, im Bestreben
die Scylla zu vermeiden, sogleich in die Karybdis: es zeigte sich auf einmal, daß
sie das Heer nicht mehr hinter sich hatte, dessen man andererseits bedürfte, um
der inneren Unruhen Herr werden zu können. Das Heer lief entweder zu dem
rasch zum Nationalhelden gewordenen Dichter über, oder weigerte sich gegen ihn
zu marschieren, und auch die Zeitungen, die sich zunächst abwartend verhalten
hatten, mußten, wahrscheinlich unter dem Druck der schnell erregten öffentlichen


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können, von drei Ententemächten ratifiziert sein muß, fing man an' sich, trotzdem der
„Temps" flehenden Einspruch erhob, mit dem Gedanken vertraut zu machen, dasz
im Notfalle auch Italien als dritter Ratifikant herhalten könnte, und war infolge¬
dessen geneigt, die italienischen Ansprüche auf Fiume mit freundlicheren Augen
anzusehen. Gern tat man das in Frankreich nicht, da man noch immer auf
engen Zusammenschluß mit Amerika hofft (dem der „Temps" sogar französische
Unterstützung in Ostosien anbot), und es daher vermeiden möchte, Wilson blo߬
zustellen, eine Rücksicht, die England, das den Völkerbund nicht mehr braucht und
dessen Einfluß angesichts der in den Senatsverhandlungen zutage getretenen
amerikanisch englischen Rivalität um die Weltherrschaft wegen Irland, Persien
und Ägypten eher fürchtet, kaum mehr nötig zu haben glaubt. Man einigte sich
aber in Clairfontaine darauf, daß Italiens Mandat über Albanien, sein Anspruch
auf Valona anerkannt werden sollten. Die Meerenge von Korfu sollte neutralisiert
werden — ein alter englischer Wunsch —, Zara sollte Freistadt, Dalmatien süd¬
slawisch werden. Fiume sollte italienisch sein, sein Hafen und seine Eisenbahn
ins Hinterland jedoch dem Völkerbund unterstellt werden. Das war eine Lösung,
die Tittoni, wenn auch nicht für absolut befriedigend, doch, da sie genügende
Garantie für ein italienisches Übergewicht im adriatischen Meer bot, für aus¬
reichend hielt. Es blieb nur noch übrig, die Zustimmung des auf seiner Prvpa-
gandcireise begriffenen Wilson einzuholen, ohne die weder England noch Frankreich
sich binden wollten (wobei es allerdings dahingestellt bleiben muß, ob man von
seiten der Westmächte die Verantwortung für die Nichtbefriedigung der italienischen
Ansprüche nicht einfach von sich ab- und Wilson zuschieben wollte).
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Dies war im Gange als dAnnunzio der Entwicklung Vorgriff und Fiume
eigenmächtig für Italien annektierte. Er tat damit nichts anderes, als was der
General Haller den Ukrainern, die Rumänen Ungarn gegenüber getan hatten.
Was die Lage komplizierte, war nur, daß hinter diesen der ganze Staat stand,
hinter d'Annunzio anscheinend nur ein paar Freiwillige, und ein paar natio¬
nalistische Gruppen, ja daß die Regierung des eigenen Staates sich gegen ihn
erklärte. Was hätte sie anders tun können? Bereits durch den Fall des
Kabinetts Orlando war erwiesen worden, daß eine Brüskieruug der Friedens¬
konferenz, ein eigenmächtiges Vorgehen Italiens nicht möglich war. Die
Drohung Wilsons im Falle vorgreifender Besetzung Fmmes durch Italien keine
Schiffe (also auch keine Lebensmittel) schicken zu wollen, klang dem eifrig mit
dem Wiederaufbau des noch immer von Streiks und Bolschewismus (eigen¬
mächtiger Landbereicherung durch die Bauern Apuliens!) erschütterten Landes
eindringlich in den Ohren, er sah das Land aufs neue dem Hunger, der ohne
amerikanische Hilfe untilgbaren Schuldenlast und dem wirtschaftlichen Ruin preis¬
gegeben. Allerdings ist schwer begreiflich, wie d'Annunzio seinen Plan, der der
Regierung nach „Avcmti" schon im Juli bekannt gewesen sein muß, hat durch¬
führen können, ohne daß die Negierung etwas merkte. Aber an der
Ehrlichkeit von Nittis Abschüttelungserklärung kann trotzdem kaum gezweifelt
werden, man muß eben berücksichtigen, daß die Stellung des Kabinetts Riedl nie
so fest gewesen ist, als daß es nicht jeden Zusammenstoß mit nationalistischen
Kreisen tunlichst hätte vermieden sehen wollen. Möglich, daß sie im
ehrlichen Bestreben, das unbedingt Beste des Landes zu wollen und den sichersten
Weg zu gehen, die Imponderabilien falsch eingeschätzt hat, möglich auch, daß gerade
der unglückselige Gedanke der Engländer, in Fiume Polizeisoldaten aus Malta
zu verwenden, also Italiener gegen Italien zu stellen, für d'Annunzios sofortige?
Handeln den Ausschlag gegeben hat, jedenfalls fiel die Regierung, im Bestreben
die Scylla zu vermeiden, sogleich in die Karybdis: es zeigte sich auf einmal, daß
sie das Heer nicht mehr hinter sich hatte, dessen man andererseits bedürfte, um
der inneren Unruhen Herr werden zu können. Das Heer lief entweder zu dem
rasch zum Nationalhelden gewordenen Dichter über, oder weigerte sich gegen ihn
zu marschieren, und auch die Zeitungen, die sich zunächst abwartend verhalten
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[0076] Fiume können, von drei Ententemächten ratifiziert sein muß, fing man an' sich, trotzdem der „Temps" flehenden Einspruch erhob, mit dem Gedanken vertraut zu machen, dasz im Notfalle auch Italien als dritter Ratifikant herhalten könnte, und war infolge¬ dessen geneigt, die italienischen Ansprüche auf Fiume mit freundlicheren Augen anzusehen. Gern tat man das in Frankreich nicht, da man noch immer auf engen Zusammenschluß mit Amerika hofft (dem der „Temps" sogar französische Unterstützung in Ostosien anbot), und es daher vermeiden möchte, Wilson blo߬ zustellen, eine Rücksicht, die England, das den Völkerbund nicht mehr braucht und dessen Einfluß angesichts der in den Senatsverhandlungen zutage getretenen amerikanisch englischen Rivalität um die Weltherrschaft wegen Irland, Persien und Ägypten eher fürchtet, kaum mehr nötig zu haben glaubt. Man einigte sich aber in Clairfontaine darauf, daß Italiens Mandat über Albanien, sein Anspruch auf Valona anerkannt werden sollten. Die Meerenge von Korfu sollte neutralisiert werden — ein alter englischer Wunsch —, Zara sollte Freistadt, Dalmatien süd¬ slawisch werden. Fiume sollte italienisch sein, sein Hafen und seine Eisenbahn ins Hinterland jedoch dem Völkerbund unterstellt werden. Das war eine Lösung, die Tittoni, wenn auch nicht für absolut befriedigend, doch, da sie genügende Garantie für ein italienisches Übergewicht im adriatischen Meer bot, für aus¬ reichend hielt. Es blieb nur noch übrig, die Zustimmung des auf seiner Prvpa- gandcireise begriffenen Wilson einzuholen, ohne die weder England noch Frankreich sich binden wollten (wobei es allerdings dahingestellt bleiben muß, ob man von seiten der Westmächte die Verantwortung für die Nichtbefriedigung der italienischen Ansprüche nicht einfach von sich ab- und Wilson zuschieben wollte). ' Dies war im Gange als dAnnunzio der Entwicklung Vorgriff und Fiume eigenmächtig für Italien annektierte. Er tat damit nichts anderes, als was der General Haller den Ukrainern, die Rumänen Ungarn gegenüber getan hatten. Was die Lage komplizierte, war nur, daß hinter diesen der ganze Staat stand, hinter d'Annunzio anscheinend nur ein paar Freiwillige, und ein paar natio¬ nalistische Gruppen, ja daß die Regierung des eigenen Staates sich gegen ihn erklärte. Was hätte sie anders tun können? Bereits durch den Fall des Kabinetts Orlando war erwiesen worden, daß eine Brüskieruug der Friedens¬ konferenz, ein eigenmächtiges Vorgehen Italiens nicht möglich war. Die Drohung Wilsons im Falle vorgreifender Besetzung Fmmes durch Italien keine Schiffe (also auch keine Lebensmittel) schicken zu wollen, klang dem eifrig mit dem Wiederaufbau des noch immer von Streiks und Bolschewismus (eigen¬ mächtiger Landbereicherung durch die Bauern Apuliens!) erschütterten Landes eindringlich in den Ohren, er sah das Land aufs neue dem Hunger, der ohne amerikanische Hilfe untilgbaren Schuldenlast und dem wirtschaftlichen Ruin preis¬ gegeben. Allerdings ist schwer begreiflich, wie d'Annunzio seinen Plan, der der Regierung nach „Avcmti" schon im Juli bekannt gewesen sein muß, hat durch¬ führen können, ohne daß die Negierung etwas merkte. Aber an der Ehrlichkeit von Nittis Abschüttelungserklärung kann trotzdem kaum gezweifelt werden, man muß eben berücksichtigen, daß die Stellung des Kabinetts Riedl nie so fest gewesen ist, als daß es nicht jeden Zusammenstoß mit nationalistischen Kreisen tunlichst hätte vermieden sehen wollen. Möglich, daß sie im ehrlichen Bestreben, das unbedingt Beste des Landes zu wollen und den sichersten Weg zu gehen, die Imponderabilien falsch eingeschätzt hat, möglich auch, daß gerade der unglückselige Gedanke der Engländer, in Fiume Polizeisoldaten aus Malta zu verwenden, also Italiener gegen Italien zu stellen, für d'Annunzios sofortige? Handeln den Ausschlag gegeben hat, jedenfalls fiel die Regierung, im Bestreben die Scylla zu vermeiden, sogleich in die Karybdis: es zeigte sich auf einmal, daß sie das Heer nicht mehr hinter sich hatte, dessen man andererseits bedürfte, um der inneren Unruhen Herr werden zu können. Das Heer lief entweder zu dem rasch zum Nationalhelden gewordenen Dichter über, oder weigerte sich gegen ihn zu marschieren, und auch die Zeitungen, die sich zunächst abwartend verhalten hatten, mußten, wahrscheinlich unter dem Druck der schnell erregten öffentlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289/76>, abgerufen am 15.01.2025.