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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.

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Inhalt: Materialien zur ostdeutschen Frage: Die ernste Lage Polens -- Aus den deutschen
Volksräten -- P-essestiiuuien: Polnische Presse -- Kleine Mitteilungen.


Materialien zur ostdeutschen Frage

Die ernste Lage Polens
i.

Die Nachrichten, die in den letzten Tagen aus dem polnischen Reiche
kommen, lauten ernst, sehr ernst. Noch ist in Polen nichts vorhanden, was den
Staat erst zum Staat macht, noch ist kein fester Unterbau gebildet, auf dem die
ganze Staatsmaschinerie errichtet werden könnte, und schon wankt und schwankt
das Gebilde, das man heute polnisches Reich nennt. Die polnische Presse der
letzten Tage läßt, obgleich sie sich bei der von ihr früher nicht gewohnten frei¬
mütiger Beurteilung der Vorgänge und Verhältnisse in .Kongreßpolen sicherlich
noch Zurückhaltung auferlegt, doch klar erkennen, daß sich das junge polnische
Staatswesen in schwerster Gefahr befindet, daß es vor dem Chaos steht. Mit
den Nachrichten und Andeutungen der polnischen Presse über die verworrenen
Zustände in Kongreszpolen stimmen auch die Meldungen und Schilderungen
überein, die wir selbst auf dem Umwege über neutrale Länder erhalten haben.
Danach führt die Entwicklung der Dinge in Polen nicht zur Konsolidierung,
sondern scharf abwärts, zum Niedergang. Von einsichtsvollen Polen hört
man sehr pessimistische Urteile, jeder berichtet über Mißstände, Unehrlichkeit
in der Verwaltung, Verschwendung, Unfähigkeit, Postenjägerei und Korruption
in allen Spielarten. Daß in diesen Meldungen nichts übertrieben ist, beweist auch
in unserem Gebiet die polnische Presse selbst, der man nachrühmen kann, daß
sie mit ihrer Kritik über die skandalösen Zustände nicht hinter den Berg hält.

Die Lebensmittelnöt, hervorgerufen durch schlechte Verteilung, verfehlte
Maßnahmen und vor allem durch Korruption und Schleichhandel, ist in einzelnen
Teilen Kongreßpolens ins Unerträgliche, ja bis zu Hungersnot gestiegen. Die
Arbeitslosigkeit wird immer größer; bis zum 1. September hat das Arbeits-
minister-inen 126 Millionen Mark Arbeitslosenunterstützung bezahlt. Die Kohlennot
übertrifft die deutsche um ein Vielfaches. Die Finanzverhältnisse sind zerrüttet,
die polnische Valuta steht tief unter der deutschen. Die Bildung einer arbeits¬
fähigen Regierung kam: nicht zustande kommen, jeder Tag bringt neue Namen,
das Kabinett ist in fortwährender Um- und Neubildung begriffen. Dieser Tage
wurde sogar Paderewskis Rücktritt angekündigt, kurz darauf aber von Paris aus
wieder dementiert.

^ Dazu Krieg an allen Grenzen I "800000 Mann stehen", so erklärte eben
Paderewski in Paris, "unter Waffen, es können noch 400000 einberufen werden.
Aber diese Truppen sind schlecht bewaffnet, schlecht ausgerüstet; sie gehen ohne
Uniformen barfuß in den Kampf. Wenn man uns helfen würde, wäre die Karte
Europas bald verändert."


Mitteilungen 31
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Inhalt: Materialien zur ostdeutschen Frage: Die ernste Lage Polens — Aus den deutschen
Volksräten — P-essestiiuuien: Polnische Presse — Kleine Mitteilungen.


Materialien zur ostdeutschen Frage

Die ernste Lage Polens
i.

Die Nachrichten, die in den letzten Tagen aus dem polnischen Reiche
kommen, lauten ernst, sehr ernst. Noch ist in Polen nichts vorhanden, was den
Staat erst zum Staat macht, noch ist kein fester Unterbau gebildet, auf dem die
ganze Staatsmaschinerie errichtet werden könnte, und schon wankt und schwankt
das Gebilde, das man heute polnisches Reich nennt. Die polnische Presse der
letzten Tage läßt, obgleich sie sich bei der von ihr früher nicht gewohnten frei¬
mütiger Beurteilung der Vorgänge und Verhältnisse in .Kongreßpolen sicherlich
noch Zurückhaltung auferlegt, doch klar erkennen, daß sich das junge polnische
Staatswesen in schwerster Gefahr befindet, daß es vor dem Chaos steht. Mit
den Nachrichten und Andeutungen der polnischen Presse über die verworrenen
Zustände in Kongreszpolen stimmen auch die Meldungen und Schilderungen
überein, die wir selbst auf dem Umwege über neutrale Länder erhalten haben.
Danach führt die Entwicklung der Dinge in Polen nicht zur Konsolidierung,
sondern scharf abwärts, zum Niedergang. Von einsichtsvollen Polen hört
man sehr pessimistische Urteile, jeder berichtet über Mißstände, Unehrlichkeit
in der Verwaltung, Verschwendung, Unfähigkeit, Postenjägerei und Korruption
in allen Spielarten. Daß in diesen Meldungen nichts übertrieben ist, beweist auch
in unserem Gebiet die polnische Presse selbst, der man nachrühmen kann, daß
sie mit ihrer Kritik über die skandalösen Zustände nicht hinter den Berg hält.

Die Lebensmittelnöt, hervorgerufen durch schlechte Verteilung, verfehlte
Maßnahmen und vor allem durch Korruption und Schleichhandel, ist in einzelnen
Teilen Kongreßpolens ins Unerträgliche, ja bis zu Hungersnot gestiegen. Die
Arbeitslosigkeit wird immer größer; bis zum 1. September hat das Arbeits-
minister-inen 126 Millionen Mark Arbeitslosenunterstützung bezahlt. Die Kohlennot
übertrifft die deutsche um ein Vielfaches. Die Finanzverhältnisse sind zerrüttet,
die polnische Valuta steht tief unter der deutschen. Die Bildung einer arbeits¬
fähigen Regierung kam: nicht zustande kommen, jeder Tag bringt neue Namen,
das Kabinett ist in fortwährender Um- und Neubildung begriffen. Dieser Tage
wurde sogar Paderewskis Rücktritt angekündigt, kurz darauf aber von Paris aus
wieder dementiert.

^ Dazu Krieg an allen Grenzen I „800000 Mann stehen", so erklärte eben
Paderewski in Paris, „unter Waffen, es können noch 400000 einberufen werden.
Aber diese Truppen sind schlecht bewaffnet, schlecht ausgerüstet; sie gehen ohne
Uniformen barfuß in den Kampf. Wenn man uns helfen würde, wäre die Karte
Europas bald verändert."


Mitteilungen 31
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[0517] Mitteilungen Kr DeuMe« Zollsmte Wsenz und MpreubW Verantwortlich! Carl Georg Bruns Ur. 31Schriftlcitung: Bromberg, WeltzienPiKich j ni22. Okt. 1919 Fernruf Ur. 321 Inhalt: Materialien zur ostdeutschen Frage: Die ernste Lage Polens — Aus den deutschen Volksräten — P-essestiiuuien: Polnische Presse — Kleine Mitteilungen. Materialien zur ostdeutschen Frage Die ernste Lage Polens i. Die Nachrichten, die in den letzten Tagen aus dem polnischen Reiche kommen, lauten ernst, sehr ernst. Noch ist in Polen nichts vorhanden, was den Staat erst zum Staat macht, noch ist kein fester Unterbau gebildet, auf dem die ganze Staatsmaschinerie errichtet werden könnte, und schon wankt und schwankt das Gebilde, das man heute polnisches Reich nennt. Die polnische Presse der letzten Tage läßt, obgleich sie sich bei der von ihr früher nicht gewohnten frei¬ mütiger Beurteilung der Vorgänge und Verhältnisse in .Kongreßpolen sicherlich noch Zurückhaltung auferlegt, doch klar erkennen, daß sich das junge polnische Staatswesen in schwerster Gefahr befindet, daß es vor dem Chaos steht. Mit den Nachrichten und Andeutungen der polnischen Presse über die verworrenen Zustände in Kongreszpolen stimmen auch die Meldungen und Schilderungen überein, die wir selbst auf dem Umwege über neutrale Länder erhalten haben. Danach führt die Entwicklung der Dinge in Polen nicht zur Konsolidierung, sondern scharf abwärts, zum Niedergang. Von einsichtsvollen Polen hört man sehr pessimistische Urteile, jeder berichtet über Mißstände, Unehrlichkeit in der Verwaltung, Verschwendung, Unfähigkeit, Postenjägerei und Korruption in allen Spielarten. Daß in diesen Meldungen nichts übertrieben ist, beweist auch in unserem Gebiet die polnische Presse selbst, der man nachrühmen kann, daß sie mit ihrer Kritik über die skandalösen Zustände nicht hinter den Berg hält. Die Lebensmittelnöt, hervorgerufen durch schlechte Verteilung, verfehlte Maßnahmen und vor allem durch Korruption und Schleichhandel, ist in einzelnen Teilen Kongreßpolens ins Unerträgliche, ja bis zu Hungersnot gestiegen. Die Arbeitslosigkeit wird immer größer; bis zum 1. September hat das Arbeits- minister-inen 126 Millionen Mark Arbeitslosenunterstützung bezahlt. Die Kohlennot übertrifft die deutsche um ein Vielfaches. Die Finanzverhältnisse sind zerrüttet, die polnische Valuta steht tief unter der deutschen. Die Bildung einer arbeits¬ fähigen Regierung kam: nicht zustande kommen, jeder Tag bringt neue Namen, das Kabinett ist in fortwährender Um- und Neubildung begriffen. Dieser Tage wurde sogar Paderewskis Rücktritt angekündigt, kurz darauf aber von Paris aus wieder dementiert. ^ Dazu Krieg an allen Grenzen I „800000 Mann stehen", so erklärte eben Paderewski in Paris, „unter Waffen, es können noch 400000 einberufen werden. Aber diese Truppen sind schlecht bewaffnet, schlecht ausgerüstet; sie gehen ohne Uniformen barfuß in den Kampf. Wenn man uns helfen würde, wäre die Karte Europas bald verändert." Mitteilungen 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289/517>, abgerufen am 15.01.2025.