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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.

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Zur Lage an den Kampffronten Sowjetrußlands

auf. Auch die Baltcnstaaten haben weder ein Juteresse daran, noch die Kraft, den
Krieg fortzusetzen. So bleiben tatsächlich nur Koltschak und Denikin zur Fortführung
eines Krieges gegen das bolschewistische Kernrußland. Beide sind mit ihrem gesamten
Kriegsbedarf aus die Unterstützung der Ententeländer angewiesen und deshalb in
der Weiterführung der kriegerischen Operationen von diesen abhängig. Die Weigerung
der Entente zur Lieferung von Kriegsgerät kann ihre Unternehmungen entscheidend
beeinflussen. Da Koltschak in dem Feldzuge dieses Jahres anscheinend schwer ge¬
litten hat und die allgemeinen Verhältnisse in Sibirien wenig günstige zu sein
scheinen, muß man als stärksten Faktor in der antibolschewistischen Politik
Denikins Armee erblicken. Der Schwerpunkt einer antibolschewistischen Gewalt¬
politik würde demnach fortan in Südrußland liegen. Denikin führt aber Krieg
gegen Sowjetrußland und gegen die Nationalukrainer. Es wird deshalb darauf
ankommen, hier einen Weg der Verständigung zu finden.

Deutschland wird der Einfluß auf die Entwicklung der Vorgänge in Rußland
versagt bleiben. Ob der Weg zum Frieden über die reaktionären Gruppen oder
über eine demokratische Ukraine gefunden werden wird, darauf haben wir vorerst
keine Einwirkung. Wie die ganze Welt aber so haben auch wir ein starkes
Interesse daran, daß bald in Nußland eine Regierungsform gefunden wird, die
in der Lage ist, den Frieden und die Entwicklung seiner Hilfsquellen sicher zu
stellen, gleichgültig, welches Programm diese Regierung aufstellt. Des ferneren
haben wir ein Interesse daran, daß uns die Sympathien, die wir unzweifelhaft
im russischen Volke haben, erhalten bleiben. Das Bewußtsein, in diesem Kriege
gegen Deutschland für die Entente geblutet zu haben, müssen nach den jüngsten
Vorgängen auch die gewonnen haben, die bisher daran zweifelten. Unvergessen
muß erhalten werden, daß französische Tanks gegen Judcnitsch, englische Geschütze
gegen Awciloff in Tätigkeit traten, daß fluchtartig die Ententetruppen im Frühjahr
Odessa und Nikolajew räumten, die unglücklichen Städte und die ganze Ukraine
wieder dem roten Terror überlassend', daß die von französischen Schiffen geplante
Landung bolschewistischer Mannschaften in Odessa von Denikin mit Gewalt
verhindert werden mußte ; daß aus einem Ententekriegsschiff im Hasen von Odessa
Bolschewiken mit Erlaubnis des Schiffskommandanten nach russischen geflüchteten
Offizieren suchten, sie fanden und auf der Hafenmole erschossen!

Zurzeit steht die Macht der Räterepublik nach außen hin vollkommen
gefestigt. Ein Teil der bisherigen Sowjetgegner ist friedensbereit. Auch die
Entente wird für eine Verständigung zu haben sein. Militärisch kann Sowjet¬
rußland nach diesem gewonnenen Feldzugsjahr der Zukunft mit Zuversicht
entgegensehen. Wie sich die Lage wirtschaftlich gestalten wird, sind wir nach den
zu uns gelangenden dürftigen Nachrichten nicht in der Lage vorauszusehen. Zu
oft ist die Wirtschaftslage schon als katastrophal geschildert, als daß es angebracht
wäre, hierin eine Ursache für den baldigen Zusammenbruch des bolschewistischen
Staates zu finden.




Zur Lage an den Kampffronten Sowjetrußlands

auf. Auch die Baltcnstaaten haben weder ein Juteresse daran, noch die Kraft, den
Krieg fortzusetzen. So bleiben tatsächlich nur Koltschak und Denikin zur Fortführung
eines Krieges gegen das bolschewistische Kernrußland. Beide sind mit ihrem gesamten
Kriegsbedarf aus die Unterstützung der Ententeländer angewiesen und deshalb in
der Weiterführung der kriegerischen Operationen von diesen abhängig. Die Weigerung
der Entente zur Lieferung von Kriegsgerät kann ihre Unternehmungen entscheidend
beeinflussen. Da Koltschak in dem Feldzuge dieses Jahres anscheinend schwer ge¬
litten hat und die allgemeinen Verhältnisse in Sibirien wenig günstige zu sein
scheinen, muß man als stärksten Faktor in der antibolschewistischen Politik
Denikins Armee erblicken. Der Schwerpunkt einer antibolschewistischen Gewalt¬
politik würde demnach fortan in Südrußland liegen. Denikin führt aber Krieg
gegen Sowjetrußland und gegen die Nationalukrainer. Es wird deshalb darauf
ankommen, hier einen Weg der Verständigung zu finden.

Deutschland wird der Einfluß auf die Entwicklung der Vorgänge in Rußland
versagt bleiben. Ob der Weg zum Frieden über die reaktionären Gruppen oder
über eine demokratische Ukraine gefunden werden wird, darauf haben wir vorerst
keine Einwirkung. Wie die ganze Welt aber so haben auch wir ein starkes
Interesse daran, daß bald in Nußland eine Regierungsform gefunden wird, die
in der Lage ist, den Frieden und die Entwicklung seiner Hilfsquellen sicher zu
stellen, gleichgültig, welches Programm diese Regierung aufstellt. Des ferneren
haben wir ein Interesse daran, daß uns die Sympathien, die wir unzweifelhaft
im russischen Volke haben, erhalten bleiben. Das Bewußtsein, in diesem Kriege
gegen Deutschland für die Entente geblutet zu haben, müssen nach den jüngsten
Vorgängen auch die gewonnen haben, die bisher daran zweifelten. Unvergessen
muß erhalten werden, daß französische Tanks gegen Judcnitsch, englische Geschütze
gegen Awciloff in Tätigkeit traten, daß fluchtartig die Ententetruppen im Frühjahr
Odessa und Nikolajew räumten, die unglücklichen Städte und die ganze Ukraine
wieder dem roten Terror überlassend', daß die von französischen Schiffen geplante
Landung bolschewistischer Mannschaften in Odessa von Denikin mit Gewalt
verhindert werden mußte ; daß aus einem Ententekriegsschiff im Hasen von Odessa
Bolschewiken mit Erlaubnis des Schiffskommandanten nach russischen geflüchteten
Offizieren suchten, sie fanden und auf der Hafenmole erschossen!

Zurzeit steht die Macht der Räterepublik nach außen hin vollkommen
gefestigt. Ein Teil der bisherigen Sowjetgegner ist friedensbereit. Auch die
Entente wird für eine Verständigung zu haben sein. Militärisch kann Sowjet¬
rußland nach diesem gewonnenen Feldzugsjahr der Zukunft mit Zuversicht
entgegensehen. Wie sich die Lage wirtschaftlich gestalten wird, sind wir nach den
zu uns gelangenden dürftigen Nachrichten nicht in der Lage vorauszusehen. Zu
oft ist die Wirtschaftslage schon als katastrophal geschildert, als daß es angebracht
wäre, hierin eine Ursache für den baldigen Zusammenbruch des bolschewistischen
Staates zu finden.




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[0218] Zur Lage an den Kampffronten Sowjetrußlands auf. Auch die Baltcnstaaten haben weder ein Juteresse daran, noch die Kraft, den Krieg fortzusetzen. So bleiben tatsächlich nur Koltschak und Denikin zur Fortführung eines Krieges gegen das bolschewistische Kernrußland. Beide sind mit ihrem gesamten Kriegsbedarf aus die Unterstützung der Ententeländer angewiesen und deshalb in der Weiterführung der kriegerischen Operationen von diesen abhängig. Die Weigerung der Entente zur Lieferung von Kriegsgerät kann ihre Unternehmungen entscheidend beeinflussen. Da Koltschak in dem Feldzuge dieses Jahres anscheinend schwer ge¬ litten hat und die allgemeinen Verhältnisse in Sibirien wenig günstige zu sein scheinen, muß man als stärksten Faktor in der antibolschewistischen Politik Denikins Armee erblicken. Der Schwerpunkt einer antibolschewistischen Gewalt¬ politik würde demnach fortan in Südrußland liegen. Denikin führt aber Krieg gegen Sowjetrußland und gegen die Nationalukrainer. Es wird deshalb darauf ankommen, hier einen Weg der Verständigung zu finden. Deutschland wird der Einfluß auf die Entwicklung der Vorgänge in Rußland versagt bleiben. Ob der Weg zum Frieden über die reaktionären Gruppen oder über eine demokratische Ukraine gefunden werden wird, darauf haben wir vorerst keine Einwirkung. Wie die ganze Welt aber so haben auch wir ein starkes Interesse daran, daß bald in Nußland eine Regierungsform gefunden wird, die in der Lage ist, den Frieden und die Entwicklung seiner Hilfsquellen sicher zu stellen, gleichgültig, welches Programm diese Regierung aufstellt. Des ferneren haben wir ein Interesse daran, daß uns die Sympathien, die wir unzweifelhaft im russischen Volke haben, erhalten bleiben. Das Bewußtsein, in diesem Kriege gegen Deutschland für die Entente geblutet zu haben, müssen nach den jüngsten Vorgängen auch die gewonnen haben, die bisher daran zweifelten. Unvergessen muß erhalten werden, daß französische Tanks gegen Judcnitsch, englische Geschütze gegen Awciloff in Tätigkeit traten, daß fluchtartig die Ententetruppen im Frühjahr Odessa und Nikolajew räumten, die unglücklichen Städte und die ganze Ukraine wieder dem roten Terror überlassend', daß die von französischen Schiffen geplante Landung bolschewistischer Mannschaften in Odessa von Denikin mit Gewalt verhindert werden mußte ; daß aus einem Ententekriegsschiff im Hasen von Odessa Bolschewiken mit Erlaubnis des Schiffskommandanten nach russischen geflüchteten Offizieren suchten, sie fanden und auf der Hafenmole erschossen! Zurzeit steht die Macht der Räterepublik nach außen hin vollkommen gefestigt. Ein Teil der bisherigen Sowjetgegner ist friedensbereit. Auch die Entente wird für eine Verständigung zu haben sein. Militärisch kann Sowjet¬ rußland nach diesem gewonnenen Feldzugsjahr der Zukunft mit Zuversicht entgegensehen. Wie sich die Lage wirtschaftlich gestalten wird, sind wir nach den zu uns gelangenden dürftigen Nachrichten nicht in der Lage vorauszusehen. Zu oft ist die Wirtschaftslage schon als katastrophal geschildert, als daß es angebracht wäre, hierin eine Ursache für den baldigen Zusammenbruch des bolschewistischen Staates zu finden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289/218>, abgerufen am 15.01.2025.