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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.

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sich nicht immer durchzusetzen vermag und nicht imstande ist, alle Bestrebungen zu
unterdrücken, die anzukündigen scheinen, daß einzelne Volksteile eine Sonderpolitik
durchsetzen wollen, so kann man sich vorstellen, welche Schwierigkeiten die Regierung
eines Staatswesens hat, das erst in der Bildung begriffen ist. Auch hier darf
das aus der Vergangenheit begreifliche Bestehen engherzig rationalistischer
Kreise nicht verkannt werden, die jede Versöhnungspolitik der Regierung als Verrat
an der Nasse brandmarken und die großen Linien der Regierungspolitik durch
allerlei kleine Sondcraktionen zu durchkreuzen bestrebt sind. Der Rassengedanke
ist auf böhmischen Boden eben älter als der Staatsgedanke, er ist dem tschechischen
Durchschnittsbürger auch greifbarer und lebendiger und wird es unfehlbar bleiben,
wenn die Deutschen selbst Miene machen, der Regierung bei der Verwirklichung
des tschecho-slowakischen Staatsgedankens Hindernisse in den Weg zu legen.
Was insbesondere die immer wieder angeführte Schließung deutscher Schulen
anbetrifft, so darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß sie zunächst nur vereinzelt
ist und sodann von tschechischer Seite damit verteidigt wird, daß diese Schulen
jetzt, da deutsche Industrielle tschechische Proletarierkinder nicht mehr zu ihrem
Besuch zwingen könnten, keine genügende Besucherzahl mehr aufwiesen, um ihre
Erhaltung gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Das kann im einzelnen von hier
aus nicht nachgeprüft werden, aber unmöglich ist es nicht, und jedenfalls spricht
die Tatsache, daß seit vierzig Jahren zum ersten Male wieder Deutsche.im Prager
Gemeinderat fitzen, nicht gerade dafür, daß die Vergewaltigung der Deutschen
allgemein ist.

Es ist ein Unglück für das neue Staatswesen, daß an seiner Wiege die
Auseinandersetzung der Nassen steht. So berechtigt der Rassenstandpunkt, auf
den freilich die Tschechen zuerst sich gestellt haben, ist, so berechtigt auch die
Forderung einer Gleichstellung der Rassen innerhalb eines Staatswesens, so
bedenklich ist politisch die Forderung nach Autonomie der Rassen. Solange die
begrifflichen und gegenständlichen Grenzen zwischen Volk, Nation (oder Nationalität)
und Staat nicht geklärt sind oder auf Grund bestehender Verhältnisse namentlich
wirtschaftlicher Natur nicht geklärt werden können, solange wird es bedenklich
sein, die Nationalitätenfragen mit politischen zu verquicken. Als unter Anrufung
des Wilsonschen Nationalitätenprinzips die Tschechen einen Sonderstaat bildeten,
war der Anspruch der Deutschböhmen auf Selbstbestimmung vom Rassenstandpunkt
aus gewiß berechtigt, politisch war er es nicht. Daß ein Anschluß an Osterreich
unmöglich war, lehrt schon ein Blick aus die Karte, daß die Tschechen aber auch
einen Anschluß an Deutschland oder eine staatliche Verselbständigung der Deutsch¬
böhmen, die ihre selbständige wirtschaftliche Existenz und damit auch ihre politische
Existenz in Frage gestellt hätte, nicht gutwillig dulden würden, konnte jedem
klar sein, der zu überblicken vermochte, wie eng die deutschen und die tschechischen
Teile Böhmens wirtschaftlich aufeinander angewiesen sind. Daß auch militärische
Rücksichten dabei ansprachen, mag den Vorkämpfern der Völkerbundsidee zwar
schmerzlich gewesen sein, kann aber wie die Dinge vorläufig liegen, kaum als
unberechtigt erscheinen.

Daß ein junger Staat, der sich etwas zutraut, sich von vornherein zu
saturieren bestrebt ist und seine Fundamente in einer Weise legen will, die ein
möglichst selbständiges Fortdauer gestatten, ist nur begreiflich, ebenso begreiflich
freilich, daß strittiges Gebiet ihm von seinen Gegnern nicht ohne weiteres über¬
lassen wird, und erst recht, daß viele der von tschechischer Seite erhobene Forderungen,
wie z. B. auf das "tschechische" Wien mit Entrüstung in den Winkel phantastischer
Ausgeburten verwiesen werden. So gewiß es für jedes Staatswesen eine obere
Grenze der äußeren Ausdehnung seiner Oberhoheit gibt, die abhängig ist von
der Möglichkeit, diese Grenzen mit dem Staatsgedanken lebendig wirkend auszu¬
füllen, so gewiß gibt es auch eine untere, bei deren Unterschreitung der Staats¬
gedanke sich nicht genügend auszuwachsen vermöchte. Der Tschecho-Slowakenstaat
besitzt politische Möglichkeiten, die vier gesonderte Nationalitätenstaaten: Tschechen,
Deutsch-Böhmen, Slowaken, Ruthenen nicht besitzen würden; der Tschecho-Slowaken-


sich nicht immer durchzusetzen vermag und nicht imstande ist, alle Bestrebungen zu
unterdrücken, die anzukündigen scheinen, daß einzelne Volksteile eine Sonderpolitik
durchsetzen wollen, so kann man sich vorstellen, welche Schwierigkeiten die Regierung
eines Staatswesens hat, das erst in der Bildung begriffen ist. Auch hier darf
das aus der Vergangenheit begreifliche Bestehen engherzig rationalistischer
Kreise nicht verkannt werden, die jede Versöhnungspolitik der Regierung als Verrat
an der Nasse brandmarken und die großen Linien der Regierungspolitik durch
allerlei kleine Sondcraktionen zu durchkreuzen bestrebt sind. Der Rassengedanke
ist auf böhmischen Boden eben älter als der Staatsgedanke, er ist dem tschechischen
Durchschnittsbürger auch greifbarer und lebendiger und wird es unfehlbar bleiben,
wenn die Deutschen selbst Miene machen, der Regierung bei der Verwirklichung
des tschecho-slowakischen Staatsgedankens Hindernisse in den Weg zu legen.
Was insbesondere die immer wieder angeführte Schließung deutscher Schulen
anbetrifft, so darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß sie zunächst nur vereinzelt
ist und sodann von tschechischer Seite damit verteidigt wird, daß diese Schulen
jetzt, da deutsche Industrielle tschechische Proletarierkinder nicht mehr zu ihrem
Besuch zwingen könnten, keine genügende Besucherzahl mehr aufwiesen, um ihre
Erhaltung gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Das kann im einzelnen von hier
aus nicht nachgeprüft werden, aber unmöglich ist es nicht, und jedenfalls spricht
die Tatsache, daß seit vierzig Jahren zum ersten Male wieder Deutsche.im Prager
Gemeinderat fitzen, nicht gerade dafür, daß die Vergewaltigung der Deutschen
allgemein ist.

Es ist ein Unglück für das neue Staatswesen, daß an seiner Wiege die
Auseinandersetzung der Nassen steht. So berechtigt der Rassenstandpunkt, auf
den freilich die Tschechen zuerst sich gestellt haben, ist, so berechtigt auch die
Forderung einer Gleichstellung der Rassen innerhalb eines Staatswesens, so
bedenklich ist politisch die Forderung nach Autonomie der Rassen. Solange die
begrifflichen und gegenständlichen Grenzen zwischen Volk, Nation (oder Nationalität)
und Staat nicht geklärt sind oder auf Grund bestehender Verhältnisse namentlich
wirtschaftlicher Natur nicht geklärt werden können, solange wird es bedenklich
sein, die Nationalitätenfragen mit politischen zu verquicken. Als unter Anrufung
des Wilsonschen Nationalitätenprinzips die Tschechen einen Sonderstaat bildeten,
war der Anspruch der Deutschböhmen auf Selbstbestimmung vom Rassenstandpunkt
aus gewiß berechtigt, politisch war er es nicht. Daß ein Anschluß an Osterreich
unmöglich war, lehrt schon ein Blick aus die Karte, daß die Tschechen aber auch
einen Anschluß an Deutschland oder eine staatliche Verselbständigung der Deutsch¬
böhmen, die ihre selbständige wirtschaftliche Existenz und damit auch ihre politische
Existenz in Frage gestellt hätte, nicht gutwillig dulden würden, konnte jedem
klar sein, der zu überblicken vermochte, wie eng die deutschen und die tschechischen
Teile Böhmens wirtschaftlich aufeinander angewiesen sind. Daß auch militärische
Rücksichten dabei ansprachen, mag den Vorkämpfern der Völkerbundsidee zwar
schmerzlich gewesen sein, kann aber wie die Dinge vorläufig liegen, kaum als
unberechtigt erscheinen.

Daß ein junger Staat, der sich etwas zutraut, sich von vornherein zu
saturieren bestrebt ist und seine Fundamente in einer Weise legen will, die ein
möglichst selbständiges Fortdauer gestatten, ist nur begreiflich, ebenso begreiflich
freilich, daß strittiges Gebiet ihm von seinen Gegnern nicht ohne weiteres über¬
lassen wird, und erst recht, daß viele der von tschechischer Seite erhobene Forderungen,
wie z. B. auf das „tschechische" Wien mit Entrüstung in den Winkel phantastischer
Ausgeburten verwiesen werden. So gewiß es für jedes Staatswesen eine obere
Grenze der äußeren Ausdehnung seiner Oberhoheit gibt, die abhängig ist von
der Möglichkeit, diese Grenzen mit dem Staatsgedanken lebendig wirkend auszu¬
füllen, so gewiß gibt es auch eine untere, bei deren Unterschreitung der Staats¬
gedanke sich nicht genügend auszuwachsen vermöchte. Der Tschecho-Slowakenstaat
besitzt politische Möglichkeiten, die vier gesonderte Nationalitätenstaaten: Tschechen,
Deutsch-Böhmen, Slowaken, Ruthenen nicht besitzen würden; der Tschecho-Slowaken-


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[0172] sich nicht immer durchzusetzen vermag und nicht imstande ist, alle Bestrebungen zu unterdrücken, die anzukündigen scheinen, daß einzelne Volksteile eine Sonderpolitik durchsetzen wollen, so kann man sich vorstellen, welche Schwierigkeiten die Regierung eines Staatswesens hat, das erst in der Bildung begriffen ist. Auch hier darf das aus der Vergangenheit begreifliche Bestehen engherzig rationalistischer Kreise nicht verkannt werden, die jede Versöhnungspolitik der Regierung als Verrat an der Nasse brandmarken und die großen Linien der Regierungspolitik durch allerlei kleine Sondcraktionen zu durchkreuzen bestrebt sind. Der Rassengedanke ist auf böhmischen Boden eben älter als der Staatsgedanke, er ist dem tschechischen Durchschnittsbürger auch greifbarer und lebendiger und wird es unfehlbar bleiben, wenn die Deutschen selbst Miene machen, der Regierung bei der Verwirklichung des tschecho-slowakischen Staatsgedankens Hindernisse in den Weg zu legen. Was insbesondere die immer wieder angeführte Schließung deutscher Schulen anbetrifft, so darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß sie zunächst nur vereinzelt ist und sodann von tschechischer Seite damit verteidigt wird, daß diese Schulen jetzt, da deutsche Industrielle tschechische Proletarierkinder nicht mehr zu ihrem Besuch zwingen könnten, keine genügende Besucherzahl mehr aufwiesen, um ihre Erhaltung gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Das kann im einzelnen von hier aus nicht nachgeprüft werden, aber unmöglich ist es nicht, und jedenfalls spricht die Tatsache, daß seit vierzig Jahren zum ersten Male wieder Deutsche.im Prager Gemeinderat fitzen, nicht gerade dafür, daß die Vergewaltigung der Deutschen allgemein ist. Es ist ein Unglück für das neue Staatswesen, daß an seiner Wiege die Auseinandersetzung der Nassen steht. So berechtigt der Rassenstandpunkt, auf den freilich die Tschechen zuerst sich gestellt haben, ist, so berechtigt auch die Forderung einer Gleichstellung der Rassen innerhalb eines Staatswesens, so bedenklich ist politisch die Forderung nach Autonomie der Rassen. Solange die begrifflichen und gegenständlichen Grenzen zwischen Volk, Nation (oder Nationalität) und Staat nicht geklärt sind oder auf Grund bestehender Verhältnisse namentlich wirtschaftlicher Natur nicht geklärt werden können, solange wird es bedenklich sein, die Nationalitätenfragen mit politischen zu verquicken. Als unter Anrufung des Wilsonschen Nationalitätenprinzips die Tschechen einen Sonderstaat bildeten, war der Anspruch der Deutschböhmen auf Selbstbestimmung vom Rassenstandpunkt aus gewiß berechtigt, politisch war er es nicht. Daß ein Anschluß an Osterreich unmöglich war, lehrt schon ein Blick aus die Karte, daß die Tschechen aber auch einen Anschluß an Deutschland oder eine staatliche Verselbständigung der Deutsch¬ böhmen, die ihre selbständige wirtschaftliche Existenz und damit auch ihre politische Existenz in Frage gestellt hätte, nicht gutwillig dulden würden, konnte jedem klar sein, der zu überblicken vermochte, wie eng die deutschen und die tschechischen Teile Böhmens wirtschaftlich aufeinander angewiesen sind. Daß auch militärische Rücksichten dabei ansprachen, mag den Vorkämpfern der Völkerbundsidee zwar schmerzlich gewesen sein, kann aber wie die Dinge vorläufig liegen, kaum als unberechtigt erscheinen. Daß ein junger Staat, der sich etwas zutraut, sich von vornherein zu saturieren bestrebt ist und seine Fundamente in einer Weise legen will, die ein möglichst selbständiges Fortdauer gestatten, ist nur begreiflich, ebenso begreiflich freilich, daß strittiges Gebiet ihm von seinen Gegnern nicht ohne weiteres über¬ lassen wird, und erst recht, daß viele der von tschechischer Seite erhobene Forderungen, wie z. B. auf das „tschechische" Wien mit Entrüstung in den Winkel phantastischer Ausgeburten verwiesen werden. So gewiß es für jedes Staatswesen eine obere Grenze der äußeren Ausdehnung seiner Oberhoheit gibt, die abhängig ist von der Möglichkeit, diese Grenzen mit dem Staatsgedanken lebendig wirkend auszu¬ füllen, so gewiß gibt es auch eine untere, bei deren Unterschreitung der Staats¬ gedanke sich nicht genügend auszuwachsen vermöchte. Der Tschecho-Slowakenstaat besitzt politische Möglichkeiten, die vier gesonderte Nationalitätenstaaten: Tschechen, Deutsch-Böhmen, Slowaken, Ruthenen nicht besitzen würden; der Tschecho-Slowaken-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289/172>, abgerufen am 15.01.2025.