Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Brauchen wir ein Reichssprachamt?

Gesetzen der deutschen Sprache, wenn es in Berlin eine Weidendammer Brücke,
in Wilmersdorf eine Badensche Strotze gibt, oder datz man die beiden neugeschaffene
Slawenstaaten "Tschechien" und "Jugoslawien" nennt?

Man sieht, es ist eine hübsche Musterkarte von Fällen, in denen unsere
heutige Sprache Uneinheitlichkeit, Unklarheit und Unfestigkeit in bezug auf Form,
Bedeutung, Geschlecht und Verbindungsweise unserer Wörter aufweist; und jeder
Blick in das Sprachlebcn zeigt uns deren allenthalben und unausgesetzt neue.
Dabei handelt es sich keineswegs immer, wie zumeist in den obigen Beispielen,
um Fälle, wo ein "richiiger" Sprachgebrauch an sich wohl vorhanden, aber aus
Unkenntnis durch einen "falschen" mehr oder minder verdrängt ist; sondern es
gibt auch Fälle genug, wo wir einen festen Sprach- und Schreibgebrauch noch
garnicht geschaffen haben; ich erinnere nur an den zweiten Fall von Namen wie
Hans, Hansen. Bei einer solchen Sachlage kann wahrlich nicht bestritten werden,
datz eS ein Segen wäre, wenn auf welche Weise immer in diesem Wnrwarr auch
nur einigermaßen bessere Ordnung geschaffen würde; und diese Erkenntnis nutz,
wie gesagt, mil Notwendigkeit zur Forderung des Reichs sprach antes führen, wenn
sich zeigen . lätzt, daß alle Einwände, die man bisher gegen die Wirkungs¬
möglichkeit und Nützlichkeit einer solchen Rcichssprachbehörde mit so viel Eifer ins
Feld geführt hat, ausnahmslos auf Mißverständnissen und irrigen Vorstellungen
beruhen.

Am leichtesten ist der Einwand zu widerlegen, der sich -- wie es leider
selbst ein Gelehrter wie Hermann Diels ausgerechnet in seiner Rede zu Ehren
Leibnizens in der Berliner Akademie am 4. Juli 1918 tat -- zur Bekämpfung
solcher Sprachregelung auf die "Freiheit" als die unerläßliche Lebensbedingung
der Sprache im allgemeinen und der deutschen Sprache im besonderen berufen
zu müssen glaubt. Es soll hier ganz davon abgesehen werden, daß die An¬
schauung und Gesinnung, die diesem Standpunkt zugrunde liegen, gerade nicht
die Leibnizens sind, der ja sowohl der Berliner Akademie wie der von ihm ge¬
planten "Deutschgesinnten Gesellschaft" die Pflege der deutschen Sprache als be¬
sondere Aufgabe zugewiesen sehen wollte und selbst sowohl in seinen "Unvor-
greiflichen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deuischen
Sprache" wie in sonstigen Schriften und Taten Mittel und Wege dazu anzugeben
suchte; denn es läßt sich leicht zeigen, daß diese so viel verbreitete und einflu߬
reiche Anschauung wenn nicht geradezu falsch, so doch durchaus einseitig ist und
selbst das Nichtige an ihr keinen Gegengrund gegen unsere Forderung bildet.
Wäre "Freiheit" das oberste und unbedingte Gesetz einer Sprache, so wäre ja
offenbar jede Wortform, jede Verbindungsweise, jedes Wortgeschlecht usw. dem
andern gleichwertig; es gäbe dann letzten Endes überhaupt keine sprachlichen
Regeln und Gesetze mehr. Eine Sprache, und gar die Gemeinsprache eines aus
vielen Stämmen bestehenden Millionenvolkes, ist aber ohne bestimmte llberein-
kömmlichkeiten und in ihr verankerte Gesetzmäßigkeiten -- also ohne "Regeln"
nicht denkbar, daran ist ernstlich nicht, zu rütteln; und nur darüber kann Streit
und Meinungsverschiedenheit sein, wie weit neben dieser Bindung an Regel und
Gesetz auch der Freiheit im sprachlichen Leben ihr Recht gelassen werden kann.
Daß das in weitem Maße der Fall sein kann und muß, ist selbstverständlich.
Im richtigen Ausgleich zwischen Freiheit und Gesetz in einer guten Ordnung liegt
hier wie auch in anderen wichtigen Dingen das wahre Heil.

Von dieser Erkenntnis aus beantwortet sich ohne weiteres auch die viel¬
umstrittene Frage, ob man im sprachlichen Leben überhaupt von "guten" und
"schlechten", "richtigen" und "falschen" Formen und Ausdrucksweisen sprechen
darf, und ob also ein solches Neichssprachamt überhaupt das Recht für sich in
Anspruch nehmen könnte, im Namen des guten deutschen Sprachgebrauchs Ent¬
scheidungen zu treffen, die eine Form oder Verbindungsweise als die "gute" oder
"bessere" zu befürworten, die andere als die minder gute oder schlechtweg falsche
abzulehnen und zu verpönen. Gibt es in einer Sprache überhaupt Regeln, so
hat es auch Sinn, danach zu fragen, ob ein bestimmter einzelner Sprachgebrauch


Brauchen wir ein Reichssprachamt?

Gesetzen der deutschen Sprache, wenn es in Berlin eine Weidendammer Brücke,
in Wilmersdorf eine Badensche Strotze gibt, oder datz man die beiden neugeschaffene
Slawenstaaten „Tschechien" und „Jugoslawien" nennt?

Man sieht, es ist eine hübsche Musterkarte von Fällen, in denen unsere
heutige Sprache Uneinheitlichkeit, Unklarheit und Unfestigkeit in bezug auf Form,
Bedeutung, Geschlecht und Verbindungsweise unserer Wörter aufweist; und jeder
Blick in das Sprachlebcn zeigt uns deren allenthalben und unausgesetzt neue.
Dabei handelt es sich keineswegs immer, wie zumeist in den obigen Beispielen,
um Fälle, wo ein „richiiger" Sprachgebrauch an sich wohl vorhanden, aber aus
Unkenntnis durch einen „falschen" mehr oder minder verdrängt ist; sondern es
gibt auch Fälle genug, wo wir einen festen Sprach- und Schreibgebrauch noch
garnicht geschaffen haben; ich erinnere nur an den zweiten Fall von Namen wie
Hans, Hansen. Bei einer solchen Sachlage kann wahrlich nicht bestritten werden,
datz eS ein Segen wäre, wenn auf welche Weise immer in diesem Wnrwarr auch
nur einigermaßen bessere Ordnung geschaffen würde; und diese Erkenntnis nutz,
wie gesagt, mil Notwendigkeit zur Forderung des Reichs sprach antes führen, wenn
sich zeigen . lätzt, daß alle Einwände, die man bisher gegen die Wirkungs¬
möglichkeit und Nützlichkeit einer solchen Rcichssprachbehörde mit so viel Eifer ins
Feld geführt hat, ausnahmslos auf Mißverständnissen und irrigen Vorstellungen
beruhen.

Am leichtesten ist der Einwand zu widerlegen, der sich — wie es leider
selbst ein Gelehrter wie Hermann Diels ausgerechnet in seiner Rede zu Ehren
Leibnizens in der Berliner Akademie am 4. Juli 1918 tat — zur Bekämpfung
solcher Sprachregelung auf die „Freiheit" als die unerläßliche Lebensbedingung
der Sprache im allgemeinen und der deutschen Sprache im besonderen berufen
zu müssen glaubt. Es soll hier ganz davon abgesehen werden, daß die An¬
schauung und Gesinnung, die diesem Standpunkt zugrunde liegen, gerade nicht
die Leibnizens sind, der ja sowohl der Berliner Akademie wie der von ihm ge¬
planten „Deutschgesinnten Gesellschaft" die Pflege der deutschen Sprache als be¬
sondere Aufgabe zugewiesen sehen wollte und selbst sowohl in seinen „Unvor-
greiflichen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deuischen
Sprache" wie in sonstigen Schriften und Taten Mittel und Wege dazu anzugeben
suchte; denn es läßt sich leicht zeigen, daß diese so viel verbreitete und einflu߬
reiche Anschauung wenn nicht geradezu falsch, so doch durchaus einseitig ist und
selbst das Nichtige an ihr keinen Gegengrund gegen unsere Forderung bildet.
Wäre „Freiheit" das oberste und unbedingte Gesetz einer Sprache, so wäre ja
offenbar jede Wortform, jede Verbindungsweise, jedes Wortgeschlecht usw. dem
andern gleichwertig; es gäbe dann letzten Endes überhaupt keine sprachlichen
Regeln und Gesetze mehr. Eine Sprache, und gar die Gemeinsprache eines aus
vielen Stämmen bestehenden Millionenvolkes, ist aber ohne bestimmte llberein-
kömmlichkeiten und in ihr verankerte Gesetzmäßigkeiten — also ohne „Regeln"
nicht denkbar, daran ist ernstlich nicht, zu rütteln; und nur darüber kann Streit
und Meinungsverschiedenheit sein, wie weit neben dieser Bindung an Regel und
Gesetz auch der Freiheit im sprachlichen Leben ihr Recht gelassen werden kann.
Daß das in weitem Maße der Fall sein kann und muß, ist selbstverständlich.
Im richtigen Ausgleich zwischen Freiheit und Gesetz in einer guten Ordnung liegt
hier wie auch in anderen wichtigen Dingen das wahre Heil.

Von dieser Erkenntnis aus beantwortet sich ohne weiteres auch die viel¬
umstrittene Frage, ob man im sprachlichen Leben überhaupt von „guten" und
„schlechten", „richtigen" und „falschen" Formen und Ausdrucksweisen sprechen
darf, und ob also ein solches Neichssprachamt überhaupt das Recht für sich in
Anspruch nehmen könnte, im Namen des guten deutschen Sprachgebrauchs Ent¬
scheidungen zu treffen, die eine Form oder Verbindungsweise als die „gute" oder
„bessere" zu befürworten, die andere als die minder gute oder schlechtweg falsche
abzulehnen und zu verpönen. Gibt es in einer Sprache überhaupt Regeln, so
hat es auch Sinn, danach zu fragen, ob ein bestimmter einzelner Sprachgebrauch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0114" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336404"/>
          <fw type="header" place="top"> Brauchen wir ein Reichssprachamt?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_385" prev="#ID_384"> Gesetzen der deutschen Sprache, wenn es in Berlin eine Weidendammer Brücke,<lb/>
in Wilmersdorf eine Badensche Strotze gibt, oder datz man die beiden neugeschaffene<lb/>
Slawenstaaten &#x201E;Tschechien" und &#x201E;Jugoslawien" nennt?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_386"> Man sieht, es ist eine hübsche Musterkarte von Fällen, in denen unsere<lb/>
heutige Sprache Uneinheitlichkeit, Unklarheit und Unfestigkeit in bezug auf Form,<lb/>
Bedeutung, Geschlecht und Verbindungsweise unserer Wörter aufweist; und jeder<lb/>
Blick in das Sprachlebcn zeigt uns deren allenthalben und unausgesetzt neue.<lb/>
Dabei handelt es sich keineswegs immer, wie zumeist in den obigen Beispielen,<lb/>
um Fälle, wo ein &#x201E;richiiger" Sprachgebrauch an sich wohl vorhanden, aber aus<lb/>
Unkenntnis durch einen &#x201E;falschen" mehr oder minder verdrängt ist; sondern es<lb/>
gibt auch Fälle genug, wo wir einen festen Sprach- und Schreibgebrauch noch<lb/>
garnicht geschaffen haben; ich erinnere nur an den zweiten Fall von Namen wie<lb/>
Hans, Hansen. Bei einer solchen Sachlage kann wahrlich nicht bestritten werden,<lb/>
datz eS ein Segen wäre, wenn auf welche Weise immer in diesem Wnrwarr auch<lb/>
nur einigermaßen bessere Ordnung geschaffen würde; und diese Erkenntnis nutz,<lb/>
wie gesagt, mil Notwendigkeit zur Forderung des Reichs sprach antes führen, wenn<lb/>
sich zeigen . lätzt, daß alle Einwände, die man bisher gegen die Wirkungs¬<lb/>
möglichkeit und Nützlichkeit einer solchen Rcichssprachbehörde mit so viel Eifer ins<lb/>
Feld geführt hat, ausnahmslos auf Mißverständnissen und irrigen Vorstellungen<lb/>
beruhen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_387"> Am leichtesten ist der Einwand zu widerlegen, der sich &#x2014; wie es leider<lb/>
selbst ein Gelehrter wie Hermann Diels ausgerechnet in seiner Rede zu Ehren<lb/>
Leibnizens in der Berliner Akademie am 4. Juli 1918 tat &#x2014; zur Bekämpfung<lb/>
solcher Sprachregelung auf die &#x201E;Freiheit" als die unerläßliche Lebensbedingung<lb/>
der Sprache im allgemeinen und der deutschen Sprache im besonderen berufen<lb/>
zu müssen glaubt. Es soll hier ganz davon abgesehen werden, daß die An¬<lb/>
schauung und Gesinnung, die diesem Standpunkt zugrunde liegen, gerade nicht<lb/>
die Leibnizens sind, der ja sowohl der Berliner Akademie wie der von ihm ge¬<lb/>
planten &#x201E;Deutschgesinnten Gesellschaft" die Pflege der deutschen Sprache als be¬<lb/>
sondere Aufgabe zugewiesen sehen wollte und selbst sowohl in seinen &#x201E;Unvor-<lb/>
greiflichen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deuischen<lb/>
Sprache" wie in sonstigen Schriften und Taten Mittel und Wege dazu anzugeben<lb/>
suchte; denn es läßt sich leicht zeigen, daß diese so viel verbreitete und einflu߬<lb/>
reiche Anschauung wenn nicht geradezu falsch, so doch durchaus einseitig ist und<lb/>
selbst das Nichtige an ihr keinen Gegengrund gegen unsere Forderung bildet.<lb/>
Wäre &#x201E;Freiheit" das oberste und unbedingte Gesetz einer Sprache, so wäre ja<lb/>
offenbar jede Wortform, jede Verbindungsweise, jedes Wortgeschlecht usw. dem<lb/>
andern gleichwertig; es gäbe dann letzten Endes überhaupt keine sprachlichen<lb/>
Regeln und Gesetze mehr. Eine Sprache, und gar die Gemeinsprache eines aus<lb/>
vielen Stämmen bestehenden Millionenvolkes, ist aber ohne bestimmte llberein-<lb/>
kömmlichkeiten und in ihr verankerte Gesetzmäßigkeiten &#x2014; also ohne &#x201E;Regeln"<lb/>
nicht denkbar, daran ist ernstlich nicht, zu rütteln; und nur darüber kann Streit<lb/>
und Meinungsverschiedenheit sein, wie weit neben dieser Bindung an Regel und<lb/>
Gesetz auch der Freiheit im sprachlichen Leben ihr Recht gelassen werden kann.<lb/>
Daß das in weitem Maße der Fall sein kann und muß, ist selbstverständlich.<lb/>
Im richtigen Ausgleich zwischen Freiheit und Gesetz in einer guten Ordnung liegt<lb/>
hier wie auch in anderen wichtigen Dingen das wahre Heil.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_388" next="#ID_389"> Von dieser Erkenntnis aus beantwortet sich ohne weiteres auch die viel¬<lb/>
umstrittene Frage, ob man im sprachlichen Leben überhaupt von &#x201E;guten" und<lb/>
&#x201E;schlechten", &#x201E;richtigen" und &#x201E;falschen" Formen und Ausdrucksweisen sprechen<lb/>
darf, und ob also ein solches Neichssprachamt überhaupt das Recht für sich in<lb/>
Anspruch nehmen könnte, im Namen des guten deutschen Sprachgebrauchs Ent¬<lb/>
scheidungen zu treffen, die eine Form oder Verbindungsweise als die &#x201E;gute" oder<lb/>
&#x201E;bessere" zu befürworten, die andere als die minder gute oder schlechtweg falsche<lb/>
abzulehnen und zu verpönen. Gibt es in einer Sprache überhaupt Regeln, so<lb/>
hat es auch Sinn, danach zu fragen, ob ein bestimmter einzelner Sprachgebrauch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0114] Brauchen wir ein Reichssprachamt? Gesetzen der deutschen Sprache, wenn es in Berlin eine Weidendammer Brücke, in Wilmersdorf eine Badensche Strotze gibt, oder datz man die beiden neugeschaffene Slawenstaaten „Tschechien" und „Jugoslawien" nennt? Man sieht, es ist eine hübsche Musterkarte von Fällen, in denen unsere heutige Sprache Uneinheitlichkeit, Unklarheit und Unfestigkeit in bezug auf Form, Bedeutung, Geschlecht und Verbindungsweise unserer Wörter aufweist; und jeder Blick in das Sprachlebcn zeigt uns deren allenthalben und unausgesetzt neue. Dabei handelt es sich keineswegs immer, wie zumeist in den obigen Beispielen, um Fälle, wo ein „richiiger" Sprachgebrauch an sich wohl vorhanden, aber aus Unkenntnis durch einen „falschen" mehr oder minder verdrängt ist; sondern es gibt auch Fälle genug, wo wir einen festen Sprach- und Schreibgebrauch noch garnicht geschaffen haben; ich erinnere nur an den zweiten Fall von Namen wie Hans, Hansen. Bei einer solchen Sachlage kann wahrlich nicht bestritten werden, datz eS ein Segen wäre, wenn auf welche Weise immer in diesem Wnrwarr auch nur einigermaßen bessere Ordnung geschaffen würde; und diese Erkenntnis nutz, wie gesagt, mil Notwendigkeit zur Forderung des Reichs sprach antes führen, wenn sich zeigen . lätzt, daß alle Einwände, die man bisher gegen die Wirkungs¬ möglichkeit und Nützlichkeit einer solchen Rcichssprachbehörde mit so viel Eifer ins Feld geführt hat, ausnahmslos auf Mißverständnissen und irrigen Vorstellungen beruhen. Am leichtesten ist der Einwand zu widerlegen, der sich — wie es leider selbst ein Gelehrter wie Hermann Diels ausgerechnet in seiner Rede zu Ehren Leibnizens in der Berliner Akademie am 4. Juli 1918 tat — zur Bekämpfung solcher Sprachregelung auf die „Freiheit" als die unerläßliche Lebensbedingung der Sprache im allgemeinen und der deutschen Sprache im besonderen berufen zu müssen glaubt. Es soll hier ganz davon abgesehen werden, daß die An¬ schauung und Gesinnung, die diesem Standpunkt zugrunde liegen, gerade nicht die Leibnizens sind, der ja sowohl der Berliner Akademie wie der von ihm ge¬ planten „Deutschgesinnten Gesellschaft" die Pflege der deutschen Sprache als be¬ sondere Aufgabe zugewiesen sehen wollte und selbst sowohl in seinen „Unvor- greiflichen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deuischen Sprache" wie in sonstigen Schriften und Taten Mittel und Wege dazu anzugeben suchte; denn es läßt sich leicht zeigen, daß diese so viel verbreitete und einflu߬ reiche Anschauung wenn nicht geradezu falsch, so doch durchaus einseitig ist und selbst das Nichtige an ihr keinen Gegengrund gegen unsere Forderung bildet. Wäre „Freiheit" das oberste und unbedingte Gesetz einer Sprache, so wäre ja offenbar jede Wortform, jede Verbindungsweise, jedes Wortgeschlecht usw. dem andern gleichwertig; es gäbe dann letzten Endes überhaupt keine sprachlichen Regeln und Gesetze mehr. Eine Sprache, und gar die Gemeinsprache eines aus vielen Stämmen bestehenden Millionenvolkes, ist aber ohne bestimmte llberein- kömmlichkeiten und in ihr verankerte Gesetzmäßigkeiten — also ohne „Regeln" nicht denkbar, daran ist ernstlich nicht, zu rütteln; und nur darüber kann Streit und Meinungsverschiedenheit sein, wie weit neben dieser Bindung an Regel und Gesetz auch der Freiheit im sprachlichen Leben ihr Recht gelassen werden kann. Daß das in weitem Maße der Fall sein kann und muß, ist selbstverständlich. Im richtigen Ausgleich zwischen Freiheit und Gesetz in einer guten Ordnung liegt hier wie auch in anderen wichtigen Dingen das wahre Heil. Von dieser Erkenntnis aus beantwortet sich ohne weiteres auch die viel¬ umstrittene Frage, ob man im sprachlichen Leben überhaupt von „guten" und „schlechten", „richtigen" und „falschen" Formen und Ausdrucksweisen sprechen darf, und ob also ein solches Neichssprachamt überhaupt das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, im Namen des guten deutschen Sprachgebrauchs Ent¬ scheidungen zu treffen, die eine Form oder Verbindungsweise als die „gute" oder „bessere" zu befürworten, die andere als die minder gute oder schlechtweg falsche abzulehnen und zu verpönen. Gibt es in einer Sprache überhaupt Regeln, so hat es auch Sinn, danach zu fragen, ob ein bestimmter einzelner Sprachgebrauch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289/114
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289/114>, abgerufen am 15.01.2025.