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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Zukunftsgedanken

Europa ist nicht reich an Wasserkräften, ganz besonders arm daran sind aber
Deutschland und Rußland.

Genau wie mit der Kohle werden die Staaten versuchen die Wasserkräfte
als völkisches Kapital zu werten, und nur eine Ausnutzung bis zum Fertigprodukt
im Jnlunde gestatten. Je stärker die Ausnutzung der Wasserkräfte fortschreitet,
desto mehr leiden wieder die Altindustrieländer England und Deutschland. Frank¬
reich und Italien sind mit Wasserkräften verhältnismäßig günstig daran, zum Teil
auch Österreich und der Balkan.

Amerika wird sich nicht mehr lange gestatten können den Niagarrafall als
Naturschauspiel zu genießen. Fünfzehn Millionen Pferdestärken stürzen hier jahrein,
jahraus in tosenden Falle den Felsen hinunter. Kapitalisiert stellt der Fall einen
Wert von 6 Milliarden Mark dar, dessen Zinsen niam zum größten Teile ungenutzt
läßt. Die Viktoriafälle in Afrika werden an 30 Millionen Pferdestärken ergeben.
Welche gewaltige Industrie in deren Nähe entstehen wird, kann sich heut kaum ein
Mensch vorstellen, und doch werden die Jungen unter uns die Anfänge noch erleben.
Erster Grundsatz muß also sein, alle Industrien, welche viel Energie verbrauchen
und deren Erzeugnisse längeren Transport vertragen, von den Kohlen weg, zur
Wasserkraft hin zu verpflanzen. Wenn wir z. B. in den Reichsstickstoffwerken
unter Verbrauch von Kohlen Luftstickstoff erzeugen, so ist dies vom nationalen
Zukunftsstcmdpunkt aus Verschwendung des Kapitals zukünftiger Geschlechter. Man
sollte also suchen bald Wasserkräfte für diese Industrie zu finden.

Auch noch eine andere Erkenntnis muß Deuschland erwachsen, nämlich,
daß wir in vielen Fällen mit Dampfkraft überhaupt nicht mehr konkurrenzfähig
sind, und nur, wenn wir Wasserkräfte und Wasserstraßen mächtig ausbauen, uns
noch einigermaßen werden halten können.

Die Zeiten sind gewandelt. Bisher haben wir mit Eisen, Kohlen und
Kraft unseren Weg gewonnen. Das Eisen und die Kohlen nimmt man uns, und
die Kraft ist gebrochen. Geist, Arbeit und Berechnung müssen wir an Stelle der
alten Machtmittel setzen, wenn wir nicht untergehen wollen, und um dies zu
erreichen, gehört an erster Stelle Erkenntnis, sowohl des eigenen Könnens, wie
der Möglichkeiten und Beschränkungen, die in den Verhältnissen liegen. Je früher
wir also begreifen, daß Industrien mit Gewalt nicht zu halten sind, sondern mit
den Zeiten wandern wie Völker, desto leichter werden wir uns den neuen Ver¬
hältnissen anpassen und fügen.

Etwas anderes täte Not: daß es in der Welt erkannt und gewürdigt
würdet Industrie ist nicht nur Reichtum und Segen, sondern auchFluchI Noch
immer ist der agrarische Staat und der Bauer der Glücklichere gewesen, Industrie
bringt nur Versklavung der Massen und Zusammenballung der Menschen in
Großstädten, aber keine Freiheit und gesundes Leben. Hieran kann auch der
soziale Staat nichts ändern, denn ob für den Staat oder den Unternehmer
20000 Menschen im Gleichtrilt zur Arbeitsstelle stampfen ist vollkommen gleichgültig.

Wir können von der Industrie nicht mehr zurück, aber wir sollten sehen,
sie zu beherrschen und nicht, daß die Mechanisierung uns regiert. Der einzelne,
wie der Staat, sollte sich davon leiten lassen, daß die Industrie ein notwendiges
Übel ist, welches wir gern unserem Nachbar überlassen sollten, sobald alle Volks¬
genossen ohne das Übermaß derselben ihr Auskommen auf andere Weise finden.
Jede Zollgesetzgebung, welche bezweckt, neue Jndustnen heranzuziehen und zu
schützen, ist verfehlt. Wenn rein landwirtschaftliche Münder, wie Ungarn, Nußland
und andere, mit aller Gewalt sich zu Industrieländern umwandeln wollten, so
haben sie damit den kommenden Geschlechtern nur Fluch aufgeladen, und die
Staatsmänner haben bewiesen, daß sie augenblicklichen Reichtum mit Glück und
Zukunft verwechseln.

Am unverständlichsten sind in dieser Beziehung die Vereinigten Staaten.
Ein Riesenland, dünn bevölkert, überreichlich mit allen Naturschätzen versehen,
könnte es in sich ruhig und glücklich leben. Statt dessen gellt der Schrei nach
Industrie durch das ganze Reich. Bodenschätze und Nationalreichtümcr werden


Zukunftsgedanken

Europa ist nicht reich an Wasserkräften, ganz besonders arm daran sind aber
Deutschland und Rußland.

Genau wie mit der Kohle werden die Staaten versuchen die Wasserkräfte
als völkisches Kapital zu werten, und nur eine Ausnutzung bis zum Fertigprodukt
im Jnlunde gestatten. Je stärker die Ausnutzung der Wasserkräfte fortschreitet,
desto mehr leiden wieder die Altindustrieländer England und Deutschland. Frank¬
reich und Italien sind mit Wasserkräften verhältnismäßig günstig daran, zum Teil
auch Österreich und der Balkan.

Amerika wird sich nicht mehr lange gestatten können den Niagarrafall als
Naturschauspiel zu genießen. Fünfzehn Millionen Pferdestärken stürzen hier jahrein,
jahraus in tosenden Falle den Felsen hinunter. Kapitalisiert stellt der Fall einen
Wert von 6 Milliarden Mark dar, dessen Zinsen niam zum größten Teile ungenutzt
läßt. Die Viktoriafälle in Afrika werden an 30 Millionen Pferdestärken ergeben.
Welche gewaltige Industrie in deren Nähe entstehen wird, kann sich heut kaum ein
Mensch vorstellen, und doch werden die Jungen unter uns die Anfänge noch erleben.
Erster Grundsatz muß also sein, alle Industrien, welche viel Energie verbrauchen
und deren Erzeugnisse längeren Transport vertragen, von den Kohlen weg, zur
Wasserkraft hin zu verpflanzen. Wenn wir z. B. in den Reichsstickstoffwerken
unter Verbrauch von Kohlen Luftstickstoff erzeugen, so ist dies vom nationalen
Zukunftsstcmdpunkt aus Verschwendung des Kapitals zukünftiger Geschlechter. Man
sollte also suchen bald Wasserkräfte für diese Industrie zu finden.

Auch noch eine andere Erkenntnis muß Deuschland erwachsen, nämlich,
daß wir in vielen Fällen mit Dampfkraft überhaupt nicht mehr konkurrenzfähig
sind, und nur, wenn wir Wasserkräfte und Wasserstraßen mächtig ausbauen, uns
noch einigermaßen werden halten können.

Die Zeiten sind gewandelt. Bisher haben wir mit Eisen, Kohlen und
Kraft unseren Weg gewonnen. Das Eisen und die Kohlen nimmt man uns, und
die Kraft ist gebrochen. Geist, Arbeit und Berechnung müssen wir an Stelle der
alten Machtmittel setzen, wenn wir nicht untergehen wollen, und um dies zu
erreichen, gehört an erster Stelle Erkenntnis, sowohl des eigenen Könnens, wie
der Möglichkeiten und Beschränkungen, die in den Verhältnissen liegen. Je früher
wir also begreifen, daß Industrien mit Gewalt nicht zu halten sind, sondern mit
den Zeiten wandern wie Völker, desto leichter werden wir uns den neuen Ver¬
hältnissen anpassen und fügen.

Etwas anderes täte Not: daß es in der Welt erkannt und gewürdigt
würdet Industrie ist nicht nur Reichtum und Segen, sondern auchFluchI Noch
immer ist der agrarische Staat und der Bauer der Glücklichere gewesen, Industrie
bringt nur Versklavung der Massen und Zusammenballung der Menschen in
Großstädten, aber keine Freiheit und gesundes Leben. Hieran kann auch der
soziale Staat nichts ändern, denn ob für den Staat oder den Unternehmer
20000 Menschen im Gleichtrilt zur Arbeitsstelle stampfen ist vollkommen gleichgültig.

Wir können von der Industrie nicht mehr zurück, aber wir sollten sehen,
sie zu beherrschen und nicht, daß die Mechanisierung uns regiert. Der einzelne,
wie der Staat, sollte sich davon leiten lassen, daß die Industrie ein notwendiges
Übel ist, welches wir gern unserem Nachbar überlassen sollten, sobald alle Volks¬
genossen ohne das Übermaß derselben ihr Auskommen auf andere Weise finden.
Jede Zollgesetzgebung, welche bezweckt, neue Jndustnen heranzuziehen und zu
schützen, ist verfehlt. Wenn rein landwirtschaftliche Münder, wie Ungarn, Nußland
und andere, mit aller Gewalt sich zu Industrieländern umwandeln wollten, so
haben sie damit den kommenden Geschlechtern nur Fluch aufgeladen, und die
Staatsmänner haben bewiesen, daß sie augenblicklichen Reichtum mit Glück und
Zukunft verwechseln.

Am unverständlichsten sind in dieser Beziehung die Vereinigten Staaten.
Ein Riesenland, dünn bevölkert, überreichlich mit allen Naturschätzen versehen,
könnte es in sich ruhig und glücklich leben. Statt dessen gellt der Schrei nach
Industrie durch das ganze Reich. Bodenschätze und Nationalreichtümcr werden


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[0214] Zukunftsgedanken Europa ist nicht reich an Wasserkräften, ganz besonders arm daran sind aber Deutschland und Rußland. Genau wie mit der Kohle werden die Staaten versuchen die Wasserkräfte als völkisches Kapital zu werten, und nur eine Ausnutzung bis zum Fertigprodukt im Jnlunde gestatten. Je stärker die Ausnutzung der Wasserkräfte fortschreitet, desto mehr leiden wieder die Altindustrieländer England und Deutschland. Frank¬ reich und Italien sind mit Wasserkräften verhältnismäßig günstig daran, zum Teil auch Österreich und der Balkan. Amerika wird sich nicht mehr lange gestatten können den Niagarrafall als Naturschauspiel zu genießen. Fünfzehn Millionen Pferdestärken stürzen hier jahrein, jahraus in tosenden Falle den Felsen hinunter. Kapitalisiert stellt der Fall einen Wert von 6 Milliarden Mark dar, dessen Zinsen niam zum größten Teile ungenutzt läßt. Die Viktoriafälle in Afrika werden an 30 Millionen Pferdestärken ergeben. Welche gewaltige Industrie in deren Nähe entstehen wird, kann sich heut kaum ein Mensch vorstellen, und doch werden die Jungen unter uns die Anfänge noch erleben. Erster Grundsatz muß also sein, alle Industrien, welche viel Energie verbrauchen und deren Erzeugnisse längeren Transport vertragen, von den Kohlen weg, zur Wasserkraft hin zu verpflanzen. Wenn wir z. B. in den Reichsstickstoffwerken unter Verbrauch von Kohlen Luftstickstoff erzeugen, so ist dies vom nationalen Zukunftsstcmdpunkt aus Verschwendung des Kapitals zukünftiger Geschlechter. Man sollte also suchen bald Wasserkräfte für diese Industrie zu finden. Auch noch eine andere Erkenntnis muß Deuschland erwachsen, nämlich, daß wir in vielen Fällen mit Dampfkraft überhaupt nicht mehr konkurrenzfähig sind, und nur, wenn wir Wasserkräfte und Wasserstraßen mächtig ausbauen, uns noch einigermaßen werden halten können. Die Zeiten sind gewandelt. Bisher haben wir mit Eisen, Kohlen und Kraft unseren Weg gewonnen. Das Eisen und die Kohlen nimmt man uns, und die Kraft ist gebrochen. Geist, Arbeit und Berechnung müssen wir an Stelle der alten Machtmittel setzen, wenn wir nicht untergehen wollen, und um dies zu erreichen, gehört an erster Stelle Erkenntnis, sowohl des eigenen Könnens, wie der Möglichkeiten und Beschränkungen, die in den Verhältnissen liegen. Je früher wir also begreifen, daß Industrien mit Gewalt nicht zu halten sind, sondern mit den Zeiten wandern wie Völker, desto leichter werden wir uns den neuen Ver¬ hältnissen anpassen und fügen. Etwas anderes täte Not: daß es in der Welt erkannt und gewürdigt würdet Industrie ist nicht nur Reichtum und Segen, sondern auchFluchI Noch immer ist der agrarische Staat und der Bauer der Glücklichere gewesen, Industrie bringt nur Versklavung der Massen und Zusammenballung der Menschen in Großstädten, aber keine Freiheit und gesundes Leben. Hieran kann auch der soziale Staat nichts ändern, denn ob für den Staat oder den Unternehmer 20000 Menschen im Gleichtrilt zur Arbeitsstelle stampfen ist vollkommen gleichgültig. Wir können von der Industrie nicht mehr zurück, aber wir sollten sehen, sie zu beherrschen und nicht, daß die Mechanisierung uns regiert. Der einzelne, wie der Staat, sollte sich davon leiten lassen, daß die Industrie ein notwendiges Übel ist, welches wir gern unserem Nachbar überlassen sollten, sobald alle Volks¬ genossen ohne das Übermaß derselben ihr Auskommen auf andere Weise finden. Jede Zollgesetzgebung, welche bezweckt, neue Jndustnen heranzuziehen und zu schützen, ist verfehlt. Wenn rein landwirtschaftliche Münder, wie Ungarn, Nußland und andere, mit aller Gewalt sich zu Industrieländern umwandeln wollten, so haben sie damit den kommenden Geschlechtern nur Fluch aufgeladen, und die Staatsmänner haben bewiesen, daß sie augenblicklichen Reichtum mit Glück und Zukunft verwechseln. Am unverständlichsten sind in dieser Beziehung die Vereinigten Staaten. Ein Riesenland, dünn bevölkert, überreichlich mit allen Naturschätzen versehen, könnte es in sich ruhig und glücklich leben. Statt dessen gellt der Schrei nach Industrie durch das ganze Reich. Bodenschätze und Nationalreichtümcr werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/214>, abgerufen am 18.12.2024.