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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Neues über die Kriegsschuld

gerollt. In aller Kürze einer nach arbeitsreichem Tag niedergeschriebenenNotiz werden
lediglich die Ereignisse festgehalten und unter Verzicht auf jeden Schmuck stilistischer
Aufmachung und auf jede absichtsvolle "Komposition" gesagt, was der Verfasser selbst
getan hat, um den Gang der Ereignisse von seiner Seite zu beeinflussen. In dieser
Schlichtheit und Sachlichkeit, die nicht anders als unbedingt ehrlich sein kann,
liegt der literarische Reiz sowohl, wie der historische Wert dieser Aufzeichnungen.
Sie geben die frischen, unmittelbaren Eindrücke eines Mannes, der an einem
Angelpunkte stand und berufen war, handelnd einzugreifen. Sie geben deshalb
so sehr viel mehr, als die meisten dicken Bücher über den behandelten Gegenstand
geben können, weil sie nicht das tote Material der Noten und Telegramme reprodu¬
zieren, sondern das Leben zu fixieren suchen. Das Moment, das fast bei allen
Darstellungen jener Krisis vernachlässigt wird und doch so wichtig ist, das persön¬
liche, tritt hier in seine Rechte. Es wird fast zum ersten Male deutlich, daß es
Menschen sind, die handeln, Menschen mit persönlichem Charakter, persönlichen
Eigentümlichkeiten und Schwächen.

Die Figur Sasonows vor allem tritt in feiner, klarer Zeichnung hervor.
Es ist das Bild eines hypernervösen, Stimmungen und Gefühlswallungen start
unterworfenen, im Grunde schwächlichen, aber gerade deshalb halsstarrigen
Menschen. Schon vor der Überreichung des österreichischen Ultimatums am
21. Juli ist Sasonow "sehr erregt" über die Bedrohung Serbiens durch Öster¬
reich und lehnt den Gedanken, daß Osterreich ein Recht habe, Serbien zur Rechen¬
schaft zu ziehen, "schroff" ab. Als am 24, Juli der österreichische Botschafter
Sasonow das Ultimatum übergibt, nimmt er es "verhältnismäßig ruhig" ent¬
gegen. Am selben Abend aber findet ihn der deutsche Botschafter in der größten
Erregung. "Seine Anklagen gegen Österreich überschritten jedes Maß". Alle
Einwendungen des deutschen Botschafters tragen nur dazu bei, seine Erregung zu
steigern, in die er sich immer mehr hineinredet. Am 26. findet der deutsche Bot¬
schafter Sasonow in viel versöhnlicherer Stimmung. "Herr Sasonow floß über
von Beteuerungen seiner freundlichen Gesinnung und versicherte, daß er nur nach
Mitteln suche, um Österreich-Ungarn die berechtigte Genugtuung zu verschaffen----"
Am 27. findet der Botschafter bei Herrn Sasonow die gleiche versöhnliche Stim¬
mung wie am vorhergehenden Tage. Er verspricht in seinem Entgegenkommen,
gegen Osterreich bis zur äußersten Grenze gehen und alle Mittel erschöpfen zu
wollen, um die Krisis auf friedlichem Wege zu lösen. Aber schon vom nächsten
Tag, dem 28. Juli, berichtet Pouriales: "Bei Sasonow war die Stimmung
Plötzlich wieder ganz umgeschlagen. Ich fand ihn nachmittags in höchster Er¬
regung, und es kam zwischen uns zu einem heftigen Auftritt. Der Minister
empfing mich gleich mit den Worten, daß er jetzt unsere ganze hinterlistige Politik
durchschaue, es bestehe nunmehr für ihn nicht der geringste Zweifel, daß wir die
Pläne Österreich-Ungarns genau gekannt hätten, und daß man es mit einem
zwischen uns und dem Wiener Kabinett abgekarteten Spiel zu tun habe." Als
der deutsche Botschafter gegen dieses Benehmen entschieden Einspruch erhebt, die
Unterredung abbricht und sich bei dem Unterstaatssekretär über den Zwischenfall
beschwert, wird er zurückgerufen und Sasonow empfängt ihn, indem er ihm um
den Hals fällt und um Entschuldigung bittet, daß er sich zu heftigen Worten
hätte hinreißen lassen.

So schwankt das Barometer immer zwischen Extremen. Schroffheit und
hochgradige Erregung wechseln unvermittelt und ohne wirklich sachliche Begründung
in den Ereignissen mit Gefühlsweichheit. Noch bei der letzten Unterredung zwischen
dem Grafen Pourtalös und Sasonow nach der Kriegserklärung fällt, als Graf
Pourtalös sich von ihm verabschiedet, Sasonow ihm gerührt um den Hals und
sagt: "Glauben Sie mir, wir werden Sie wiedersehen." Graf Pourtalös macht
dazu die bezeichnende Bemerkung. "Herr Sasonow machte mir bei dieser letzten
Unterredung einen geradezu hilflosen Eindruck, der mich in der Auffassung bestärkte,
daß er in der letzten Phase der Krisis sich ganz vom Strome treiben ließ und
steh zum willenlosen Werkzeug der Kriegshetzer gemacht hat."


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Neues über die Kriegsschuld

gerollt. In aller Kürze einer nach arbeitsreichem Tag niedergeschriebenenNotiz werden
lediglich die Ereignisse festgehalten und unter Verzicht auf jeden Schmuck stilistischer
Aufmachung und auf jede absichtsvolle „Komposition" gesagt, was der Verfasser selbst
getan hat, um den Gang der Ereignisse von seiner Seite zu beeinflussen. In dieser
Schlichtheit und Sachlichkeit, die nicht anders als unbedingt ehrlich sein kann,
liegt der literarische Reiz sowohl, wie der historische Wert dieser Aufzeichnungen.
Sie geben die frischen, unmittelbaren Eindrücke eines Mannes, der an einem
Angelpunkte stand und berufen war, handelnd einzugreifen. Sie geben deshalb
so sehr viel mehr, als die meisten dicken Bücher über den behandelten Gegenstand
geben können, weil sie nicht das tote Material der Noten und Telegramme reprodu¬
zieren, sondern das Leben zu fixieren suchen. Das Moment, das fast bei allen
Darstellungen jener Krisis vernachlässigt wird und doch so wichtig ist, das persön¬
liche, tritt hier in seine Rechte. Es wird fast zum ersten Male deutlich, daß es
Menschen sind, die handeln, Menschen mit persönlichem Charakter, persönlichen
Eigentümlichkeiten und Schwächen.

Die Figur Sasonows vor allem tritt in feiner, klarer Zeichnung hervor.
Es ist das Bild eines hypernervösen, Stimmungen und Gefühlswallungen start
unterworfenen, im Grunde schwächlichen, aber gerade deshalb halsstarrigen
Menschen. Schon vor der Überreichung des österreichischen Ultimatums am
21. Juli ist Sasonow „sehr erregt" über die Bedrohung Serbiens durch Öster¬
reich und lehnt den Gedanken, daß Osterreich ein Recht habe, Serbien zur Rechen¬
schaft zu ziehen, „schroff" ab. Als am 24, Juli der österreichische Botschafter
Sasonow das Ultimatum übergibt, nimmt er es „verhältnismäßig ruhig" ent¬
gegen. Am selben Abend aber findet ihn der deutsche Botschafter in der größten
Erregung. „Seine Anklagen gegen Österreich überschritten jedes Maß". Alle
Einwendungen des deutschen Botschafters tragen nur dazu bei, seine Erregung zu
steigern, in die er sich immer mehr hineinredet. Am 26. findet der deutsche Bot¬
schafter Sasonow in viel versöhnlicherer Stimmung. „Herr Sasonow floß über
von Beteuerungen seiner freundlichen Gesinnung und versicherte, daß er nur nach
Mitteln suche, um Österreich-Ungarn die berechtigte Genugtuung zu verschaffen----"
Am 27. findet der Botschafter bei Herrn Sasonow die gleiche versöhnliche Stim¬
mung wie am vorhergehenden Tage. Er verspricht in seinem Entgegenkommen,
gegen Osterreich bis zur äußersten Grenze gehen und alle Mittel erschöpfen zu
wollen, um die Krisis auf friedlichem Wege zu lösen. Aber schon vom nächsten
Tag, dem 28. Juli, berichtet Pouriales: „Bei Sasonow war die Stimmung
Plötzlich wieder ganz umgeschlagen. Ich fand ihn nachmittags in höchster Er¬
regung, und es kam zwischen uns zu einem heftigen Auftritt. Der Minister
empfing mich gleich mit den Worten, daß er jetzt unsere ganze hinterlistige Politik
durchschaue, es bestehe nunmehr für ihn nicht der geringste Zweifel, daß wir die
Pläne Österreich-Ungarns genau gekannt hätten, und daß man es mit einem
zwischen uns und dem Wiener Kabinett abgekarteten Spiel zu tun habe." Als
der deutsche Botschafter gegen dieses Benehmen entschieden Einspruch erhebt, die
Unterredung abbricht und sich bei dem Unterstaatssekretär über den Zwischenfall
beschwert, wird er zurückgerufen und Sasonow empfängt ihn, indem er ihm um
den Hals fällt und um Entschuldigung bittet, daß er sich zu heftigen Worten
hätte hinreißen lassen.

So schwankt das Barometer immer zwischen Extremen. Schroffheit und
hochgradige Erregung wechseln unvermittelt und ohne wirklich sachliche Begründung
in den Ereignissen mit Gefühlsweichheit. Noch bei der letzten Unterredung zwischen
dem Grafen Pourtalös und Sasonow nach der Kriegserklärung fällt, als Graf
Pourtalös sich von ihm verabschiedet, Sasonow ihm gerührt um den Hals und
sagt: „Glauben Sie mir, wir werden Sie wiedersehen." Graf Pourtalös macht
dazu die bezeichnende Bemerkung. „Herr Sasonow machte mir bei dieser letzten
Unterredung einen geradezu hilflosen Eindruck, der mich in der Auffassung bestärkte,
daß er in der letzten Phase der Krisis sich ganz vom Strome treiben ließ und
steh zum willenlosen Werkzeug der Kriegshetzer gemacht hat."


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[0183] Neues über die Kriegsschuld gerollt. In aller Kürze einer nach arbeitsreichem Tag niedergeschriebenenNotiz werden lediglich die Ereignisse festgehalten und unter Verzicht auf jeden Schmuck stilistischer Aufmachung und auf jede absichtsvolle „Komposition" gesagt, was der Verfasser selbst getan hat, um den Gang der Ereignisse von seiner Seite zu beeinflussen. In dieser Schlichtheit und Sachlichkeit, die nicht anders als unbedingt ehrlich sein kann, liegt der literarische Reiz sowohl, wie der historische Wert dieser Aufzeichnungen. Sie geben die frischen, unmittelbaren Eindrücke eines Mannes, der an einem Angelpunkte stand und berufen war, handelnd einzugreifen. Sie geben deshalb so sehr viel mehr, als die meisten dicken Bücher über den behandelten Gegenstand geben können, weil sie nicht das tote Material der Noten und Telegramme reprodu¬ zieren, sondern das Leben zu fixieren suchen. Das Moment, das fast bei allen Darstellungen jener Krisis vernachlässigt wird und doch so wichtig ist, das persön¬ liche, tritt hier in seine Rechte. Es wird fast zum ersten Male deutlich, daß es Menschen sind, die handeln, Menschen mit persönlichem Charakter, persönlichen Eigentümlichkeiten und Schwächen. Die Figur Sasonows vor allem tritt in feiner, klarer Zeichnung hervor. Es ist das Bild eines hypernervösen, Stimmungen und Gefühlswallungen start unterworfenen, im Grunde schwächlichen, aber gerade deshalb halsstarrigen Menschen. Schon vor der Überreichung des österreichischen Ultimatums am 21. Juli ist Sasonow „sehr erregt" über die Bedrohung Serbiens durch Öster¬ reich und lehnt den Gedanken, daß Osterreich ein Recht habe, Serbien zur Rechen¬ schaft zu ziehen, „schroff" ab. Als am 24, Juli der österreichische Botschafter Sasonow das Ultimatum übergibt, nimmt er es „verhältnismäßig ruhig" ent¬ gegen. Am selben Abend aber findet ihn der deutsche Botschafter in der größten Erregung. „Seine Anklagen gegen Österreich überschritten jedes Maß". Alle Einwendungen des deutschen Botschafters tragen nur dazu bei, seine Erregung zu steigern, in die er sich immer mehr hineinredet. Am 26. findet der deutsche Bot¬ schafter Sasonow in viel versöhnlicherer Stimmung. „Herr Sasonow floß über von Beteuerungen seiner freundlichen Gesinnung und versicherte, daß er nur nach Mitteln suche, um Österreich-Ungarn die berechtigte Genugtuung zu verschaffen----" Am 27. findet der Botschafter bei Herrn Sasonow die gleiche versöhnliche Stim¬ mung wie am vorhergehenden Tage. Er verspricht in seinem Entgegenkommen, gegen Osterreich bis zur äußersten Grenze gehen und alle Mittel erschöpfen zu wollen, um die Krisis auf friedlichem Wege zu lösen. Aber schon vom nächsten Tag, dem 28. Juli, berichtet Pouriales: „Bei Sasonow war die Stimmung Plötzlich wieder ganz umgeschlagen. Ich fand ihn nachmittags in höchster Er¬ regung, und es kam zwischen uns zu einem heftigen Auftritt. Der Minister empfing mich gleich mit den Worten, daß er jetzt unsere ganze hinterlistige Politik durchschaue, es bestehe nunmehr für ihn nicht der geringste Zweifel, daß wir die Pläne Österreich-Ungarns genau gekannt hätten, und daß man es mit einem zwischen uns und dem Wiener Kabinett abgekarteten Spiel zu tun habe." Als der deutsche Botschafter gegen dieses Benehmen entschieden Einspruch erhebt, die Unterredung abbricht und sich bei dem Unterstaatssekretär über den Zwischenfall beschwert, wird er zurückgerufen und Sasonow empfängt ihn, indem er ihm um den Hals fällt und um Entschuldigung bittet, daß er sich zu heftigen Worten hätte hinreißen lassen. So schwankt das Barometer immer zwischen Extremen. Schroffheit und hochgradige Erregung wechseln unvermittelt und ohne wirklich sachliche Begründung in den Ereignissen mit Gefühlsweichheit. Noch bei der letzten Unterredung zwischen dem Grafen Pourtalös und Sasonow nach der Kriegserklärung fällt, als Graf Pourtalös sich von ihm verabschiedet, Sasonow ihm gerührt um den Hals und sagt: „Glauben Sie mir, wir werden Sie wiedersehen." Graf Pourtalös macht dazu die bezeichnende Bemerkung. „Herr Sasonow machte mir bei dieser letzten Unterredung einen geradezu hilflosen Eindruck, der mich in der Auffassung bestärkte, daß er in der letzten Phase der Krisis sich ganz vom Strome treiben ließ und steh zum willenlosen Werkzeug der Kriegshetzer gemacht hat." 1b*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/183>, abgerufen am 01.09.2024.