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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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'Voraussetzungen der Demokratie

Ob da freilich nicht Fick die Schweizer Möglichkeiten allzu rasch verall¬
gemeinert? Zweifellos scheint er mir gegenüber dem Repräsentativsystem den
reineren Begriff von Demokratie zu haben. Aber es dürfte nach wie vor sehr
schwierig sein, die schwerfällige blinde Masse eines Großstaatsvolkes zum eigene"
Gesetzgeber zu machen. Man könnte daran denken, diese Masse erst berufsstän¬
disch zu organisieren, damit jeder zunächst über die Fragen urteilen lernt, von
denen er wirklich was verstehen kann. Aber es ist bekannt, daß dies sehr leicht
zu einer Kasten- und Interessenpolitik führen müßte, die noch schlimmer ist als
die Politik der jetzigen Parteien und Cliquen. Da kommt nun ein Vorschlag von
Felix Weltsch, der die Masse ans anderem Wege zur politischen Selbstbestimmung
fähig machen möchte. °) Das Volk soll hier nicht in berussständische Kasten ge¬
gliedert werden, sondern jeder Bürger soll ganz frei mit allen denen zu einer
Gruppe zusammentreten, die in irgendeiner Beziehung seine Gesinnungsgenossen
sind. Er darf mehreren derartigen Vereinen -- "Einzelgruppen" nennt sie der
Verfasser -- angehören, aber nicht beliebig vielen, sondern etwa fünf, zum Beispiel
für Katholizismus, Kapitalismus, Antisemitismus, Freihandel und Denkmal¬
pflege. Jeder wird sich die Gruppen heraussuchen, deren Sache ihm besonders
am Herzen liegt, und wird Bestrebungen, die ihm weniger wichtig sind, nicht
unterstützen. Ja, es ist möglich, daß er alle fünf Stimmen einer einzigen Gruppe
widmet. Auf diese Art "wird erreicht, daß jeder gleichsam bereits in seinem
Innern eine Majoritätsentscheidung fällt, und daß die Ziele, welche zum politi¬
schen Wettkampf miteinander antreten, auch wirklich die dem einzelnen wichtig¬
sten sind" (a. a. O. S. 21). Innerhalb der Einzelgruppe darf jeder Staats¬
bürger Anträge stellen und hat gleiches Stimmrecht. Beschlüsse einer Einzel¬
gruppe gehen als Anträge an eine "Mittelgruppe", die aus Abgeordneten solcher
Einzelgruppen besteht, die etwas Gemeinsames in ihrem Programm haben.
Beschlusse der Mittelgruppen wiederum gehen als Anträge an die "Fachparla¬
mente", die aus Abgeordneten der Mittelgruppen bestehen. Es gibt drei Fach¬
parlamente: eins für kulturelle, eins für wirtschaftliche Interessen, eins für
Staatsnotwendigkeiten (Finanzen, Heerwesen, innere und auswärtige Politik).
Von je drei Abgeordneten einer Mittelgruppe muß einer ins Parlament der
Staatsnotwendigkeiten; die beiden anderen können beliebig verteilt werden. Die
Beschlüsse eines Fachparlaments gelten aus den Gebieten, wofür sie zuständig,
sind, als Volks befchlüfse. Für den Wahl- und Abstimmungsmodus macht
Weltsch noch besondere Vorschläge, die alle den Zweck haben, brutale Majori¬
sterungen eines Bürgers oder einer Gruppe zu verhindern. Denkt man sich das
System ausgeführt, fo würde in der Tat das Volk eine vollständig organisierte
politische Masse sein, in der der Wille jedes einzelnen an einer Stelle zum Aus¬
druck käme, die seiner Urteilsfähigkeit und seinen Interessen völlig angepaßt
wäre, und in der dieser Wille zweckdienlich weitergeleitet würde in immer
größere Kreise der Gesamtheit. Aber freilich ist das System ziemlich kompliziert
und setzt zu große Reife bei der Masse voraus. Es dürfte Millionen von Staats¬
bürgern geben, die nicht urteilsfähig genug sind, die für sie passenden Einzel¬
gruppen herauszufinden, oder die zu denkfaul sind, um Lust zu haben, sich über¬
haupt irgendwo anzuschließen, oder die selbst dann, wenn sie angeschlossen sind,
ihre Bequemlichkeit zu sehr lieben, als daß sie gewillt wären, eine Meinung in
der Gruppe zu äußern und zu vertreten. Das Berufs- und Geldsackinteresse
veranlaßt die Leute ja zum Zusammenschluß, aber die "Einzelgruppe" soll ja eben
nicht durch Berufs- und Geldsackinteressen, sondern durch freie Überzeugung' zusammengehalten werden. Schon jetzt gehen viele Wähler nicht einmal an dein
einen Wahltag zur Urne. Wieviel schwerer wird es da sein, dauerndes Interesse
für die Mitarbeit auch nur in einer dieser "Einzelgruppen" zu erzielen. Beteiligt
sich die große Masse aber nicht an den Einzelgruppen, dann ist es wieder nicht
gelungen, den wahren Volkswillen zur Äußerung zu bringen. Dann betätigt sich



-) Felix Weltsch, Organische Demokratie. Der Neue Geist, Verlag, Leipzig.
'Voraussetzungen der Demokratie

Ob da freilich nicht Fick die Schweizer Möglichkeiten allzu rasch verall¬
gemeinert? Zweifellos scheint er mir gegenüber dem Repräsentativsystem den
reineren Begriff von Demokratie zu haben. Aber es dürfte nach wie vor sehr
schwierig sein, die schwerfällige blinde Masse eines Großstaatsvolkes zum eigene»
Gesetzgeber zu machen. Man könnte daran denken, diese Masse erst berufsstän¬
disch zu organisieren, damit jeder zunächst über die Fragen urteilen lernt, von
denen er wirklich was verstehen kann. Aber es ist bekannt, daß dies sehr leicht
zu einer Kasten- und Interessenpolitik führen müßte, die noch schlimmer ist als
die Politik der jetzigen Parteien und Cliquen. Da kommt nun ein Vorschlag von
Felix Weltsch, der die Masse ans anderem Wege zur politischen Selbstbestimmung
fähig machen möchte. °) Das Volk soll hier nicht in berussständische Kasten ge¬
gliedert werden, sondern jeder Bürger soll ganz frei mit allen denen zu einer
Gruppe zusammentreten, die in irgendeiner Beziehung seine Gesinnungsgenossen
sind. Er darf mehreren derartigen Vereinen — „Einzelgruppen" nennt sie der
Verfasser — angehören, aber nicht beliebig vielen, sondern etwa fünf, zum Beispiel
für Katholizismus, Kapitalismus, Antisemitismus, Freihandel und Denkmal¬
pflege. Jeder wird sich die Gruppen heraussuchen, deren Sache ihm besonders
am Herzen liegt, und wird Bestrebungen, die ihm weniger wichtig sind, nicht
unterstützen. Ja, es ist möglich, daß er alle fünf Stimmen einer einzigen Gruppe
widmet. Auf diese Art „wird erreicht, daß jeder gleichsam bereits in seinem
Innern eine Majoritätsentscheidung fällt, und daß die Ziele, welche zum politi¬
schen Wettkampf miteinander antreten, auch wirklich die dem einzelnen wichtig¬
sten sind" (a. a. O. S. 21). Innerhalb der Einzelgruppe darf jeder Staats¬
bürger Anträge stellen und hat gleiches Stimmrecht. Beschlüsse einer Einzel¬
gruppe gehen als Anträge an eine „Mittelgruppe", die aus Abgeordneten solcher
Einzelgruppen besteht, die etwas Gemeinsames in ihrem Programm haben.
Beschlusse der Mittelgruppen wiederum gehen als Anträge an die „Fachparla¬
mente", die aus Abgeordneten der Mittelgruppen bestehen. Es gibt drei Fach¬
parlamente: eins für kulturelle, eins für wirtschaftliche Interessen, eins für
Staatsnotwendigkeiten (Finanzen, Heerwesen, innere und auswärtige Politik).
Von je drei Abgeordneten einer Mittelgruppe muß einer ins Parlament der
Staatsnotwendigkeiten; die beiden anderen können beliebig verteilt werden. Die
Beschlüsse eines Fachparlaments gelten aus den Gebieten, wofür sie zuständig,
sind, als Volks befchlüfse. Für den Wahl- und Abstimmungsmodus macht
Weltsch noch besondere Vorschläge, die alle den Zweck haben, brutale Majori¬
sterungen eines Bürgers oder einer Gruppe zu verhindern. Denkt man sich das
System ausgeführt, fo würde in der Tat das Volk eine vollständig organisierte
politische Masse sein, in der der Wille jedes einzelnen an einer Stelle zum Aus¬
druck käme, die seiner Urteilsfähigkeit und seinen Interessen völlig angepaßt
wäre, und in der dieser Wille zweckdienlich weitergeleitet würde in immer
größere Kreise der Gesamtheit. Aber freilich ist das System ziemlich kompliziert
und setzt zu große Reife bei der Masse voraus. Es dürfte Millionen von Staats¬
bürgern geben, die nicht urteilsfähig genug sind, die für sie passenden Einzel¬
gruppen herauszufinden, oder die zu denkfaul sind, um Lust zu haben, sich über¬
haupt irgendwo anzuschließen, oder die selbst dann, wenn sie angeschlossen sind,
ihre Bequemlichkeit zu sehr lieben, als daß sie gewillt wären, eine Meinung in
der Gruppe zu äußern und zu vertreten. Das Berufs- und Geldsackinteresse
veranlaßt die Leute ja zum Zusammenschluß, aber die „Einzelgruppe" soll ja eben
nicht durch Berufs- und Geldsackinteressen, sondern durch freie Überzeugung' zusammengehalten werden. Schon jetzt gehen viele Wähler nicht einmal an dein
einen Wahltag zur Urne. Wieviel schwerer wird es da sein, dauerndes Interesse
für die Mitarbeit auch nur in einer dieser „Einzelgruppen" zu erzielen. Beteiligt
sich die große Masse aber nicht an den Einzelgruppen, dann ist es wieder nicht
gelungen, den wahren Volkswillen zur Äußerung zu bringen. Dann betätigt sich



-) Felix Weltsch, Organische Demokratie. Der Neue Geist, Verlag, Leipzig.
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[0016] 'Voraussetzungen der Demokratie Ob da freilich nicht Fick die Schweizer Möglichkeiten allzu rasch verall¬ gemeinert? Zweifellos scheint er mir gegenüber dem Repräsentativsystem den reineren Begriff von Demokratie zu haben. Aber es dürfte nach wie vor sehr schwierig sein, die schwerfällige blinde Masse eines Großstaatsvolkes zum eigene» Gesetzgeber zu machen. Man könnte daran denken, diese Masse erst berufsstän¬ disch zu organisieren, damit jeder zunächst über die Fragen urteilen lernt, von denen er wirklich was verstehen kann. Aber es ist bekannt, daß dies sehr leicht zu einer Kasten- und Interessenpolitik führen müßte, die noch schlimmer ist als die Politik der jetzigen Parteien und Cliquen. Da kommt nun ein Vorschlag von Felix Weltsch, der die Masse ans anderem Wege zur politischen Selbstbestimmung fähig machen möchte. °) Das Volk soll hier nicht in berussständische Kasten ge¬ gliedert werden, sondern jeder Bürger soll ganz frei mit allen denen zu einer Gruppe zusammentreten, die in irgendeiner Beziehung seine Gesinnungsgenossen sind. Er darf mehreren derartigen Vereinen — „Einzelgruppen" nennt sie der Verfasser — angehören, aber nicht beliebig vielen, sondern etwa fünf, zum Beispiel für Katholizismus, Kapitalismus, Antisemitismus, Freihandel und Denkmal¬ pflege. Jeder wird sich die Gruppen heraussuchen, deren Sache ihm besonders am Herzen liegt, und wird Bestrebungen, die ihm weniger wichtig sind, nicht unterstützen. Ja, es ist möglich, daß er alle fünf Stimmen einer einzigen Gruppe widmet. Auf diese Art „wird erreicht, daß jeder gleichsam bereits in seinem Innern eine Majoritätsentscheidung fällt, und daß die Ziele, welche zum politi¬ schen Wettkampf miteinander antreten, auch wirklich die dem einzelnen wichtig¬ sten sind" (a. a. O. S. 21). Innerhalb der Einzelgruppe darf jeder Staats¬ bürger Anträge stellen und hat gleiches Stimmrecht. Beschlüsse einer Einzel¬ gruppe gehen als Anträge an eine „Mittelgruppe", die aus Abgeordneten solcher Einzelgruppen besteht, die etwas Gemeinsames in ihrem Programm haben. Beschlusse der Mittelgruppen wiederum gehen als Anträge an die „Fachparla¬ mente", die aus Abgeordneten der Mittelgruppen bestehen. Es gibt drei Fach¬ parlamente: eins für kulturelle, eins für wirtschaftliche Interessen, eins für Staatsnotwendigkeiten (Finanzen, Heerwesen, innere und auswärtige Politik). Von je drei Abgeordneten einer Mittelgruppe muß einer ins Parlament der Staatsnotwendigkeiten; die beiden anderen können beliebig verteilt werden. Die Beschlüsse eines Fachparlaments gelten aus den Gebieten, wofür sie zuständig, sind, als Volks befchlüfse. Für den Wahl- und Abstimmungsmodus macht Weltsch noch besondere Vorschläge, die alle den Zweck haben, brutale Majori¬ sterungen eines Bürgers oder einer Gruppe zu verhindern. Denkt man sich das System ausgeführt, fo würde in der Tat das Volk eine vollständig organisierte politische Masse sein, in der der Wille jedes einzelnen an einer Stelle zum Aus¬ druck käme, die seiner Urteilsfähigkeit und seinen Interessen völlig angepaßt wäre, und in der dieser Wille zweckdienlich weitergeleitet würde in immer größere Kreise der Gesamtheit. Aber freilich ist das System ziemlich kompliziert und setzt zu große Reife bei der Masse voraus. Es dürfte Millionen von Staats¬ bürgern geben, die nicht urteilsfähig genug sind, die für sie passenden Einzel¬ gruppen herauszufinden, oder die zu denkfaul sind, um Lust zu haben, sich über¬ haupt irgendwo anzuschließen, oder die selbst dann, wenn sie angeschlossen sind, ihre Bequemlichkeit zu sehr lieben, als daß sie gewillt wären, eine Meinung in der Gruppe zu äußern und zu vertreten. Das Berufs- und Geldsackinteresse veranlaßt die Leute ja zum Zusammenschluß, aber die „Einzelgruppe" soll ja eben nicht durch Berufs- und Geldsackinteressen, sondern durch freie Überzeugung' zusammengehalten werden. Schon jetzt gehen viele Wähler nicht einmal an dein einen Wahltag zur Urne. Wieviel schwerer wird es da sein, dauerndes Interesse für die Mitarbeit auch nur in einer dieser „Einzelgruppen" zu erzielen. Beteiligt sich die große Masse aber nicht an den Einzelgruppen, dann ist es wieder nicht gelungen, den wahren Volkswillen zur Äußerung zu bringen. Dann betätigt sich -) Felix Weltsch, Organische Demokratie. Der Neue Geist, Verlag, Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/16>, abgerufen am 09.11.2024.