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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.

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Zur Neugestaltung des Deutschen Volksstaates

Äeren Jamnierzustände die "Deutsche Geschichte" von Karl Biedermann dem,
der sich mit dem trostlosesten Bild eines großen Volkes vertraut machen will,
Auskunft gibt. Manches ist ja besser geworden, was die Verfassung von 1871
angeht. Aber es ist kein Zweifel, daß wir heute nicht so viel wissen, wie man
in hundert Jahren über das wissen wird, was z. B. auch während des Krieges
im Sinn des Partikularismus, der Rivalitäten und der Hemmungen unter der
Decke vor sich gegangen ist; über diese öden und unheilvollen Dinge'sind wir noch
längst nicht hinaus. Man denke nur an die litauisch-sächsische Frage, an die
Widerstände in bezug auf die Neichsfiuanzen, das Steuerwesen, die sich immer
von neuem abspielen, weil die leine Regierung so, die andere so will! Das hat die
Reichsgründung nicht getötet. Der Krieg hat die Gegensätze -- vgl. die Grenzsperren
betreffend Lebensmittel und ihre Folgeerscheinungen -- teilweise erst recht belebt.
Wir täuschen uns gewaltig über das wahre Wesen unserer 1870 so schwer
errungenen Einheit! Sie wird oft nur mühsam aufrecht erhalten. Bismarck
wäre ja 1370 gern viel weiter gegangen. Er täuschte sich nicht! Aber e"
konnte -- besonders wegen der Dynastien! -- nicht weiter gehen, keine wirklich"
Einheit schaffen. Was 1871 zustande kam ist ein Bund voll offenkundiger ein¬
zelner Schwierigkeiten, die durch d le fanatisch festgoh ältere Eig enbrötelei Größerer,
Kleinerer und Allerkleinster bedingt waren, durch "Souveränitätsschwindel", wie
Bismarck es genannt hat. Eifersucht, Eigennutz, Neid, ja Haß, Blindheit, Vor-
eingenommenh!eilen, ererbte und nie beseitigte blöde Vorurteile, Verstocktheit,
Dunkel, Hochmut, Kurzsichtigkeit, Engherzigkeit, -- das ist die eine und sehr
wirksame Seite dieser Selbständigkeiten nach 1871; Dinge, die in anderen großen
Staaten und Reichen höchstens landschaftlich, nicht aber politisch eine Roll-
spielen. Und das wirkt bei uns im großen wie im Keinen. Wir begreifen heute
Nicht mehr die Zustände vor dem Zustandekommen des Zollvereins, den der
Württemberger F. List anregte. Wir begreifen nicht, daß es eine Zeit gab, wo
-ein württcmber-gischer Minister die Bahn von Horb nach Sulz, anstatt durchs
Reckartal, lieber in weitem Bogen über die Höhen führen wollte, weil sie am
Neckar durch zwei oder drei Kilometer Hohenzollernsches "Ausland" geleitet
werden mußte! Man wird später aber ebensowenig begreifen, was zur heutigen
"Einheit" gehört: daß Preußen die Neichselsenbahnen und die für Lothringen
wünschenswerte Moselkanalisation nicht zustande kommen ließ; daß Baden'die
Kniebisbahn und die Donauregulierung bei Tuttlingen verhinderte; daß die
Strelitzer, statt sich mit den Schwerinern zu einem Lande zu vereinigen, dagegen
protestierten, weil die Strelitzer weniger Steuern zahlen und.weil Neustrelitz
Residenz bleiben müsse. Man versteht es ja schon heute nicht, daß des
Deutschen Kaisers Geburtstag in Bayern an den Hochschulen und Schulen nicht
gefeiert wurde. Dahin gehört auch der dumme Streit um die Hissung der
Reichsfarben bei offiziellen Gelegenheiten in Bayern und das lange Hin und Her
über die Anbringung der deutschen Flagge auf den württembevgischen usw.
Bodenseedampsern. In anderen Nationalstaaten wäre so etwas einfach unmög¬
lich! Man wird auch künftig einmal die bayerischen Sonderbriefmarken ebenso¬
wenig verstehen, wie man -- im Hinblick auf das nationaler denkende
Württemberg -- zugeben wird, daß durch deren Aufgabe das bayerische Reservat¬
recht hätte beeinträchtigt werden können.

Man glaube aber doch ja nicht, daß im Grunde die Bodenseeflagge oder
die Sonderb'riesmarke -- im Hinblick aufs Ausland wie auf das nationale
Bewußtsein -- weniger bedeutsam sei, als die verhinderten Neichseisenbahnen.
Unsere Feinde sehe" das; bei uns ober sehen es die wenigsten. Dazu sind wir
viel zu wenig national geschult, viel zu partiLularchtsch empfindlich.

Wir haben eben jeder nicht nur ein Vaterland, wie der Franzose usw.,
sondern wir haben, noch aus den Zeilen des späteren Mittelalters und des
Westfälischen Friedens her -- jeder zwei Vaterländer. Da liegt's!


So lange die gnaden-, orden- und stellenspendenden Monarchen da waren,
-mußten die zwei Vaterländer auch bestehen -- das große und das kleinere. Die


K*
Zur Neugestaltung des Deutschen Volksstaates

Äeren Jamnierzustände die „Deutsche Geschichte" von Karl Biedermann dem,
der sich mit dem trostlosesten Bild eines großen Volkes vertraut machen will,
Auskunft gibt. Manches ist ja besser geworden, was die Verfassung von 1871
angeht. Aber es ist kein Zweifel, daß wir heute nicht so viel wissen, wie man
in hundert Jahren über das wissen wird, was z. B. auch während des Krieges
im Sinn des Partikularismus, der Rivalitäten und der Hemmungen unter der
Decke vor sich gegangen ist; über diese öden und unheilvollen Dinge'sind wir noch
längst nicht hinaus. Man denke nur an die litauisch-sächsische Frage, an die
Widerstände in bezug auf die Neichsfiuanzen, das Steuerwesen, die sich immer
von neuem abspielen, weil die leine Regierung so, die andere so will! Das hat die
Reichsgründung nicht getötet. Der Krieg hat die Gegensätze — vgl. die Grenzsperren
betreffend Lebensmittel und ihre Folgeerscheinungen — teilweise erst recht belebt.
Wir täuschen uns gewaltig über das wahre Wesen unserer 1870 so schwer
errungenen Einheit! Sie wird oft nur mühsam aufrecht erhalten. Bismarck
wäre ja 1370 gern viel weiter gegangen. Er täuschte sich nicht! Aber e»
konnte — besonders wegen der Dynastien! — nicht weiter gehen, keine wirklich«
Einheit schaffen. Was 1871 zustande kam ist ein Bund voll offenkundiger ein¬
zelner Schwierigkeiten, die durch d le fanatisch festgoh ältere Eig enbrötelei Größerer,
Kleinerer und Allerkleinster bedingt waren, durch „Souveränitätsschwindel", wie
Bismarck es genannt hat. Eifersucht, Eigennutz, Neid, ja Haß, Blindheit, Vor-
eingenommenh!eilen, ererbte und nie beseitigte blöde Vorurteile, Verstocktheit,
Dunkel, Hochmut, Kurzsichtigkeit, Engherzigkeit, — das ist die eine und sehr
wirksame Seite dieser Selbständigkeiten nach 1871; Dinge, die in anderen großen
Staaten und Reichen höchstens landschaftlich, nicht aber politisch eine Roll-
spielen. Und das wirkt bei uns im großen wie im Keinen. Wir begreifen heute
Nicht mehr die Zustände vor dem Zustandekommen des Zollvereins, den der
Württemberger F. List anregte. Wir begreifen nicht, daß es eine Zeit gab, wo
-ein württcmber-gischer Minister die Bahn von Horb nach Sulz, anstatt durchs
Reckartal, lieber in weitem Bogen über die Höhen führen wollte, weil sie am
Neckar durch zwei oder drei Kilometer Hohenzollernsches „Ausland" geleitet
werden mußte! Man wird später aber ebensowenig begreifen, was zur heutigen
„Einheit" gehört: daß Preußen die Neichselsenbahnen und die für Lothringen
wünschenswerte Moselkanalisation nicht zustande kommen ließ; daß Baden'die
Kniebisbahn und die Donauregulierung bei Tuttlingen verhinderte; daß die
Strelitzer, statt sich mit den Schwerinern zu einem Lande zu vereinigen, dagegen
protestierten, weil die Strelitzer weniger Steuern zahlen und.weil Neustrelitz
Residenz bleiben müsse. Man versteht es ja schon heute nicht, daß des
Deutschen Kaisers Geburtstag in Bayern an den Hochschulen und Schulen nicht
gefeiert wurde. Dahin gehört auch der dumme Streit um die Hissung der
Reichsfarben bei offiziellen Gelegenheiten in Bayern und das lange Hin und Her
über die Anbringung der deutschen Flagge auf den württembevgischen usw.
Bodenseedampsern. In anderen Nationalstaaten wäre so etwas einfach unmög¬
lich! Man wird auch künftig einmal die bayerischen Sonderbriefmarken ebenso¬
wenig verstehen, wie man — im Hinblick auf das nationaler denkende
Württemberg — zugeben wird, daß durch deren Aufgabe das bayerische Reservat¬
recht hätte beeinträchtigt werden können.

Man glaube aber doch ja nicht, daß im Grunde die Bodenseeflagge oder
die Sonderb'riesmarke — im Hinblick aufs Ausland wie auf das nationale
Bewußtsein — weniger bedeutsam sei, als die verhinderten Neichseisenbahnen.
Unsere Feinde sehe« das; bei uns ober sehen es die wenigsten. Dazu sind wir
viel zu wenig national geschult, viel zu partiLularchtsch empfindlich.

Wir haben eben jeder nicht nur ein Vaterland, wie der Franzose usw.,
sondern wir haben, noch aus den Zeilen des späteren Mittelalters und des
Westfälischen Friedens her — jeder zwei Vaterländer. Da liegt's!


So lange die gnaden-, orden- und stellenspendenden Monarchen da waren,
-mußten die zwei Vaterländer auch bestehen — das große und das kleinere. Die


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[0075] Zur Neugestaltung des Deutschen Volksstaates Äeren Jamnierzustände die „Deutsche Geschichte" von Karl Biedermann dem, der sich mit dem trostlosesten Bild eines großen Volkes vertraut machen will, Auskunft gibt. Manches ist ja besser geworden, was die Verfassung von 1871 angeht. Aber es ist kein Zweifel, daß wir heute nicht so viel wissen, wie man in hundert Jahren über das wissen wird, was z. B. auch während des Krieges im Sinn des Partikularismus, der Rivalitäten und der Hemmungen unter der Decke vor sich gegangen ist; über diese öden und unheilvollen Dinge'sind wir noch längst nicht hinaus. Man denke nur an die litauisch-sächsische Frage, an die Widerstände in bezug auf die Neichsfiuanzen, das Steuerwesen, die sich immer von neuem abspielen, weil die leine Regierung so, die andere so will! Das hat die Reichsgründung nicht getötet. Der Krieg hat die Gegensätze — vgl. die Grenzsperren betreffend Lebensmittel und ihre Folgeerscheinungen — teilweise erst recht belebt. Wir täuschen uns gewaltig über das wahre Wesen unserer 1870 so schwer errungenen Einheit! Sie wird oft nur mühsam aufrecht erhalten. Bismarck wäre ja 1370 gern viel weiter gegangen. Er täuschte sich nicht! Aber e» konnte — besonders wegen der Dynastien! — nicht weiter gehen, keine wirklich« Einheit schaffen. Was 1871 zustande kam ist ein Bund voll offenkundiger ein¬ zelner Schwierigkeiten, die durch d le fanatisch festgoh ältere Eig enbrötelei Größerer, Kleinerer und Allerkleinster bedingt waren, durch „Souveränitätsschwindel", wie Bismarck es genannt hat. Eifersucht, Eigennutz, Neid, ja Haß, Blindheit, Vor- eingenommenh!eilen, ererbte und nie beseitigte blöde Vorurteile, Verstocktheit, Dunkel, Hochmut, Kurzsichtigkeit, Engherzigkeit, — das ist die eine und sehr wirksame Seite dieser Selbständigkeiten nach 1871; Dinge, die in anderen großen Staaten und Reichen höchstens landschaftlich, nicht aber politisch eine Roll- spielen. Und das wirkt bei uns im großen wie im Keinen. Wir begreifen heute Nicht mehr die Zustände vor dem Zustandekommen des Zollvereins, den der Württemberger F. List anregte. Wir begreifen nicht, daß es eine Zeit gab, wo -ein württcmber-gischer Minister die Bahn von Horb nach Sulz, anstatt durchs Reckartal, lieber in weitem Bogen über die Höhen führen wollte, weil sie am Neckar durch zwei oder drei Kilometer Hohenzollernsches „Ausland" geleitet werden mußte! Man wird später aber ebensowenig begreifen, was zur heutigen „Einheit" gehört: daß Preußen die Neichselsenbahnen und die für Lothringen wünschenswerte Moselkanalisation nicht zustande kommen ließ; daß Baden'die Kniebisbahn und die Donauregulierung bei Tuttlingen verhinderte; daß die Strelitzer, statt sich mit den Schwerinern zu einem Lande zu vereinigen, dagegen protestierten, weil die Strelitzer weniger Steuern zahlen und.weil Neustrelitz Residenz bleiben müsse. Man versteht es ja schon heute nicht, daß des Deutschen Kaisers Geburtstag in Bayern an den Hochschulen und Schulen nicht gefeiert wurde. Dahin gehört auch der dumme Streit um die Hissung der Reichsfarben bei offiziellen Gelegenheiten in Bayern und das lange Hin und Her über die Anbringung der deutschen Flagge auf den württembevgischen usw. Bodenseedampsern. In anderen Nationalstaaten wäre so etwas einfach unmög¬ lich! Man wird auch künftig einmal die bayerischen Sonderbriefmarken ebenso¬ wenig verstehen, wie man — im Hinblick auf das nationaler denkende Württemberg — zugeben wird, daß durch deren Aufgabe das bayerische Reservat¬ recht hätte beeinträchtigt werden können. Man glaube aber doch ja nicht, daß im Grunde die Bodenseeflagge oder die Sonderb'riesmarke — im Hinblick aufs Ausland wie auf das nationale Bewußtsein — weniger bedeutsam sei, als die verhinderten Neichseisenbahnen. Unsere Feinde sehe« das; bei uns ober sehen es die wenigsten. Dazu sind wir viel zu wenig national geschult, viel zu partiLularchtsch empfindlich. Wir haben eben jeder nicht nur ein Vaterland, wie der Franzose usw., sondern wir haben, noch aus den Zeilen des späteren Mittelalters und des Westfälischen Friedens her — jeder zwei Vaterländer. Da liegt's! So lange die gnaden-, orden- und stellenspendenden Monarchen da waren, -mußten die zwei Vaterländer auch bestehen — das große und das kleinere. Die K*

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/75>, abgerufen am 05.02.2025.