Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.Die Rolle des Gebildeten auf der politischen Zeitlöhne Die Rolle des Gebildeten auf der politischen Zeitbühne Vr. Alexander Ringleb von s ist sin bemerkenswerter Zug unserer Zeit, in der Welt unserer Ergriffen hören wir Tolstois schmerzdurchzittertes Lebensbekenntnis. Und Es ist ein hervorstechender Zug deutschen Wesens, neben aller Achtung vor Die Rolle des Gebildeten auf der politischen Zeitlöhne Die Rolle des Gebildeten auf der politischen Zeitbühne Vr. Alexander Ringleb von s ist sin bemerkenswerter Zug unserer Zeit, in der Welt unserer Ergriffen hören wir Tolstois schmerzdurchzittertes Lebensbekenntnis. Und Es ist ein hervorstechender Zug deutschen Wesens, neben aller Achtung vor <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0063" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335245"/> <fw type="header" place="top"> Die Rolle des Gebildeten auf der politischen Zeitlöhne</fw><lb/> </div> <div n="1"> <head> Die Rolle des Gebildeten auf der politischen Zeitbühne<lb/><note type="byline"> Vr. Alexander Ringleb</note> von </head><lb/> <p xml:id="ID_248"> s ist sin bemerkenswerter Zug unserer Zeit, in der Welt unserer<lb/> nachdenklichen die moderne russische Literatur und ihre Verherr¬<lb/> lichung des Jdsalanarchismus zu preisen. Begreiflich für alle aus<lb/> dem gesamten Zeitgeschehen, verständlich aber'ganz besonders aus<lb/> der psychischen Verfassung unserer Gebildeten, die, wie ihre geisti-<lb/> „ gen Ahnen aus der Nachzeit des Dreißigjährigen Krieges, Licht¬<lb/> sucher geworden sind. Seelen, die den Pfad verloren hieraus'aus der Finsternis,<lb/> tiefer Zerrissenheit des inneren und äußeren Erlebens.</p><lb/> <p xml:id="ID_249"> Ergriffen hören wir Tolstois schmerzdurchzittertes Lebensbekenntnis. Und<lb/> doch stehen wir nicht so sehr im Banne klaren Erkennens spezifisch russischer Ver¬<lb/> hältnisse, als vielmehr in der Wiederaufnahme der Menschheitsideen, die sechs¬<lb/> hundert Jahre vor Christus La-o-the in dunkle Gleichnisse fernöstlicher Symbolik<lb/> gekleidet, die am Vorabend der großen Revolution Rousseau den Westvölkern ver¬<lb/> kündet und die in bewußter Anlehnung an beide Graf Tolstoi zu verwirklichen sich<lb/> bestrebte. Diese Menschheitsideen kamen einer allgemeinen Zeitströmung ent¬<lb/> gegen. Hatte die Antike und das Mittelalter die überkommende Gestaltung<lb/> des menschlichen Befindens als etwas im letzten Grunde Gottgewolltes, Unab¬<lb/> änderliches hingenommen, Einzelerscheinungen des Elends und der Not nach<lb/> bestem Vermögen zu lindern gesucht, so hatte sie doch wie den Gesamtstand von<lb/> Grund aus zu andern sich bemüht. Die Moderne bringt eine Wandlung des<lb/> Lebensproblems. Die Gesellschaft tritt in den Vordergrund. Das Ver¬<lb/> hältnis von Mensch zu Mensch wird umsomehr zum abern des Lebens, als die<lb/> Hinwendung zum Metaphysischen, 'die Anknüpfung an eine über-weltlich-über-<lb/> sinnliche Macht innerlich abgelehnt wird. Unter dem Einfluß der Technik werden<lb/> die gegenseitigen Beziehungen tausendfach gesteigert. Die Bedeutung der wirt¬<lb/> schaftlichen Zustände .ist dem Zeitalter des Entwicklungsgedankens und der<lb/> Milieutheorie fast der wichtigste Faktor in der neuen Rechnung, die in Fort¬<lb/> setzung Hegelscher Gedanken von Karl Marx der alternden Menschheit vorgesetzt<lb/> wird. Seit Jahrtausenden hatte die Gesellschaft eine Struktur aristokratischer<lb/> Art. Nur eine Keine Minderheit trug die Kultur und besaß sie in vollem<lb/> Sinne. Den andern fiel nur ein dürftiger Anteil an den Gütern des Lebens zu.<lb/> Noch die Höhle des Humanismus behandelt diese Kluft als ein unüberwindliches<lb/> Schicksal. Aber schon die Ausklärung hatte mehr und mehr jener Scheidung ent¬<lb/> gegengewirkt. Die Masse will immer weniger ein bloßes Objekt wohlwollender<lb/> Fürsorge sein; sie drängt zu selbständiger Mitwirkung, zur Entscheidung über den<lb/> Gehalt und die Richtung des Lebens. „Was in Frankreuh gegen den Schluß des<lb/> achtzehnten Jahrhunderts in stürmische Erschütterung käuflich, das hat im neun¬<lb/> zehnten Jahrhundert die ganze Kulturwelt durchdrungen, den: konnte sich auch<lb/> das deutsche Leben nicht entziehen." (Eucken.) Und wir Gebildeten im deutschen<lb/> Volte denken auch heute nicht an Widerstand gegenüber dem Ablauf eines ge¬<lb/> schichtlichen Prozesses; nur lassen wir uns gerade in diesen Tagen das Recht,<lb/> deutscher Gründlichkeit in der Gesamtbeurteiluwg nicht verkümmern. Nicht<lb/> dürfen wir heute im Bewußtsein tiefster Erkenntnisse uns erhaben dünken über<lb/> eine Öffentlichkeit, uns degradiert empfinden, wenn uns alle verstehen würden.<lb/> Unser Ziel soll Wahrheit sein, Klarheit über uns selbst und unser Volk, genaue<lb/> Abgrenzung der sich gegenseitig bekämpfenden Einflüsse, die aus tausend<lb/> Strömen dem Gestaltungsprozeß einer neuen Lebensform zufließen.</p><lb/> <p xml:id="ID_250" next="#ID_251"> Es ist ein hervorstechender Zug deutschen Wesens, neben aller Achtung vor<lb/> sich selbst unermüdlich Fremdes, Fernliegendes in sich aufMuehmen, fremde<lb/> Eigenart zu suchen und zu lieben, aber daneben, wie jedes junge Volk, kritiklos<lb/> Fremdes zu bewundern und im breitesten Maße auf sich selbst zu übertragen.<lb/> Für 'den Staatsgedanken römischer Ausprägung hat sich der Deutsche ebenso ent¬<lb/> schlossen eingesetzt wie für die rechtlich geordnete Gemeinschaft aller Gläubigen,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0063]
Die Rolle des Gebildeten auf der politischen Zeitlöhne
Die Rolle des Gebildeten auf der politischen Zeitbühne
Vr. Alexander Ringleb von
s ist sin bemerkenswerter Zug unserer Zeit, in der Welt unserer
nachdenklichen die moderne russische Literatur und ihre Verherr¬
lichung des Jdsalanarchismus zu preisen. Begreiflich für alle aus
dem gesamten Zeitgeschehen, verständlich aber'ganz besonders aus
der psychischen Verfassung unserer Gebildeten, die, wie ihre geisti-
„ gen Ahnen aus der Nachzeit des Dreißigjährigen Krieges, Licht¬
sucher geworden sind. Seelen, die den Pfad verloren hieraus'aus der Finsternis,
tiefer Zerrissenheit des inneren und äußeren Erlebens.
Ergriffen hören wir Tolstois schmerzdurchzittertes Lebensbekenntnis. Und
doch stehen wir nicht so sehr im Banne klaren Erkennens spezifisch russischer Ver¬
hältnisse, als vielmehr in der Wiederaufnahme der Menschheitsideen, die sechs¬
hundert Jahre vor Christus La-o-the in dunkle Gleichnisse fernöstlicher Symbolik
gekleidet, die am Vorabend der großen Revolution Rousseau den Westvölkern ver¬
kündet und die in bewußter Anlehnung an beide Graf Tolstoi zu verwirklichen sich
bestrebte. Diese Menschheitsideen kamen einer allgemeinen Zeitströmung ent¬
gegen. Hatte die Antike und das Mittelalter die überkommende Gestaltung
des menschlichen Befindens als etwas im letzten Grunde Gottgewolltes, Unab¬
änderliches hingenommen, Einzelerscheinungen des Elends und der Not nach
bestem Vermögen zu lindern gesucht, so hatte sie doch wie den Gesamtstand von
Grund aus zu andern sich bemüht. Die Moderne bringt eine Wandlung des
Lebensproblems. Die Gesellschaft tritt in den Vordergrund. Das Ver¬
hältnis von Mensch zu Mensch wird umsomehr zum abern des Lebens, als die
Hinwendung zum Metaphysischen, 'die Anknüpfung an eine über-weltlich-über-
sinnliche Macht innerlich abgelehnt wird. Unter dem Einfluß der Technik werden
die gegenseitigen Beziehungen tausendfach gesteigert. Die Bedeutung der wirt¬
schaftlichen Zustände .ist dem Zeitalter des Entwicklungsgedankens und der
Milieutheorie fast der wichtigste Faktor in der neuen Rechnung, die in Fort¬
setzung Hegelscher Gedanken von Karl Marx der alternden Menschheit vorgesetzt
wird. Seit Jahrtausenden hatte die Gesellschaft eine Struktur aristokratischer
Art. Nur eine Keine Minderheit trug die Kultur und besaß sie in vollem
Sinne. Den andern fiel nur ein dürftiger Anteil an den Gütern des Lebens zu.
Noch die Höhle des Humanismus behandelt diese Kluft als ein unüberwindliches
Schicksal. Aber schon die Ausklärung hatte mehr und mehr jener Scheidung ent¬
gegengewirkt. Die Masse will immer weniger ein bloßes Objekt wohlwollender
Fürsorge sein; sie drängt zu selbständiger Mitwirkung, zur Entscheidung über den
Gehalt und die Richtung des Lebens. „Was in Frankreuh gegen den Schluß des
achtzehnten Jahrhunderts in stürmische Erschütterung käuflich, das hat im neun¬
zehnten Jahrhundert die ganze Kulturwelt durchdrungen, den: konnte sich auch
das deutsche Leben nicht entziehen." (Eucken.) Und wir Gebildeten im deutschen
Volte denken auch heute nicht an Widerstand gegenüber dem Ablauf eines ge¬
schichtlichen Prozesses; nur lassen wir uns gerade in diesen Tagen das Recht,
deutscher Gründlichkeit in der Gesamtbeurteiluwg nicht verkümmern. Nicht
dürfen wir heute im Bewußtsein tiefster Erkenntnisse uns erhaben dünken über
eine Öffentlichkeit, uns degradiert empfinden, wenn uns alle verstehen würden.
Unser Ziel soll Wahrheit sein, Klarheit über uns selbst und unser Volk, genaue
Abgrenzung der sich gegenseitig bekämpfenden Einflüsse, die aus tausend
Strömen dem Gestaltungsprozeß einer neuen Lebensform zufließen.
Es ist ein hervorstechender Zug deutschen Wesens, neben aller Achtung vor
sich selbst unermüdlich Fremdes, Fernliegendes in sich aufMuehmen, fremde
Eigenart zu suchen und zu lieben, aber daneben, wie jedes junge Volk, kritiklos
Fremdes zu bewundern und im breitesten Maße auf sich selbst zu übertragen.
Für 'den Staatsgedanken römischer Ausprägung hat sich der Deutsche ebenso ent¬
schlossen eingesetzt wie für die rechtlich geordnete Gemeinschaft aller Gläubigen,
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