Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.Kirche und politische Parteien regiment war nach Luthers Meinung nur ein Notbehelf, ein Provisorium. Fast Ein für die Kirche entwürdigender Zustand ist es, wenn die Kirche ihre Der oberste Grundsatz sür jede Kirchenorganisation muß sein, daß sie mit Die Angst vor dem christlichen Volk hat die bisherige Kirchenverfassung Kirche und politische Parteien regiment war nach Luthers Meinung nur ein Notbehelf, ein Provisorium. Fast Ein für die Kirche entwürdigender Zustand ist es, wenn die Kirche ihre Der oberste Grundsatz sür jede Kirchenorganisation muß sein, daß sie mit Die Angst vor dem christlichen Volk hat die bisherige Kirchenverfassung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0212" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335394"/> <fw type="header" place="top"> Kirche und politische Parteien</fw><lb/> <p xml:id="ID_936" prev="#ID_935"> regiment war nach Luthers Meinung nur ein Notbehelf, ein Provisorium. Fast<lb/> vier Jahrhunderte lang hat dies Provisorium gedauert. Nun wird man endlich<lb/> zu den eigentlichen Gedanken der Reformation zurückkehren können, die zugleich<lb/> die des Urchristentums sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_937"> Ein für die Kirche entwürdigender Zustand ist es, wenn die Kirche ihre<lb/> obersten Behörden — Konsistorien und Oberkirchenrat -— gar nicht einmal selbst<lb/> wählt, sondern diese ihre wichtigsten Organe von der Staatsbehörde (in Preußen<lb/> vom König, in Sachsen von den in Lvangsllvis 'beauftragten Staatsministern)<lb/> eingesetzt erhielt. Die Kirche wurde nicht gefragt, ob ihr diese Männer genehm<lb/> waren oder nicht. Die Kirche kam auf diese Meise in Abhängigkeit von den<lb/> politischen Parteien. Bei der einseitigen Vorherrschaft der konservativen Partei<lb/> in Preußen war es selbstverständlich, daß ein konservatives Kirchenregiment der<lb/> Kirche Wider ihren Willen aufgedrängt wurde. Männer wie der Präsident des<lb/> Oberkirchenrath Voigts, der dazu noch Won einer rein lutherischen Landeskirche<lb/> herkam, wurden der unierten preußischen Landeskirche gegen ihren Willen als<lb/> oberste Spitze aufgedrängt; die Kirche hatte gar keine Möglichkeit, solche Männer<lb/> abzulehnen oder auch nur sich zu verbitten. In freiheitlicher regierten Bundes-<lb/> stauten, wie zum Beispiel Baden, zeigten sich weniger Mißstände. Der badische<lb/> Oberkirchenrat wurde vielmehr vom Vertrauen der Landeskirche getragen, ebenso<lb/> wie ja auch das großherzogliche Haus eine seltene Liebe und Verehrung besaß.<lb/> Daher hat denn auch die badische Landessynode im November vorigen Jahres,<lb/> als nach der Thronentsagung des Großherzogs das landesherrliche Kirchen¬<lb/> regiment eigentlich mit gefallen war, den badischen Oberkirchenrat beauftragt, in<lb/> ihrem Namen die Geschäfte der Kirchenleitung weiter zu führen, und ihm damit<lb/> ein schönes Zeichen ihres Vertrauens ausgesprochen.</p><lb/> <p xml:id="ID_938"> Der oberste Grundsatz sür jede Kirchenorganisation muß sein, daß sie mit<lb/> dem Begriff „Kirche" — sLolssis, — Gemeinde Ernst macht. Luther betont in<lb/> vielen feiner Schriften mit allem Nachdruck, daß Kirche soviel bedeutet wie christ¬<lb/> liches Volk. Er sagt -in den Schmalkaldischen Artikeln: „Das weiß heute<lb/> (gottlob) ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die<lb/> Gläubigen, Heiligen, die Schafe, die, ihres Hirten Stimme hören." Mit dieser<lb/> Wahrheit gilt es Ernst zu machen. Kirche sind nicht die Pfarrer, Konsistorien<lb/> 'und Oberkirchenräte, sondern das Volk, sofern es durch die Mächte des christlichen<lb/> Glaubens, der Liebe und Zucht sich bestimmen läßt. Die bisherige Kirchen-<lb/> verfassung war zum größeren Teile durch die Angst vor diesem Volk diktiert. Die<lb/> Gemeinde- und Synodalordnung suchte durch ein möglichst undemokratisches<lb/> Wahlverfahren, so weit es nur ging, den Einfluß- dieses Volkes auszuschalten.<lb/> Zwar der Form nach sah es nicht so schlimm aus, wie das berüchtigte preußische<lb/> Landtagswahlrecht — so ungescheut durfte denn doch nicht in der Kirche die<lb/> Herrschaft der größten Vermögen proklamiert werden. Aber das kirchliche Wahl¬<lb/> recht wirkte fo, daß alle freiheitlich gerichteten Männer ans den oberen Behörden<lb/> ausgeschieden wurden. Denn durch allgemeine demokratisch eingerichtete Wahlen<lb/> wurden nur die Vertreter der Einzelgemeinden gewählt; diese wählten rhre<lb/> Vertrauensmänner in die Kveissynoden (eine an Bedeutungslosigkeit leidende<lb/> Instanz). Die Kreissynoden wählten die Provinzialshnoden, und letztere die<lb/> Generalshnode. Und als ob es nicht schon mit den landesherrlich ernannten<lb/> Konsistorien genug wäre. Damit ja auel die Synoden in Abhängigkeit von den<lb/> Staatsbehörden blieben, wurden eine Reihe von Mitgliedern der Pvovinzial-<lb/> synoden und der Generalsynode vom Landesherrn ernannt -— wiederum eine<lb/> sinnlose, die Ehre der Kirche kränkende Bestimmung. Diese Ernennungen ver¬<lb/> stärkten stets die extremste Partei in der .Kirche und wirkten so genau das Gegen¬<lb/> teil von dem, was anfangs beabsichtigt war, einen Ausgleich der Richtungen,<lb/> eine Korrektur einer zu einseitigen Zusammensetzung der Synoden herbei¬<lb/> zuführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_939" next="#ID_940"> Die Angst vor dem christlichen Volk hat die bisherige Kirchenverfassung<lb/> eingegeben — nämlich die Angst, als ob das Volk, wenn es frei und ungehindert<lb/> seine Meinung in der Kirche'zur Geltung bringen könnte, nicht als christliches,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0212]
Kirche und politische Parteien
regiment war nach Luthers Meinung nur ein Notbehelf, ein Provisorium. Fast
vier Jahrhunderte lang hat dies Provisorium gedauert. Nun wird man endlich
zu den eigentlichen Gedanken der Reformation zurückkehren können, die zugleich
die des Urchristentums sind.
Ein für die Kirche entwürdigender Zustand ist es, wenn die Kirche ihre
obersten Behörden — Konsistorien und Oberkirchenrat -— gar nicht einmal selbst
wählt, sondern diese ihre wichtigsten Organe von der Staatsbehörde (in Preußen
vom König, in Sachsen von den in Lvangsllvis 'beauftragten Staatsministern)
eingesetzt erhielt. Die Kirche wurde nicht gefragt, ob ihr diese Männer genehm
waren oder nicht. Die Kirche kam auf diese Meise in Abhängigkeit von den
politischen Parteien. Bei der einseitigen Vorherrschaft der konservativen Partei
in Preußen war es selbstverständlich, daß ein konservatives Kirchenregiment der
Kirche Wider ihren Willen aufgedrängt wurde. Männer wie der Präsident des
Oberkirchenrath Voigts, der dazu noch Won einer rein lutherischen Landeskirche
herkam, wurden der unierten preußischen Landeskirche gegen ihren Willen als
oberste Spitze aufgedrängt; die Kirche hatte gar keine Möglichkeit, solche Männer
abzulehnen oder auch nur sich zu verbitten. In freiheitlicher regierten Bundes-
stauten, wie zum Beispiel Baden, zeigten sich weniger Mißstände. Der badische
Oberkirchenrat wurde vielmehr vom Vertrauen der Landeskirche getragen, ebenso
wie ja auch das großherzogliche Haus eine seltene Liebe und Verehrung besaß.
Daher hat denn auch die badische Landessynode im November vorigen Jahres,
als nach der Thronentsagung des Großherzogs das landesherrliche Kirchen¬
regiment eigentlich mit gefallen war, den badischen Oberkirchenrat beauftragt, in
ihrem Namen die Geschäfte der Kirchenleitung weiter zu führen, und ihm damit
ein schönes Zeichen ihres Vertrauens ausgesprochen.
Der oberste Grundsatz sür jede Kirchenorganisation muß sein, daß sie mit
dem Begriff „Kirche" — sLolssis, — Gemeinde Ernst macht. Luther betont in
vielen feiner Schriften mit allem Nachdruck, daß Kirche soviel bedeutet wie christ¬
liches Volk. Er sagt -in den Schmalkaldischen Artikeln: „Das weiß heute
(gottlob) ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die
Gläubigen, Heiligen, die Schafe, die, ihres Hirten Stimme hören." Mit dieser
Wahrheit gilt es Ernst zu machen. Kirche sind nicht die Pfarrer, Konsistorien
'und Oberkirchenräte, sondern das Volk, sofern es durch die Mächte des christlichen
Glaubens, der Liebe und Zucht sich bestimmen läßt. Die bisherige Kirchen-
verfassung war zum größeren Teile durch die Angst vor diesem Volk diktiert. Die
Gemeinde- und Synodalordnung suchte durch ein möglichst undemokratisches
Wahlverfahren, so weit es nur ging, den Einfluß- dieses Volkes auszuschalten.
Zwar der Form nach sah es nicht so schlimm aus, wie das berüchtigte preußische
Landtagswahlrecht — so ungescheut durfte denn doch nicht in der Kirche die
Herrschaft der größten Vermögen proklamiert werden. Aber das kirchliche Wahl¬
recht wirkte fo, daß alle freiheitlich gerichteten Männer ans den oberen Behörden
ausgeschieden wurden. Denn durch allgemeine demokratisch eingerichtete Wahlen
wurden nur die Vertreter der Einzelgemeinden gewählt; diese wählten rhre
Vertrauensmänner in die Kveissynoden (eine an Bedeutungslosigkeit leidende
Instanz). Die Kreissynoden wählten die Provinzialshnoden, und letztere die
Generalshnode. Und als ob es nicht schon mit den landesherrlich ernannten
Konsistorien genug wäre. Damit ja auel die Synoden in Abhängigkeit von den
Staatsbehörden blieben, wurden eine Reihe von Mitgliedern der Pvovinzial-
synoden und der Generalsynode vom Landesherrn ernannt -— wiederum eine
sinnlose, die Ehre der Kirche kränkende Bestimmung. Diese Ernennungen ver¬
stärkten stets die extremste Partei in der .Kirche und wirkten so genau das Gegen¬
teil von dem, was anfangs beabsichtigt war, einen Ausgleich der Richtungen,
eine Korrektur einer zu einseitigen Zusammensetzung der Synoden herbei¬
zuführen.
Die Angst vor dem christlichen Volk hat die bisherige Kirchenverfassung
eingegeben — nämlich die Angst, als ob das Volk, wenn es frei und ungehindert
seine Meinung in der Kirche'zur Geltung bringen könnte, nicht als christliches,
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