Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.Der Rätegedanke Damit haben wir den Grundgedanken des Rätesystems bezeichnet: die Der Gedanke also, die politischen Rechte auf die Arbeitenden zu be¬ Aber auch sonst macht der wunderschöne Grundsatz, daß wer nicht arbeitet, Aber nun kommt eine zweite Frage, eine wahre Doktorfrage: Was heißt Der Rätegedanke Damit haben wir den Grundgedanken des Rätesystems bezeichnet: die Der Gedanke also, die politischen Rechte auf die Arbeitenden zu be¬ Aber auch sonst macht der wunderschöne Grundsatz, daß wer nicht arbeitet, Aber nun kommt eine zweite Frage, eine wahre Doktorfrage: Was heißt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0207" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335389"/> <fw type="header" place="top"> Der Rätegedanke</fw><lb/> <p xml:id="ID_918"> Damit haben wir den Grundgedanken des Rätesystems bezeichnet: die<lb/> politischen Rechte sind beschränkt auf die Arbeitenden, und die einfachste politische<lb/> Einheit, aus der die staatlichen Machtfaktoren aufgebaut werden, ist die Arbeits¬<lb/> stätte. Das ist nun abermals nicht so revolutionär, nicht einmal so neu, wie es<lb/> klingt. Faßt man den Begriff Arbeit weit genug, so gehört zu den Wahlberech¬<lb/> tigten einfach «wieder das ganze Volk, mitAusnahme einer kleinenZcchl ausgemach¬<lb/> ter Nichtsteuer und Parasiten, die hier und da im Lande zerstreut wohnen und<lb/> mit ihren Stimmen am Wahlresultat so gut wie gar nichts ändern wurden.<lb/> Denn solcher, die wirklich nur von den Zinsen ihres Kapitals leben, gibt es ja<lb/> doch Wohl nur herzlich wenige und jedenfalls nicht annähernd so viele, wie dema¬<lb/> gogische Hetzer ihren leichtgläubigen Zuhörern vorreden. Ein ganzes politisches<lb/> System nur auf diesen Schwarm Drohnen zuzuschneiden, lohnt sich wahrhaftig<lb/> nicht; ganz abgesehen davon, daß der Hieb danebengeht. Oder glaubt man, der<lb/> behagliche Verzeyrer seiner Renten werde sich dadurch zu produktiver Arbeit er¬<lb/> ziehen lassen, daß er sonst nicht wählen darf? Er wird um eines sorgenlosen<lb/> und bequemen Genießerdaseins willen gern auf alle Arten von Wahlrecht ver¬<lb/> zichten. Dahingegen wird es keine Mühe machen, das Parasitentum mit gesetz¬<lb/> lichen Maßnahmen wie Erbschaftssteuer und .Verbrauchsbeschränkung zu be¬<lb/> kämpfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_919"> Der Gedanke also, die politischen Rechte auf die Arbeitenden zu be¬<lb/> schränken, ist, theoretisch genommen, durchaus nicht revolutionär. In der<lb/> Praxis freilich stellt sich die Sache ein wenig anders dar. Zunächst hätten die<lb/> Berufsgenossen, die dauernd in großer Zahl beieinander sind, die sich verstän¬<lb/> digen und einen Gesamtwillen kristallisieren können, das politische Übergewicht<lb/> über andere, die nur in kleinen Gruppen oder vereinzelt arbeiten. Das tägliche<lb/> Zusammensein in Massen ist aber beschränkt auf die großen Fabriken, und so geht<lb/> mit dem Rätesystem die politische Führung an die industriellen Betriebe mit ihrer<lb/> großstädtischen und meist radikalen Arbeiterschaft über. Dies ist der Grund,<lb/> warum praktisch das Rätesystem für den Augenblick eine Radikalisierung be¬<lb/> deutet. Würde es zu einer dauernden Staatseinrichtung gemacht, so sähen sich<lb/> die anderen Berufe gezwungen, sich ebenfalls.zu politischen Körperschaften zu¬<lb/> sammenzuschließen, und in dem Maße, wie das gelänge, hörte ä>le Führerrolle der<lb/> Betriebe allmählich auf.</p><lb/> <p xml:id="ID_920"> Aber auch sonst macht der wunderschöne Grundsatz, daß wer nicht arbeitet,<lb/> keine politischen Rechte haben soll, allerlei Schwierigkeiten. Zunächst wird man<lb/> diese Maßregel nur gegen solche anwenden dürfen, die nicht arbeiten wollen, nicht<lb/> gegen die, die nicht arbeiten können. Trauen sich unsere politischen Idealisten zu,<lb/> daß sie das immer sicher unterscheiden? Fürchten sie nicht, daß unter dem<lb/> Schutze der Arbeitslosenfürforge, der Invalidenversicherung und so weiter ein<lb/> Troß von Simulanten gezüchtet wird? Die Radikalen pflegen an den im<lb/> Grunde guten Menschen zu glauben; bei ihnen wird also dieser Einwand nicht<lb/> verfangen.</p><lb/> <p xml:id="ID_921" next="#ID_922"> Aber nun kommt eine zweite Frage, eine wahre Doktorfrage: Was heißt<lb/> arbeiten? Ursprünglich ist natürlich gemeint: mit der Hand arbeiten; der „Ar¬<lb/> beiter" im besonderen Sinne des Wortes soll die Macht in die Hände bekommen<lb/> an Stelle des Bürgers. Allmählich gab die radikale Theorie dann vor der Wirk¬<lb/> lichkeit nach. Erst kamen die armen Reinen Beamten und Schreiber hinzu, dann<lb/> die leitenden und geistigen Berufe aller Art, und heute räsonniert man: jeder,<lb/> der etwas Nützliches leistet und sich selber sein Brot verdient, ist Arbeiter. Sehr<lb/> schön! Wenn also Herr Müller einen Friseurladen besitzt, sich drei Gehilfen hält,<lb/> die seine Kunden bedienen müssen, und selber sich darauf beschränkt, die Aufsicht<lb/> zu führen, das Geld nachzuzählen und d:e Gäste zu unterhalten — also syste¬<lb/> matisch zu faullenzen: so bleibt er dennoch ein Arbeiter und behält seine politi¬<lb/> schen Rechte. Wenn dagegen Schopenhauer zehn Jahre lang über einem philo¬<lb/> sophischen System grübelt und wenn ihm diese Konzentration ermöglicht wird<lb/> durch den glücklichen Zufall, daß sein Vater ihm ein Vermögen hinterlassen hat:'<lb/> so ist er kein Arbeiter und genießt keinerlei politische Rechte. Und wie wnd man</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0207]
Der Rätegedanke
Damit haben wir den Grundgedanken des Rätesystems bezeichnet: die
politischen Rechte sind beschränkt auf die Arbeitenden, und die einfachste politische
Einheit, aus der die staatlichen Machtfaktoren aufgebaut werden, ist die Arbeits¬
stätte. Das ist nun abermals nicht so revolutionär, nicht einmal so neu, wie es
klingt. Faßt man den Begriff Arbeit weit genug, so gehört zu den Wahlberech¬
tigten einfach «wieder das ganze Volk, mitAusnahme einer kleinenZcchl ausgemach¬
ter Nichtsteuer und Parasiten, die hier und da im Lande zerstreut wohnen und
mit ihren Stimmen am Wahlresultat so gut wie gar nichts ändern wurden.
Denn solcher, die wirklich nur von den Zinsen ihres Kapitals leben, gibt es ja
doch Wohl nur herzlich wenige und jedenfalls nicht annähernd so viele, wie dema¬
gogische Hetzer ihren leichtgläubigen Zuhörern vorreden. Ein ganzes politisches
System nur auf diesen Schwarm Drohnen zuzuschneiden, lohnt sich wahrhaftig
nicht; ganz abgesehen davon, daß der Hieb danebengeht. Oder glaubt man, der
behagliche Verzeyrer seiner Renten werde sich dadurch zu produktiver Arbeit er¬
ziehen lassen, daß er sonst nicht wählen darf? Er wird um eines sorgenlosen
und bequemen Genießerdaseins willen gern auf alle Arten von Wahlrecht ver¬
zichten. Dahingegen wird es keine Mühe machen, das Parasitentum mit gesetz¬
lichen Maßnahmen wie Erbschaftssteuer und .Verbrauchsbeschränkung zu be¬
kämpfen.
Der Gedanke also, die politischen Rechte auf die Arbeitenden zu be¬
schränken, ist, theoretisch genommen, durchaus nicht revolutionär. In der
Praxis freilich stellt sich die Sache ein wenig anders dar. Zunächst hätten die
Berufsgenossen, die dauernd in großer Zahl beieinander sind, die sich verstän¬
digen und einen Gesamtwillen kristallisieren können, das politische Übergewicht
über andere, die nur in kleinen Gruppen oder vereinzelt arbeiten. Das tägliche
Zusammensein in Massen ist aber beschränkt auf die großen Fabriken, und so geht
mit dem Rätesystem die politische Führung an die industriellen Betriebe mit ihrer
großstädtischen und meist radikalen Arbeiterschaft über. Dies ist der Grund,
warum praktisch das Rätesystem für den Augenblick eine Radikalisierung be¬
deutet. Würde es zu einer dauernden Staatseinrichtung gemacht, so sähen sich
die anderen Berufe gezwungen, sich ebenfalls.zu politischen Körperschaften zu¬
sammenzuschließen, und in dem Maße, wie das gelänge, hörte ä>le Führerrolle der
Betriebe allmählich auf.
Aber auch sonst macht der wunderschöne Grundsatz, daß wer nicht arbeitet,
keine politischen Rechte haben soll, allerlei Schwierigkeiten. Zunächst wird man
diese Maßregel nur gegen solche anwenden dürfen, die nicht arbeiten wollen, nicht
gegen die, die nicht arbeiten können. Trauen sich unsere politischen Idealisten zu,
daß sie das immer sicher unterscheiden? Fürchten sie nicht, daß unter dem
Schutze der Arbeitslosenfürforge, der Invalidenversicherung und so weiter ein
Troß von Simulanten gezüchtet wird? Die Radikalen pflegen an den im
Grunde guten Menschen zu glauben; bei ihnen wird also dieser Einwand nicht
verfangen.
Aber nun kommt eine zweite Frage, eine wahre Doktorfrage: Was heißt
arbeiten? Ursprünglich ist natürlich gemeint: mit der Hand arbeiten; der „Ar¬
beiter" im besonderen Sinne des Wortes soll die Macht in die Hände bekommen
an Stelle des Bürgers. Allmählich gab die radikale Theorie dann vor der Wirk¬
lichkeit nach. Erst kamen die armen Reinen Beamten und Schreiber hinzu, dann
die leitenden und geistigen Berufe aller Art, und heute räsonniert man: jeder,
der etwas Nützliches leistet und sich selber sein Brot verdient, ist Arbeiter. Sehr
schön! Wenn also Herr Müller einen Friseurladen besitzt, sich drei Gehilfen hält,
die seine Kunden bedienen müssen, und selber sich darauf beschränkt, die Aufsicht
zu führen, das Geld nachzuzählen und d:e Gäste zu unterhalten — also syste¬
matisch zu faullenzen: so bleibt er dennoch ein Arbeiter und behält seine politi¬
schen Rechte. Wenn dagegen Schopenhauer zehn Jahre lang über einem philo¬
sophischen System grübelt und wenn ihm diese Konzentration ermöglicht wird
durch den glücklichen Zufall, daß sein Vater ihm ein Vermögen hinterlassen hat:'
so ist er kein Arbeiter und genießt keinerlei politische Rechte. Und wie wnd man
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