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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.

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Der tVöchnerinnenschutz in dem neuen deutschen Entwurf eines intern. Arbciterrcchtes

das Bedürfnis nach Schonung, sondern die Arbeitsform den Eintritt in die frei¬
willige Mitgliedschaft veranlaßt; die Arbeit wird solange als irgend möglich fort¬
gesetzt und es wird daheim noch intensiver gearbeitet als in der Fabrik; daher
ein Mehr an un- und vorzeitigen Entbindungen.

Daß das Geburtsgewicht von großer Bedeutung für die Entwicklung des
Kindes zum mindesten innerhalb des so stark gefährdeten ersten Lebensmonats
ist, weiß jeder Arzt, und auch kein Laie dürfte sich der Erkenntnis verschließen,
daß Kinder von unter normalem Gewicht, zumal wenn dasselbe durch ein vor¬
zeitiges Schwangerschastsende bedingt ist, für den Kampf ums Dasein schlecht
ausgerüstet sind. Der jähe Wechsel der Umgebung bei der Geburt stellt hohe
Anforderungen an die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit des kindlichen
Organismus, denen das nicht ganz ausgetragene Kind selbstverständlich weniger
gewachsen ist als das Vollreife. Es ist deshalb sicherlich kein Zufall, daß ich für
das Stadtgebiet Hamburg (anderswo lagen vergleichbare Zahlen nicht vor) für
die Jahre 1905--1909 eine gleichzeitige Zunahme der lebenden Frühgeburten und
der Todesfälle an Lebensschwäche feststellen konntet) Frühgeborene Kinder sind
eben lebensschwächer als rechtzeitig geborene.

Nun steht -- und das ist beachtenswert -- Hamburg bezüglich der Zunahme
der lebenden Frühgeburten nicht vereinzelt da. Auch für das ehemalige Grvß-
herzogtum Baden konnte ich eine geringe Zunahme feststellen und in Preußen, ist,
während die Säuglingssterblichkeit im allgemeinen stark gesunken ist, die Zahl der
Todesfälle an Lebensschwäche im letzten Jahrzehnt vor dem Kriege kaum geringer
geworden. Das ist um so auffallender, als die ärztliche Leichenschau zugenommen
hat. Denn Laien sind geneigter als Arzte, Lebensschwäche als Todesursache cm-
Zunehmen, weil sie im Gegensatz zu diesen oftmals nicht in der Lage sind, die
MM Tode führende Krankheit zu erkennen. Ein statistisches Gleichbleiben der
Sterbefälle an Lebensschwäche bedeutet also in diesem Fall ein tatsächliches Zu¬
nehmen derselben. Es unterliegt nach dem vorliegenden kaum einem Zweifel,
daß diese Zunahme im Zusammenhang steht mit der gewaltigen Zunahme der
Erwerbsarveit der verheirateten Frau. Ihre Bedeutung für die Volkskraft erhellt
aus der Tatsache, daß die Todesfälle an Lebensschwäche in Preußen fast ein
Drittel sämtlicher Säuglingssterbefälle ausmachen und daß im Reich jährlich
immer noch zwischen 30000 und 40000 Kinder an mangelnder Lebenskraft zugrunde
gehen.") Im vorliegenden Zusammenhang ist auch der von Graßl festgestellten
Tatsache zu gedenken, daß die ländliche Säuglingssterblichkeit in Bayern abhängig
ist von der Art der landwirtschaftlichen Betriebsform. Sie wächst in dem Maße,
in welchem die verschiedenen Formen die Mitarbeit der Mutter erfordern.

Aus all dem geht hervor, daß der Schutz der Mutter in der letzten Schwanger¬
schaftsperiode für die Erhaltung der Volkskraft mindestens die gleiche Bedeutung
hat wie der Schutz der eigentlichen Wöchnerin.

Wie kann ein solcher Schutz gesetzlich gewährleistet werden? Die Möglichkeit,
die Frauen zur Niederlegung der Arbeit einige Zeit vor der Entbindung zu
zwingen, wird allgemein bezweifelt, und doch ist sie gegeben. Es wird dagegen
geltend gemacht, daß der Entbindungstermin sich nickt genau berechnen läßt, und
daß die Frauen unter der Behauptung, von dem Ereignis überrascht worden zu
sein, stets bis zum letzten Augenblick arbeiten würden. Beide Einwände sind nicht
stichhaltig. Gewiß läßt sich die Zeit der Niederkunft nicht auf Tag und Stunde
voraussagen, aber bis auf vierzehn Tage läßt sie sich in den allermeisten Fällen
berechnen. Man trage der natürlichen Schwankung Rechnung und bringe vierzehn
Tage dafür in Anschlag. Dann bleiben für den gesetzlichen Schwcmgerenschutz
bei im ganzen zehnwöchiger Schutzfrist noch zwei Wochen übrig; denn für die




") Grotjahn-Kamp, Handbuch der Sozialen Hygiene. Artikel Mutterschaftsfürsorge
Leipzig 1912.
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) Im Jahre 1911 waren es nach dem Statist. Jahrbuch für das Deutsche Reich
40787. Wegen der Laiendiagnosen dürfte die Zahl etwas zu hoch sein. -
Der tVöchnerinnenschutz in dem neuen deutschen Entwurf eines intern. Arbciterrcchtes

das Bedürfnis nach Schonung, sondern die Arbeitsform den Eintritt in die frei¬
willige Mitgliedschaft veranlaßt; die Arbeit wird solange als irgend möglich fort¬
gesetzt und es wird daheim noch intensiver gearbeitet als in der Fabrik; daher
ein Mehr an un- und vorzeitigen Entbindungen.

Daß das Geburtsgewicht von großer Bedeutung für die Entwicklung des
Kindes zum mindesten innerhalb des so stark gefährdeten ersten Lebensmonats
ist, weiß jeder Arzt, und auch kein Laie dürfte sich der Erkenntnis verschließen,
daß Kinder von unter normalem Gewicht, zumal wenn dasselbe durch ein vor¬
zeitiges Schwangerschastsende bedingt ist, für den Kampf ums Dasein schlecht
ausgerüstet sind. Der jähe Wechsel der Umgebung bei der Geburt stellt hohe
Anforderungen an die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit des kindlichen
Organismus, denen das nicht ganz ausgetragene Kind selbstverständlich weniger
gewachsen ist als das Vollreife. Es ist deshalb sicherlich kein Zufall, daß ich für
das Stadtgebiet Hamburg (anderswo lagen vergleichbare Zahlen nicht vor) für
die Jahre 1905—1909 eine gleichzeitige Zunahme der lebenden Frühgeburten und
der Todesfälle an Lebensschwäche feststellen konntet) Frühgeborene Kinder sind
eben lebensschwächer als rechtzeitig geborene.

Nun steht — und das ist beachtenswert — Hamburg bezüglich der Zunahme
der lebenden Frühgeburten nicht vereinzelt da. Auch für das ehemalige Grvß-
herzogtum Baden konnte ich eine geringe Zunahme feststellen und in Preußen, ist,
während die Säuglingssterblichkeit im allgemeinen stark gesunken ist, die Zahl der
Todesfälle an Lebensschwäche im letzten Jahrzehnt vor dem Kriege kaum geringer
geworden. Das ist um so auffallender, als die ärztliche Leichenschau zugenommen
hat. Denn Laien sind geneigter als Arzte, Lebensschwäche als Todesursache cm-
Zunehmen, weil sie im Gegensatz zu diesen oftmals nicht in der Lage sind, die
MM Tode führende Krankheit zu erkennen. Ein statistisches Gleichbleiben der
Sterbefälle an Lebensschwäche bedeutet also in diesem Fall ein tatsächliches Zu¬
nehmen derselben. Es unterliegt nach dem vorliegenden kaum einem Zweifel,
daß diese Zunahme im Zusammenhang steht mit der gewaltigen Zunahme der
Erwerbsarveit der verheirateten Frau. Ihre Bedeutung für die Volkskraft erhellt
aus der Tatsache, daß die Todesfälle an Lebensschwäche in Preußen fast ein
Drittel sämtlicher Säuglingssterbefälle ausmachen und daß im Reich jährlich
immer noch zwischen 30000 und 40000 Kinder an mangelnder Lebenskraft zugrunde
gehen.") Im vorliegenden Zusammenhang ist auch der von Graßl festgestellten
Tatsache zu gedenken, daß die ländliche Säuglingssterblichkeit in Bayern abhängig
ist von der Art der landwirtschaftlichen Betriebsform. Sie wächst in dem Maße,
in welchem die verschiedenen Formen die Mitarbeit der Mutter erfordern.

Aus all dem geht hervor, daß der Schutz der Mutter in der letzten Schwanger¬
schaftsperiode für die Erhaltung der Volkskraft mindestens die gleiche Bedeutung
hat wie der Schutz der eigentlichen Wöchnerin.

Wie kann ein solcher Schutz gesetzlich gewährleistet werden? Die Möglichkeit,
die Frauen zur Niederlegung der Arbeit einige Zeit vor der Entbindung zu
zwingen, wird allgemein bezweifelt, und doch ist sie gegeben. Es wird dagegen
geltend gemacht, daß der Entbindungstermin sich nickt genau berechnen läßt, und
daß die Frauen unter der Behauptung, von dem Ereignis überrascht worden zu
sein, stets bis zum letzten Augenblick arbeiten würden. Beide Einwände sind nicht
stichhaltig. Gewiß läßt sich die Zeit der Niederkunft nicht auf Tag und Stunde
voraussagen, aber bis auf vierzehn Tage läßt sie sich in den allermeisten Fällen
berechnen. Man trage der natürlichen Schwankung Rechnung und bringe vierzehn
Tage dafür in Anschlag. Dann bleiben für den gesetzlichen Schwcmgerenschutz
bei im ganzen zehnwöchiger Schutzfrist noch zwei Wochen übrig; denn für die




«) Grotjahn-Kamp, Handbuch der Sozialen Hygiene. Artikel Mutterschaftsfürsorge
Leipzig 1912.
7
) Im Jahre 1911 waren es nach dem Statist. Jahrbuch für das Deutsche Reich
40787. Wegen der Laiendiagnosen dürfte die Zahl etwas zu hoch sein. -
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[0126] Der tVöchnerinnenschutz in dem neuen deutschen Entwurf eines intern. Arbciterrcchtes das Bedürfnis nach Schonung, sondern die Arbeitsform den Eintritt in die frei¬ willige Mitgliedschaft veranlaßt; die Arbeit wird solange als irgend möglich fort¬ gesetzt und es wird daheim noch intensiver gearbeitet als in der Fabrik; daher ein Mehr an un- und vorzeitigen Entbindungen. Daß das Geburtsgewicht von großer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes zum mindesten innerhalb des so stark gefährdeten ersten Lebensmonats ist, weiß jeder Arzt, und auch kein Laie dürfte sich der Erkenntnis verschließen, daß Kinder von unter normalem Gewicht, zumal wenn dasselbe durch ein vor¬ zeitiges Schwangerschastsende bedingt ist, für den Kampf ums Dasein schlecht ausgerüstet sind. Der jähe Wechsel der Umgebung bei der Geburt stellt hohe Anforderungen an die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit des kindlichen Organismus, denen das nicht ganz ausgetragene Kind selbstverständlich weniger gewachsen ist als das Vollreife. Es ist deshalb sicherlich kein Zufall, daß ich für das Stadtgebiet Hamburg (anderswo lagen vergleichbare Zahlen nicht vor) für die Jahre 1905—1909 eine gleichzeitige Zunahme der lebenden Frühgeburten und der Todesfälle an Lebensschwäche feststellen konntet) Frühgeborene Kinder sind eben lebensschwächer als rechtzeitig geborene. Nun steht — und das ist beachtenswert — Hamburg bezüglich der Zunahme der lebenden Frühgeburten nicht vereinzelt da. Auch für das ehemalige Grvß- herzogtum Baden konnte ich eine geringe Zunahme feststellen und in Preußen, ist, während die Säuglingssterblichkeit im allgemeinen stark gesunken ist, die Zahl der Todesfälle an Lebensschwäche im letzten Jahrzehnt vor dem Kriege kaum geringer geworden. Das ist um so auffallender, als die ärztliche Leichenschau zugenommen hat. Denn Laien sind geneigter als Arzte, Lebensschwäche als Todesursache cm- Zunehmen, weil sie im Gegensatz zu diesen oftmals nicht in der Lage sind, die MM Tode führende Krankheit zu erkennen. Ein statistisches Gleichbleiben der Sterbefälle an Lebensschwäche bedeutet also in diesem Fall ein tatsächliches Zu¬ nehmen derselben. Es unterliegt nach dem vorliegenden kaum einem Zweifel, daß diese Zunahme im Zusammenhang steht mit der gewaltigen Zunahme der Erwerbsarveit der verheirateten Frau. Ihre Bedeutung für die Volkskraft erhellt aus der Tatsache, daß die Todesfälle an Lebensschwäche in Preußen fast ein Drittel sämtlicher Säuglingssterbefälle ausmachen und daß im Reich jährlich immer noch zwischen 30000 und 40000 Kinder an mangelnder Lebenskraft zugrunde gehen.") Im vorliegenden Zusammenhang ist auch der von Graßl festgestellten Tatsache zu gedenken, daß die ländliche Säuglingssterblichkeit in Bayern abhängig ist von der Art der landwirtschaftlichen Betriebsform. Sie wächst in dem Maße, in welchem die verschiedenen Formen die Mitarbeit der Mutter erfordern. Aus all dem geht hervor, daß der Schutz der Mutter in der letzten Schwanger¬ schaftsperiode für die Erhaltung der Volkskraft mindestens die gleiche Bedeutung hat wie der Schutz der eigentlichen Wöchnerin. Wie kann ein solcher Schutz gesetzlich gewährleistet werden? Die Möglichkeit, die Frauen zur Niederlegung der Arbeit einige Zeit vor der Entbindung zu zwingen, wird allgemein bezweifelt, und doch ist sie gegeben. Es wird dagegen geltend gemacht, daß der Entbindungstermin sich nickt genau berechnen läßt, und daß die Frauen unter der Behauptung, von dem Ereignis überrascht worden zu sein, stets bis zum letzten Augenblick arbeiten würden. Beide Einwände sind nicht stichhaltig. Gewiß läßt sich die Zeit der Niederkunft nicht auf Tag und Stunde voraussagen, aber bis auf vierzehn Tage läßt sie sich in den allermeisten Fällen berechnen. Man trage der natürlichen Schwankung Rechnung und bringe vierzehn Tage dafür in Anschlag. Dann bleiben für den gesetzlichen Schwcmgerenschutz bei im ganzen zehnwöchiger Schutzfrist noch zwei Wochen übrig; denn für die «) Grotjahn-Kamp, Handbuch der Sozialen Hygiene. Artikel Mutterschaftsfürsorge Leipzig 1912. 7 ) Im Jahre 1911 waren es nach dem Statist. Jahrbuch für das Deutsche Reich 40787. Wegen der Laiendiagnosen dürfte die Zahl etwas zu hoch sein. -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/126>, abgerufen am 05.02.2025.