Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die kulturelle Bedeutung Wiens

nur Gefügigkeit gewertet wurde, so drängten sich schließlich nur die Mittelmäßigen
in die Unter, in denen sie ein wenn auch schlecht bezahltes, aber doch sicheres
und bequemes Leben erhofften. Die Krönung erhielt die Auswahl der Mittel¬
mäßigkeit schließlich durch die Dienstpragmatik, die die Vorrückung nicht von der
Fähigkeit, sondern der Zahl der Dienstjahre abhängig machte. Da so viele Stellen
so viele Bekannte unterzubringen hatten, von den nichtdeutschen jede Beamtenstelle
aber als ein Politikum betrachtet wurde, dessen Gewinnung von nationalem
Interesse war, so waren die Ämter bald derartig vollgefüllt, daß die Arbeit bei
einer sehr kunstvollen Arbeitsteilung noch langsamer vor sich ging. An seinem
Beamtentum ist die Monarchie schließlich zugrunde gegangen. Unentschlossenheit
und Zaghaftigkeit der österreichisch-ungarischen äußeren und österreichischen inneren
Politik war zum guten Teile ein Ausfluß des Beamtencharakters, der allerdings
eine Stütze an der mangelnden Willensstärke und der Ziellosigkeit der Dynastie
fand. Das stetige Schwanken zwischen zentralistischer und föderalistischer Regie¬
rungsform, das Ausspielen der Nationen gegeneinander, der stets wechselnde
nationale Kurs vermehrte nur die Unsicherheit und Verantwortungsfurcht des
Beamtenstandes, zumal des höheren, der immer um die Stellung bangie. Daher
stand auch die Beamtenschaft jeder Neuerung. Verbesserung oder Umänderung im
vorhinein fremd, wenn nicht feindlich gegenüber. Dieser Geist wirkte nun auf
alle Kreise über, mit denen der Beamtenstand dienstlich und privat zu tun hatte.
Er war in Wien emporgewachsen, drang in die Provinz und weit- und gegen¬
wartsfremd wie er war, trat er bald in schroffen Gegensatz zu den bestehenden
.politischen, nationalen und kulturellen Bestrebungen derselben. Am wenigsten, in
Wien, wo die Beamtenlaufbahn der Traum des Kleinbürgertums war, und
das Prinzip des Zuwartens, Zufriedenseins und Nicht-Wagens zum inneren
Charakterzug der Bevölkerung geworden war. Die Provinz aber, die deutsche
wie die nichtdeutsche, schrieb Wien, dem Sitz der Zentralgewalt, die Schuld des
Beamtentums zu.

Man möge mich nicht mißverstehen. Die vorgehende Charakteristik hatte
den Zweck, jene Seiten des Wiener Wesens festzuhalten, welche zu der Isolierung
führten, an der die Stadt litt, und die es verhinderten, daß Wien Kulturfaktor
für Deutsch-Österreich und Vermittler deutschen Wesens nach Osten wurde. Wer
sie finden will, wird auch gute Seiten im Wiener Wesen finden, treffliche Ein¬
richtungen und hervorragende Kunstleistun gen. Ihre Wirkung aber ging leider
unter durch die Kehrseiten des Wiener Wesens. Es ist der Fluch der Stadt
gewesen, daß sie Haupt- und Residenzstadt wurde. Diesen Anforderungen waren
ihre Bewohner nicht gewachsen. Ihre Kraft liegt in der Pflege eines feinen,
persönlichen Lebens, einer Hauskultur, die nicht weniger befruchtend wirken kann,
als die glänzendsten organisatorischen Leistungen. Sie wirken nicht so über-
wältigend. aber eindringlicher, besonders auf fremde Völker. Wer die Reste
alten Wiener Lebens, wie sie sich noch einzeln erhalten haben, kennen gelernt hat,
wird es bedauern, daß diese alte Kultur unter den mechanisierenden Forderungen
der neuzeitlichen Hauptstadt zugrunde gegangen ist. Er wird den wohltätigen
Gegensatz zu dem nüchternen, gesetzmäßigen Leben Berlins empfinden, das leichtere,
freiere Fühlen und Denken, das sorglosere Genießen, den ganzen göttlichen Leicht-
sinn, wennn er auch nicht als arbeitender Mensch in dieser Stadt leben möchte.

Wien war kein Kulturfaktor, aber es kann es werden, da es mit dem Zer¬
fall der Monarchie aufgehört hat. Residenzstadt zu sein und bei der gegenwärtigen
Neugliederung auch nicht Großstadt bleiben kann. Der größte Teil der Wien
widerstrebenden Elemente der Monarchie hat mit der Selbständigkeit der Nationen
aufgehört, für Wien in Betracht zu kommen. Freilich, und daran ist kein Zweifel,
wird auch der letzte Nest der wirtschaftlichen Überlegenheit der Stadt damit schwinden,
zumal die Industrien nicht in Jnnerösterreich liegen. Über Rohprodukte, namentlich
über Kohle, verfügt Deutsch-Österreich nicht. Und die industriereichen deutschen
Gegenden Böhmens, Mährens und Schlesiens gehen verloren. Es widerspricht
den geopolitischen Grundsätzen der Staatsentwicklung, daß diese Teile dauernd bei


Die kulturelle Bedeutung Wiens

nur Gefügigkeit gewertet wurde, so drängten sich schließlich nur die Mittelmäßigen
in die Unter, in denen sie ein wenn auch schlecht bezahltes, aber doch sicheres
und bequemes Leben erhofften. Die Krönung erhielt die Auswahl der Mittel¬
mäßigkeit schließlich durch die Dienstpragmatik, die die Vorrückung nicht von der
Fähigkeit, sondern der Zahl der Dienstjahre abhängig machte. Da so viele Stellen
so viele Bekannte unterzubringen hatten, von den nichtdeutschen jede Beamtenstelle
aber als ein Politikum betrachtet wurde, dessen Gewinnung von nationalem
Interesse war, so waren die Ämter bald derartig vollgefüllt, daß die Arbeit bei
einer sehr kunstvollen Arbeitsteilung noch langsamer vor sich ging. An seinem
Beamtentum ist die Monarchie schließlich zugrunde gegangen. Unentschlossenheit
und Zaghaftigkeit der österreichisch-ungarischen äußeren und österreichischen inneren
Politik war zum guten Teile ein Ausfluß des Beamtencharakters, der allerdings
eine Stütze an der mangelnden Willensstärke und der Ziellosigkeit der Dynastie
fand. Das stetige Schwanken zwischen zentralistischer und föderalistischer Regie¬
rungsform, das Ausspielen der Nationen gegeneinander, der stets wechselnde
nationale Kurs vermehrte nur die Unsicherheit und Verantwortungsfurcht des
Beamtenstandes, zumal des höheren, der immer um die Stellung bangie. Daher
stand auch die Beamtenschaft jeder Neuerung. Verbesserung oder Umänderung im
vorhinein fremd, wenn nicht feindlich gegenüber. Dieser Geist wirkte nun auf
alle Kreise über, mit denen der Beamtenstand dienstlich und privat zu tun hatte.
Er war in Wien emporgewachsen, drang in die Provinz und weit- und gegen¬
wartsfremd wie er war, trat er bald in schroffen Gegensatz zu den bestehenden
.politischen, nationalen und kulturellen Bestrebungen derselben. Am wenigsten, in
Wien, wo die Beamtenlaufbahn der Traum des Kleinbürgertums war, und
das Prinzip des Zuwartens, Zufriedenseins und Nicht-Wagens zum inneren
Charakterzug der Bevölkerung geworden war. Die Provinz aber, die deutsche
wie die nichtdeutsche, schrieb Wien, dem Sitz der Zentralgewalt, die Schuld des
Beamtentums zu.

Man möge mich nicht mißverstehen. Die vorgehende Charakteristik hatte
den Zweck, jene Seiten des Wiener Wesens festzuhalten, welche zu der Isolierung
führten, an der die Stadt litt, und die es verhinderten, daß Wien Kulturfaktor
für Deutsch-Österreich und Vermittler deutschen Wesens nach Osten wurde. Wer
sie finden will, wird auch gute Seiten im Wiener Wesen finden, treffliche Ein¬
richtungen und hervorragende Kunstleistun gen. Ihre Wirkung aber ging leider
unter durch die Kehrseiten des Wiener Wesens. Es ist der Fluch der Stadt
gewesen, daß sie Haupt- und Residenzstadt wurde. Diesen Anforderungen waren
ihre Bewohner nicht gewachsen. Ihre Kraft liegt in der Pflege eines feinen,
persönlichen Lebens, einer Hauskultur, die nicht weniger befruchtend wirken kann,
als die glänzendsten organisatorischen Leistungen. Sie wirken nicht so über-
wältigend. aber eindringlicher, besonders auf fremde Völker. Wer die Reste
alten Wiener Lebens, wie sie sich noch einzeln erhalten haben, kennen gelernt hat,
wird es bedauern, daß diese alte Kultur unter den mechanisierenden Forderungen
der neuzeitlichen Hauptstadt zugrunde gegangen ist. Er wird den wohltätigen
Gegensatz zu dem nüchternen, gesetzmäßigen Leben Berlins empfinden, das leichtere,
freiere Fühlen und Denken, das sorglosere Genießen, den ganzen göttlichen Leicht-
sinn, wennn er auch nicht als arbeitender Mensch in dieser Stadt leben möchte.

Wien war kein Kulturfaktor, aber es kann es werden, da es mit dem Zer¬
fall der Monarchie aufgehört hat. Residenzstadt zu sein und bei der gegenwärtigen
Neugliederung auch nicht Großstadt bleiben kann. Der größte Teil der Wien
widerstrebenden Elemente der Monarchie hat mit der Selbständigkeit der Nationen
aufgehört, für Wien in Betracht zu kommen. Freilich, und daran ist kein Zweifel,
wird auch der letzte Nest der wirtschaftlichen Überlegenheit der Stadt damit schwinden,
zumal die Industrien nicht in Jnnerösterreich liegen. Über Rohprodukte, namentlich
über Kohle, verfügt Deutsch-Österreich nicht. Und die industriereichen deutschen
Gegenden Böhmens, Mährens und Schlesiens gehen verloren. Es widerspricht
den geopolitischen Grundsätzen der Staatsentwicklung, daß diese Teile dauernd bei


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/335297"/>
          <fw type="header" place="top"> Die kulturelle Bedeutung Wiens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_451" prev="#ID_450"> nur Gefügigkeit gewertet wurde, so drängten sich schließlich nur die Mittelmäßigen<lb/>
in die Unter, in denen sie ein wenn auch schlecht bezahltes, aber doch sicheres<lb/>
und bequemes Leben erhofften. Die Krönung erhielt die Auswahl der Mittel¬<lb/>
mäßigkeit schließlich durch die Dienstpragmatik, die die Vorrückung nicht von der<lb/>
Fähigkeit, sondern der Zahl der Dienstjahre abhängig machte. Da so viele Stellen<lb/>
so viele Bekannte unterzubringen hatten, von den nichtdeutschen jede Beamtenstelle<lb/>
aber als ein Politikum betrachtet wurde, dessen Gewinnung von nationalem<lb/>
Interesse war, so waren die Ämter bald derartig vollgefüllt, daß die Arbeit bei<lb/>
einer sehr kunstvollen Arbeitsteilung noch langsamer vor sich ging. An seinem<lb/>
Beamtentum ist die Monarchie schließlich zugrunde gegangen. Unentschlossenheit<lb/>
und Zaghaftigkeit der österreichisch-ungarischen äußeren und österreichischen inneren<lb/>
Politik war zum guten Teile ein Ausfluß des Beamtencharakters, der allerdings<lb/>
eine Stütze an der mangelnden Willensstärke und der Ziellosigkeit der Dynastie<lb/>
fand. Das stetige Schwanken zwischen zentralistischer und föderalistischer Regie¬<lb/>
rungsform, das Ausspielen der Nationen gegeneinander, der stets wechselnde<lb/>
nationale Kurs vermehrte nur die Unsicherheit und Verantwortungsfurcht des<lb/>
Beamtenstandes, zumal des höheren, der immer um die Stellung bangie. Daher<lb/>
stand auch die Beamtenschaft jeder Neuerung. Verbesserung oder Umänderung im<lb/>
vorhinein fremd, wenn nicht feindlich gegenüber. Dieser Geist wirkte nun auf<lb/>
alle Kreise über, mit denen der Beamtenstand dienstlich und privat zu tun hatte.<lb/>
Er war in Wien emporgewachsen, drang in die Provinz und weit- und gegen¬<lb/>
wartsfremd wie er war, trat er bald in schroffen Gegensatz zu den bestehenden<lb/>
.politischen, nationalen und kulturellen Bestrebungen derselben. Am wenigsten, in<lb/>
Wien, wo die Beamtenlaufbahn der Traum des Kleinbürgertums war, und<lb/>
das Prinzip des Zuwartens, Zufriedenseins und Nicht-Wagens zum inneren<lb/>
Charakterzug der Bevölkerung geworden war. Die Provinz aber, die deutsche<lb/>
wie die nichtdeutsche, schrieb Wien, dem Sitz der Zentralgewalt, die Schuld des<lb/>
Beamtentums zu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_452"> Man möge mich nicht mißverstehen. Die vorgehende Charakteristik hatte<lb/>
den Zweck, jene Seiten des Wiener Wesens festzuhalten, welche zu der Isolierung<lb/>
führten, an der die Stadt litt, und die es verhinderten, daß Wien Kulturfaktor<lb/>
für Deutsch-Österreich und Vermittler deutschen Wesens nach Osten wurde. Wer<lb/>
sie finden will, wird auch gute Seiten im Wiener Wesen finden, treffliche Ein¬<lb/>
richtungen und hervorragende Kunstleistun gen. Ihre Wirkung aber ging leider<lb/>
unter durch die Kehrseiten des Wiener Wesens. Es ist der Fluch der Stadt<lb/>
gewesen, daß sie Haupt- und Residenzstadt wurde. Diesen Anforderungen waren<lb/>
ihre Bewohner nicht gewachsen. Ihre Kraft liegt in der Pflege eines feinen,<lb/>
persönlichen Lebens, einer Hauskultur, die nicht weniger befruchtend wirken kann,<lb/>
als die glänzendsten organisatorischen Leistungen. Sie wirken nicht so über-<lb/>
wältigend. aber eindringlicher, besonders auf fremde Völker. Wer die Reste<lb/>
alten Wiener Lebens, wie sie sich noch einzeln erhalten haben, kennen gelernt hat,<lb/>
wird es bedauern, daß diese alte Kultur unter den mechanisierenden Forderungen<lb/>
der neuzeitlichen Hauptstadt zugrunde gegangen ist. Er wird den wohltätigen<lb/>
Gegensatz zu dem nüchternen, gesetzmäßigen Leben Berlins empfinden, das leichtere,<lb/>
freiere Fühlen und Denken, das sorglosere Genießen, den ganzen göttlichen Leicht-<lb/>
sinn, wennn er auch nicht als arbeitender Mensch in dieser Stadt leben möchte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_453" next="#ID_454"> Wien war kein Kulturfaktor, aber es kann es werden, da es mit dem Zer¬<lb/>
fall der Monarchie aufgehört hat. Residenzstadt zu sein und bei der gegenwärtigen<lb/>
Neugliederung auch nicht Großstadt bleiben kann. Der größte Teil der Wien<lb/>
widerstrebenden Elemente der Monarchie hat mit der Selbständigkeit der Nationen<lb/>
aufgehört, für Wien in Betracht zu kommen. Freilich, und daran ist kein Zweifel,<lb/>
wird auch der letzte Nest der wirtschaftlichen Überlegenheit der Stadt damit schwinden,<lb/>
zumal die Industrien nicht in Jnnerösterreich liegen. Über Rohprodukte, namentlich<lb/>
über Kohle, verfügt Deutsch-Österreich nicht. Und die industriereichen deutschen<lb/>
Gegenden Böhmens, Mährens und Schlesiens gehen verloren. Es widerspricht<lb/>
den geopolitischen Grundsätzen der Staatsentwicklung, daß diese Teile dauernd bei</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0115] Die kulturelle Bedeutung Wiens nur Gefügigkeit gewertet wurde, so drängten sich schließlich nur die Mittelmäßigen in die Unter, in denen sie ein wenn auch schlecht bezahltes, aber doch sicheres und bequemes Leben erhofften. Die Krönung erhielt die Auswahl der Mittel¬ mäßigkeit schließlich durch die Dienstpragmatik, die die Vorrückung nicht von der Fähigkeit, sondern der Zahl der Dienstjahre abhängig machte. Da so viele Stellen so viele Bekannte unterzubringen hatten, von den nichtdeutschen jede Beamtenstelle aber als ein Politikum betrachtet wurde, dessen Gewinnung von nationalem Interesse war, so waren die Ämter bald derartig vollgefüllt, daß die Arbeit bei einer sehr kunstvollen Arbeitsteilung noch langsamer vor sich ging. An seinem Beamtentum ist die Monarchie schließlich zugrunde gegangen. Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit der österreichisch-ungarischen äußeren und österreichischen inneren Politik war zum guten Teile ein Ausfluß des Beamtencharakters, der allerdings eine Stütze an der mangelnden Willensstärke und der Ziellosigkeit der Dynastie fand. Das stetige Schwanken zwischen zentralistischer und föderalistischer Regie¬ rungsform, das Ausspielen der Nationen gegeneinander, der stets wechselnde nationale Kurs vermehrte nur die Unsicherheit und Verantwortungsfurcht des Beamtenstandes, zumal des höheren, der immer um die Stellung bangie. Daher stand auch die Beamtenschaft jeder Neuerung. Verbesserung oder Umänderung im vorhinein fremd, wenn nicht feindlich gegenüber. Dieser Geist wirkte nun auf alle Kreise über, mit denen der Beamtenstand dienstlich und privat zu tun hatte. Er war in Wien emporgewachsen, drang in die Provinz und weit- und gegen¬ wartsfremd wie er war, trat er bald in schroffen Gegensatz zu den bestehenden .politischen, nationalen und kulturellen Bestrebungen derselben. Am wenigsten, in Wien, wo die Beamtenlaufbahn der Traum des Kleinbürgertums war, und das Prinzip des Zuwartens, Zufriedenseins und Nicht-Wagens zum inneren Charakterzug der Bevölkerung geworden war. Die Provinz aber, die deutsche wie die nichtdeutsche, schrieb Wien, dem Sitz der Zentralgewalt, die Schuld des Beamtentums zu. Man möge mich nicht mißverstehen. Die vorgehende Charakteristik hatte den Zweck, jene Seiten des Wiener Wesens festzuhalten, welche zu der Isolierung führten, an der die Stadt litt, und die es verhinderten, daß Wien Kulturfaktor für Deutsch-Österreich und Vermittler deutschen Wesens nach Osten wurde. Wer sie finden will, wird auch gute Seiten im Wiener Wesen finden, treffliche Ein¬ richtungen und hervorragende Kunstleistun gen. Ihre Wirkung aber ging leider unter durch die Kehrseiten des Wiener Wesens. Es ist der Fluch der Stadt gewesen, daß sie Haupt- und Residenzstadt wurde. Diesen Anforderungen waren ihre Bewohner nicht gewachsen. Ihre Kraft liegt in der Pflege eines feinen, persönlichen Lebens, einer Hauskultur, die nicht weniger befruchtend wirken kann, als die glänzendsten organisatorischen Leistungen. Sie wirken nicht so über- wältigend. aber eindringlicher, besonders auf fremde Völker. Wer die Reste alten Wiener Lebens, wie sie sich noch einzeln erhalten haben, kennen gelernt hat, wird es bedauern, daß diese alte Kultur unter den mechanisierenden Forderungen der neuzeitlichen Hauptstadt zugrunde gegangen ist. Er wird den wohltätigen Gegensatz zu dem nüchternen, gesetzmäßigen Leben Berlins empfinden, das leichtere, freiere Fühlen und Denken, das sorglosere Genießen, den ganzen göttlichen Leicht- sinn, wennn er auch nicht als arbeitender Mensch in dieser Stadt leben möchte. Wien war kein Kulturfaktor, aber es kann es werden, da es mit dem Zer¬ fall der Monarchie aufgehört hat. Residenzstadt zu sein und bei der gegenwärtigen Neugliederung auch nicht Großstadt bleiben kann. Der größte Teil der Wien widerstrebenden Elemente der Monarchie hat mit der Selbständigkeit der Nationen aufgehört, für Wien in Betracht zu kommen. Freilich, und daran ist kein Zweifel, wird auch der letzte Nest der wirtschaftlichen Überlegenheit der Stadt damit schwinden, zumal die Industrien nicht in Jnnerösterreich liegen. Über Rohprodukte, namentlich über Kohle, verfügt Deutsch-Österreich nicht. Und die industriereichen deutschen Gegenden Böhmens, Mährens und Schlesiens gehen verloren. Es widerspricht den geopolitischen Grundsätzen der Staatsentwicklung, daß diese Teile dauernd bei

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/115
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335181/115>, abgerufen am 05.02.2025.