Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr."In tausend Zungen" prophezeienden "Wahrheiten" nicht in Deutschland gefunden, sondern sich ax Aus den Bevölkerungsschichten der Landwirtschaft kam es nicht nur zur Im Gegenteil, der durch die wirtschaftliche (objektive) Notwendigkeit er¬ Aber auch in mancher anderen Beziehung lehrt die Erfahrung, daß daS Wir sehen: alt werden kann und muß ein Volk, dessen Bauernstand dahin¬ „In tausend Zungen" prophezeienden „Wahrheiten" nicht in Deutschland gefunden, sondern sich ax Aus den Bevölkerungsschichten der Landwirtschaft kam es nicht nur zur Im Gegenteil, der durch die wirtschaftliche (objektive) Notwendigkeit er¬ Aber auch in mancher anderen Beziehung lehrt die Erfahrung, daß daS Wir sehen: alt werden kann und muß ein Volk, dessen Bauernstand dahin¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0026" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/88264"/> <fw type="header" place="top"> „In tausend Zungen"</fw><lb/> <p xml:id="ID_61" prev="#ID_60"> prophezeienden „Wahrheiten" nicht in Deutschland gefunden, sondern sich ax<lb/> der Entwicklung anderer Völker, vor allem der Jndustrievölker, orientiert hatten.<lb/> Mit ihrer Art Willensäußerung wurde jener Emporwille vor dem Volke dis¬<lb/> kreditiert und die Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse in die Irre geführt.</p><lb/> <p xml:id="ID_62"> Aus den Bevölkerungsschichten der Landwirtschaft kam es nicht nur zur<lb/> Abspaltung jener überschüssigen Elemente zu rein körperlicher Arbeit, sondern<lb/> der Wille zum Emporkommen, der Wille gegen die Proletarisierung zeigte sich<lb/> bald nach den ersten turbulenter Zeiten in den ernsten Forderungen großer<lb/> Massen unserer Arbeiter, teilzunehmen an den „Gütern der Kultur"; er zeigte<lb/> sich in der bald einsetzenden aktiven Beteiligung vieler Arbeiter an der geistigen<lb/> Arbeit selbst; er zeigte sich in dem Streben, die einseitige Betätigung des In¬<lb/> habers von körperlicher Kraft durch seine Selbstbelehrung und geistige Selbst-<lb/> eutwicklung zu ergänzen. Gegen die arbeitsteilige Einseitigkeit suchte der Ar¬<lb/> beiter in dieser Weise nach einer Abwendung der ihm drohenden Gefahr mensch¬<lb/> lichen Verkommens. Und während es kaum eine Frage ist, daß der Übertritt<lb/> vor allem aus den höheren Schichten des Bürgertums zur rein körperlichen<lb/> Arbeit ein Herabsinken bedeutet, eine wirtschaftliche und physische Kraftabnahme,<lb/> also ein objektives und subjektives Altern anzeigt, ist der Übergang zur körper¬<lb/> lichen Arbeit aus den landwirtschaftlichen Kreisen zu allermeist nur ein objektiv<lb/> (wirtschaftlich) bedingter; er trägt den subjektiven Willen zur Erlangung einer<lb/> besseren Lebenssicherung mit hinüber in den neuen Stand und zeigt damit ein<lb/> Fortschreiten zu einem individualisierten Ziele an: dem Ziele der Persönlichkeit.<lb/> Dieser Wille bekundet sich ebenso in dem Streben nach qualitativer Ausbildung,<lb/> wie auch die Tatsache zum Beispiel, daß die städtische Arbeiterbevölkerung sich<lb/> keineswegs nur durch dauernden Zuzug vermehrt, sondern ihre Vermehrung<lb/> durch eigene Zeugung bewirkt, durchaus nicht auf eine Kräfteabnahme<lb/> schließen läßt.</p><lb/> <p xml:id="ID_63"> Im Gegenteil, der durch die wirtschaftliche (objektive) Notwendigkeit er¬<lb/> zeugte und gestärkte Drang zu einer gemeinsamen — solidarischen — Entwick¬<lb/> lung ist als ein lebensstarkes Element zu hundelt, und so zeigt es sich, daß daZ<lb/> Bodenloswerden keineswegs allgemein als ein Verkommen einer ganzen Be¬<lb/> völkerungsschicht zu erklären ist, sondern daß in ihm zugleich der instinktive<lb/> Drang wirksam sein kann und wirksam ist, neuen Boden zu gewinnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_64"> Aber auch in mancher anderen Beziehung lehrt die Erfahrung, daß daS<lb/> Abströmen der bäuerlichen Bevölkerungsüberschüsse zu körperlicher Arbeit nicht<lb/> allgemein als ein Sinken in sozialer Hinsicht betrachtet werden darf, denn unsere<lb/> ganze Industrie hätte ohne diesen gesunden Zustrom an körperlicher und geistiger<lb/> Kraft ihren Weltgang so wenig machen können, wie wir jetzt etwa nur mit ein¬<lb/> fachen Bauernjungen die Siege im Weltkriege hätten erringen können. Mögen<lb/> diese immerhin ein Element der Stetigkeit, des Standhaltens, des Ausharrens<lb/> und Durchkcimpfens bilden, die „Intellektualität" der Arbeiter gab das andere<lb/> Moment der geistigen Beweglichkeit, der Findigkeit, der Anpassungsfähigkeit, die<lb/> so Ungeheures leistete, hinzu.</p><lb/> <p xml:id="ID_65" next="#ID_66"> Wir sehen: alt werden kann und muß ein Volk, dessen Bauernstand dahin¬<lb/> schwindet oder dem er ganz abhanden kam. Alt werden kann ein Volk ebenso<lb/> als Bauernvolk, wenn unverbesserbare Enge und Eingeschlossenheit es von jeder<lb/> Entwicklung fernhält. Aber was sonst an einem Volke alt wird, das sind jene<lb/> individualisierten Kräfte. Wie am Baume die Blätter und Blüten dahinwelken<lb/> und in jeder Wachstumsperiode immer wieder neu und aus dem Stamme<lb/> entwickelt werden müssen, der nicht starb, so die Individuen und Individual-<lb/> bildungen am Stamme eines Volkes. Wo man dazu die Möglichkeit nahm, indem<lb/> man die Wurzel durch Einengung ihres Erdreiches verkümmern ließ oder den<lb/> Stamm selbst anschlug, wie dies England mit der Vernichtung seines Bauern¬<lb/> standes, Frankreich mit der Proletarisierung seiner Bauernschaft tat, da muß in<lb/> kurzer Zeit Blutleere mit all ihren Folgeerscheinungen wie Hysterie und<lb/> intellektuell phantastische Überspanntheit und in der Praxis die Neigung zu<lb/> Gewaltmitteln anstatt zu ordnender Überlegung eintreten; da muß ferne, der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0026]
„In tausend Zungen"
prophezeienden „Wahrheiten" nicht in Deutschland gefunden, sondern sich ax
der Entwicklung anderer Völker, vor allem der Jndustrievölker, orientiert hatten.
Mit ihrer Art Willensäußerung wurde jener Emporwille vor dem Volke dis¬
kreditiert und die Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse in die Irre geführt.
Aus den Bevölkerungsschichten der Landwirtschaft kam es nicht nur zur
Abspaltung jener überschüssigen Elemente zu rein körperlicher Arbeit, sondern
der Wille zum Emporkommen, der Wille gegen die Proletarisierung zeigte sich
bald nach den ersten turbulenter Zeiten in den ernsten Forderungen großer
Massen unserer Arbeiter, teilzunehmen an den „Gütern der Kultur"; er zeigte
sich in der bald einsetzenden aktiven Beteiligung vieler Arbeiter an der geistigen
Arbeit selbst; er zeigte sich in dem Streben, die einseitige Betätigung des In¬
habers von körperlicher Kraft durch seine Selbstbelehrung und geistige Selbst-
eutwicklung zu ergänzen. Gegen die arbeitsteilige Einseitigkeit suchte der Ar¬
beiter in dieser Weise nach einer Abwendung der ihm drohenden Gefahr mensch¬
lichen Verkommens. Und während es kaum eine Frage ist, daß der Übertritt
vor allem aus den höheren Schichten des Bürgertums zur rein körperlichen
Arbeit ein Herabsinken bedeutet, eine wirtschaftliche und physische Kraftabnahme,
also ein objektives und subjektives Altern anzeigt, ist der Übergang zur körper¬
lichen Arbeit aus den landwirtschaftlichen Kreisen zu allermeist nur ein objektiv
(wirtschaftlich) bedingter; er trägt den subjektiven Willen zur Erlangung einer
besseren Lebenssicherung mit hinüber in den neuen Stand und zeigt damit ein
Fortschreiten zu einem individualisierten Ziele an: dem Ziele der Persönlichkeit.
Dieser Wille bekundet sich ebenso in dem Streben nach qualitativer Ausbildung,
wie auch die Tatsache zum Beispiel, daß die städtische Arbeiterbevölkerung sich
keineswegs nur durch dauernden Zuzug vermehrt, sondern ihre Vermehrung
durch eigene Zeugung bewirkt, durchaus nicht auf eine Kräfteabnahme
schließen läßt.
Im Gegenteil, der durch die wirtschaftliche (objektive) Notwendigkeit er¬
zeugte und gestärkte Drang zu einer gemeinsamen — solidarischen — Entwick¬
lung ist als ein lebensstarkes Element zu hundelt, und so zeigt es sich, daß daZ
Bodenloswerden keineswegs allgemein als ein Verkommen einer ganzen Be¬
völkerungsschicht zu erklären ist, sondern daß in ihm zugleich der instinktive
Drang wirksam sein kann und wirksam ist, neuen Boden zu gewinnen.
Aber auch in mancher anderen Beziehung lehrt die Erfahrung, daß daS
Abströmen der bäuerlichen Bevölkerungsüberschüsse zu körperlicher Arbeit nicht
allgemein als ein Sinken in sozialer Hinsicht betrachtet werden darf, denn unsere
ganze Industrie hätte ohne diesen gesunden Zustrom an körperlicher und geistiger
Kraft ihren Weltgang so wenig machen können, wie wir jetzt etwa nur mit ein¬
fachen Bauernjungen die Siege im Weltkriege hätten erringen können. Mögen
diese immerhin ein Element der Stetigkeit, des Standhaltens, des Ausharrens
und Durchkcimpfens bilden, die „Intellektualität" der Arbeiter gab das andere
Moment der geistigen Beweglichkeit, der Findigkeit, der Anpassungsfähigkeit, die
so Ungeheures leistete, hinzu.
Wir sehen: alt werden kann und muß ein Volk, dessen Bauernstand dahin¬
schwindet oder dem er ganz abhanden kam. Alt werden kann ein Volk ebenso
als Bauernvolk, wenn unverbesserbare Enge und Eingeschlossenheit es von jeder
Entwicklung fernhält. Aber was sonst an einem Volke alt wird, das sind jene
individualisierten Kräfte. Wie am Baume die Blätter und Blüten dahinwelken
und in jeder Wachstumsperiode immer wieder neu und aus dem Stamme
entwickelt werden müssen, der nicht starb, so die Individuen und Individual-
bildungen am Stamme eines Volkes. Wo man dazu die Möglichkeit nahm, indem
man die Wurzel durch Einengung ihres Erdreiches verkümmern ließ oder den
Stamm selbst anschlug, wie dies England mit der Vernichtung seines Bauern¬
standes, Frankreich mit der Proletarisierung seiner Bauernschaft tat, da muß in
kurzer Zeit Blutleere mit all ihren Folgeerscheinungen wie Hysterie und
intellektuell phantastische Überspanntheit und in der Praxis die Neigung zu
Gewaltmitteln anstatt zu ordnender Überlegung eintreten; da muß ferne, der
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