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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Die Entwicklung des sozialdemokratischen Programms
7. In der Frage der Rechtsprechung wird u. a. die Abschaffung der
Todesstrafe verlangt.
8. Ein neuer Punkt ist die Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung,
einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel, ferner Unentgeltlich¬
keit der Totenbestattung.
9. In der Steuerfrage wird eine stufenweis steigende Erbschaftssteuer nach
Umfang des Erbgutes und nach dem Grade der Verwandtschaft
gefordert, ferner Abschaffung der Zölle und sonstiger Wirtschaftsv
politischer Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den
Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.
10. Eine besondere Ausgestaltung erfährt das Programm der Arbeiterschutz¬
gesetzgebung. Für das Verbot der Nachtarbeit werden Ausnahmen
zugelassen. Neu gefordert wird eine ununterbrochene Ruhepause von
mindestens 36 Stunden in jeder Woche sür jeden Arbeiter, sowie ein
Verbot des Trucksystems, ferner Erforschung und Regelung der
Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch' ein Reichsarbeitsamt,
Bezirksarbeitsämter und Arbeitskammern, schließlich die rechtliche
Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und Dienstboten mit
den gewerblichen Arbeitern und die Beseitigung der Gesindeordnung
und Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich bei
maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.

Trotzdem hiermit die Entwicklung des offiziellen sozialdemokratischen
Programms bis an die Schwelle der Gegenwart durchgeführt ist, seien noch einige
Schlußworte über die lebendigen Strömungen im sozialdemokvatischen Parteilager
seit dem Erfurter Kongreß angefügt. Schon die Tatsache, daß dieses Programm
nunmehr bereits über 25 Jahre alt ist, macht es verständlich, daß in breiten
Kreisen der Sozialdemokratie die Tendenz auf eine Fortentwicklung des
Programms auftauchte. Diese Strömungen, die auf eine Revision des kanonischen
Parteiprogramms hindrängten, wurden unter dem Namen des Revisionismus
zusammengefaßt und machten der Parteiorthodoxie aus jedem Parteitag neue
Schmerzen. Die Verelendungstheorie, der Internationalismus, der Klassen-
kampfgedanke und manche andere Punkte zogen die Kritik realpolitischer Geister
auf sich, die insbesondere durch positive Einzelarbeit, z. B. in den aufblühenden
Gewerkschaften, eine innere Annäherung an das bestehende System vollzogen
hatten. Dabei war es weniger das Endprogramm, als die taktischen Einzel¬
fragen, an denen sich ein abweichender Standpunkt der liberalisierenden Rechten
der Partei gegenüber der konservativen Linken geltend machte. Eine Abänderung
des offiziellen Programmes hat die Opposition nicht durchgesetzt. Eine besondere
Zuspitzung erfuhr diese Scheidung durch die große Frage, vor die sich die Partei
am 4. August 1914 gestellt sah. Es ist bekannt, daß die damals aufklaffende
Scheidung der Geister schließlich zu einer Spaltung der Partei geführt hat. Die
Betrachtung einiger hervorstechender Erscheinungen der sozialdemokratischen
Kriegsliteratur wird mir demnächst Gelegenheit geben, aus die damit zusammen¬
hängenden Fragen an dieser Stelle noch etwas naher einzugehen.




Die Entwicklung des sozialdemokratischen Programms
7. In der Frage der Rechtsprechung wird u. a. die Abschaffung der
Todesstrafe verlangt.
8. Ein neuer Punkt ist die Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung,
einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel, ferner Unentgeltlich¬
keit der Totenbestattung.
9. In der Steuerfrage wird eine stufenweis steigende Erbschaftssteuer nach
Umfang des Erbgutes und nach dem Grade der Verwandtschaft
gefordert, ferner Abschaffung der Zölle und sonstiger Wirtschaftsv
politischer Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den
Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.
10. Eine besondere Ausgestaltung erfährt das Programm der Arbeiterschutz¬
gesetzgebung. Für das Verbot der Nachtarbeit werden Ausnahmen
zugelassen. Neu gefordert wird eine ununterbrochene Ruhepause von
mindestens 36 Stunden in jeder Woche sür jeden Arbeiter, sowie ein
Verbot des Trucksystems, ferner Erforschung und Regelung der
Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch' ein Reichsarbeitsamt,
Bezirksarbeitsämter und Arbeitskammern, schließlich die rechtliche
Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und Dienstboten mit
den gewerblichen Arbeitern und die Beseitigung der Gesindeordnung
und Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich bei
maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.

Trotzdem hiermit die Entwicklung des offiziellen sozialdemokratischen
Programms bis an die Schwelle der Gegenwart durchgeführt ist, seien noch einige
Schlußworte über die lebendigen Strömungen im sozialdemokvatischen Parteilager
seit dem Erfurter Kongreß angefügt. Schon die Tatsache, daß dieses Programm
nunmehr bereits über 25 Jahre alt ist, macht es verständlich, daß in breiten
Kreisen der Sozialdemokratie die Tendenz auf eine Fortentwicklung des
Programms auftauchte. Diese Strömungen, die auf eine Revision des kanonischen
Parteiprogramms hindrängten, wurden unter dem Namen des Revisionismus
zusammengefaßt und machten der Parteiorthodoxie aus jedem Parteitag neue
Schmerzen. Die Verelendungstheorie, der Internationalismus, der Klassen-
kampfgedanke und manche andere Punkte zogen die Kritik realpolitischer Geister
auf sich, die insbesondere durch positive Einzelarbeit, z. B. in den aufblühenden
Gewerkschaften, eine innere Annäherung an das bestehende System vollzogen
hatten. Dabei war es weniger das Endprogramm, als die taktischen Einzel¬
fragen, an denen sich ein abweichender Standpunkt der liberalisierenden Rechten
der Partei gegenüber der konservativen Linken geltend machte. Eine Abänderung
des offiziellen Programmes hat die Opposition nicht durchgesetzt. Eine besondere
Zuspitzung erfuhr diese Scheidung durch die große Frage, vor die sich die Partei
am 4. August 1914 gestellt sah. Es ist bekannt, daß die damals aufklaffende
Scheidung der Geister schließlich zu einer Spaltung der Partei geführt hat. Die
Betrachtung einiger hervorstechender Erscheinungen der sozialdemokratischen
Kriegsliteratur wird mir demnächst Gelegenheit geben, aus die damit zusammen¬
hängenden Fragen an dieser Stelle noch etwas naher einzugehen.




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[0196] Die Entwicklung des sozialdemokratischen Programms 7. In der Frage der Rechtsprechung wird u. a. die Abschaffung der Todesstrafe verlangt. 8. Ein neuer Punkt ist die Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung, einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel, ferner Unentgeltlich¬ keit der Totenbestattung. 9. In der Steuerfrage wird eine stufenweis steigende Erbschaftssteuer nach Umfang des Erbgutes und nach dem Grade der Verwandtschaft gefordert, ferner Abschaffung der Zölle und sonstiger Wirtschaftsv politischer Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern. 10. Eine besondere Ausgestaltung erfährt das Programm der Arbeiterschutz¬ gesetzgebung. Für das Verbot der Nachtarbeit werden Ausnahmen zugelassen. Neu gefordert wird eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche sür jeden Arbeiter, sowie ein Verbot des Trucksystems, ferner Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch' ein Reichsarbeitsamt, Bezirksarbeitsämter und Arbeitskammern, schließlich die rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern und die Beseitigung der Gesindeordnung und Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich bei maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung. Trotzdem hiermit die Entwicklung des offiziellen sozialdemokratischen Programms bis an die Schwelle der Gegenwart durchgeführt ist, seien noch einige Schlußworte über die lebendigen Strömungen im sozialdemokvatischen Parteilager seit dem Erfurter Kongreß angefügt. Schon die Tatsache, daß dieses Programm nunmehr bereits über 25 Jahre alt ist, macht es verständlich, daß in breiten Kreisen der Sozialdemokratie die Tendenz auf eine Fortentwicklung des Programms auftauchte. Diese Strömungen, die auf eine Revision des kanonischen Parteiprogramms hindrängten, wurden unter dem Namen des Revisionismus zusammengefaßt und machten der Parteiorthodoxie aus jedem Parteitag neue Schmerzen. Die Verelendungstheorie, der Internationalismus, der Klassen- kampfgedanke und manche andere Punkte zogen die Kritik realpolitischer Geister auf sich, die insbesondere durch positive Einzelarbeit, z. B. in den aufblühenden Gewerkschaften, eine innere Annäherung an das bestehende System vollzogen hatten. Dabei war es weniger das Endprogramm, als die taktischen Einzel¬ fragen, an denen sich ein abweichender Standpunkt der liberalisierenden Rechten der Partei gegenüber der konservativen Linken geltend machte. Eine Abänderung des offiziellen Programmes hat die Opposition nicht durchgesetzt. Eine besondere Zuspitzung erfuhr diese Scheidung durch die große Frage, vor die sich die Partei am 4. August 1914 gestellt sah. Es ist bekannt, daß die damals aufklaffende Scheidung der Geister schließlich zu einer Spaltung der Partei geführt hat. Die Betrachtung einiger hervorstechender Erscheinungen der sozialdemokratischen Kriegsliteratur wird mir demnächst Gelegenheit geben, aus die damit zusammen¬ hängenden Fragen an dieser Stelle noch etwas naher einzugehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/196>, abgerufen am 28.09.2024.