Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache

hängig von den Wandlungen, die im kulturellen Leben an den Dingen und in den
Vorstellungen der Menscken vor sich gehen, und die sie notwendig widerspiegelt.
Man denke etwa an Magd Mädchen Fräulein oder Chaise Fiaker Kutsche
Droschke oder Krawatte Binde Schlips, deren Bedeutungsinhalt in der Umgangs¬
sprache, seit sie in dieser aufgetreten sind, nicht nur in geographischer Hinsicht,
sondern auch im Bewußtsein aller auf der Scholle Gebliebener, soweit sie nicht zu
kurz gelebt haben, Verschiebungen erfahren hat und so mit vielem anderen auch
weiterhin erfahren wird.

Daß die wortgeographischen Verschiedenheiten der Umgangssprache im Be¬
reich der deutschen Umgangssprache so gewaltig sind im Vergleich mit denen, die
man in Frankreich und England antrifft, ist in erster Linie natürlich darin be¬
gründet, daß uns ein sprachliches Zentrum von der Art fehlt, wie es die Fran-
zosen in Paris, die Engländer in London haben. Die Zersplitterung und Bunt¬
heit, wie wir sie haben, hat gewiß und unverkennbar ihre Nachteile. Man denke
nur an die Mißverständnisse, auch völliges Nichtverstehen, denen der in eine fremde
Gegend Kommende bei so vielen Bestandteilen des Wortschatzes ausgesetzt ist. Künstlich
abzuhelfen, künstlich zu uniformieren ist nicht möglich. Die Umgangssprache
ist eben nicht die Schriftsprache, der man durch Reglementierung von obenher bei¬
kommen kann. Vorschläge zur Abhilfe sind freilich gemacht worden. Keiner taugt.
So viel sei hier zu ihnen übrigens noch bemerkt, daß nicht die Ausdrucksweise
einer größeren Haupt- und Residenzstadt zur Norm zu machen wäre, sondern
maßgebend müßten vor allem sein der Gesichtspunkt der größten Verbreitung, die
ein Wort bereits hat, und der der größten Zweckmäßigkeit, die dem Wort nach
seiner Eigenart und seiner Stellung zu den anderen Bestandteilen des Wortschatzes
innewohnt. Jedoch hat unsere Mannigfaltigkeit, was in der Regel übersehen
wird, auch ihre großen Vorzüge. Nur einer, den ich für den größten halte,
kann hier erwähnt werden. Jede Schriftsprache, nachdem sie sich von der ur¬
wüchsigen Volkssprache, aus der sie geboren ist, erheblich entfernt hat, muß er¬
starren, verkümmern, veröden und damit ihren höchsten Beruf verfehlen, wenn
sie nicht aus der Volkssprache immer neue Nahrung saugt. Dies kann aber im
großen Ganzen nur durch Vermittlung der Umgangssprache der Gebildeten ge¬
schehen. Diese stellt den natürlichen Förderschacht nach obenhin dar, und gerade
der große Reichtum an Ausdrücken, über den sie verfügt, und den sie bei ihrem
ständigen lebendigen Zusammenhang mit den niederen Volksdialekten aus diesen
schöpft, ist für die Befruchtung und Ernährung, die die Schriftsprache zu erfahren
hat, das am meisten Maßgebende und Förderliche. Freilich spielen hierbei Wörter,
deren Begriff fest begrenzt ist, wie etwa Kartoffel und Erdäpfel, Sonnabend und
Samstag, kaum eine Rolle, wohl aber die große Masse derjenigen, die im Ge¬
brauch der Gebildeten der verschiedenen Gegenden diese oder jene zartere oder
stärkere Bedeutungsschattierung aufweisen, wie z. B. Schmutz Dreck Kot, artig
brav geschickt, sehen schauen gucken, sich bemühen trachten. Die Verwertung
dieses lebendigen Vorrath, den unsere Umgangssprache über das ganze Sprach¬
gebiet hinweg zeigt, bewahrt, solange er bleibt, unsere Schriftsprache vor jener
Kahlheit und Dürre, der weiland die Schriftsprache der alten Römer mehr und
mehr verfallen ist, und der in der Gegenwart die seit langem akademisch einge¬
schnürte Schriftsprache der Franzosen mit raschen Schritten entgegengeht.

Jeden muß es nun wundern, daß unsere Deutschphilologen, die doch schon
länger als ein Jahrhundert in den verschiedensten Richtungen die Erforschung des
Entwicklungsgangs unserer Sprache emsigst und oft bis in die entferntesten
Winkel hinein betreiben, gerade das Gebiet der in Rede stehenden Wortgeographie
bisher mit keinem Fuß betreten haben. Erst jetzt ist endlich ein Forscher in die
Lücke getreten, um sie wenigstens aus eine größere Strecke hin auszufüllen, und
wiederum merkwürdigerweise ist der erste Bearbeiter dieses Feldes kein zünftiger
Germanist, sondern ein Vertreter der indogermanischen, sogenannten vergleichenden
Sprachwissenschaft und zwar einer, dessen Arbeitsgebiet bisher wesentlich das Alt-
und Neugriechische gewesen ist, Professor Paul Kretschmer an der Wiener Ani-


Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache

hängig von den Wandlungen, die im kulturellen Leben an den Dingen und in den
Vorstellungen der Menscken vor sich gehen, und die sie notwendig widerspiegelt.
Man denke etwa an Magd Mädchen Fräulein oder Chaise Fiaker Kutsche
Droschke oder Krawatte Binde Schlips, deren Bedeutungsinhalt in der Umgangs¬
sprache, seit sie in dieser aufgetreten sind, nicht nur in geographischer Hinsicht,
sondern auch im Bewußtsein aller auf der Scholle Gebliebener, soweit sie nicht zu
kurz gelebt haben, Verschiebungen erfahren hat und so mit vielem anderen auch
weiterhin erfahren wird.

Daß die wortgeographischen Verschiedenheiten der Umgangssprache im Be¬
reich der deutschen Umgangssprache so gewaltig sind im Vergleich mit denen, die
man in Frankreich und England antrifft, ist in erster Linie natürlich darin be¬
gründet, daß uns ein sprachliches Zentrum von der Art fehlt, wie es die Fran-
zosen in Paris, die Engländer in London haben. Die Zersplitterung und Bunt¬
heit, wie wir sie haben, hat gewiß und unverkennbar ihre Nachteile. Man denke
nur an die Mißverständnisse, auch völliges Nichtverstehen, denen der in eine fremde
Gegend Kommende bei so vielen Bestandteilen des Wortschatzes ausgesetzt ist. Künstlich
abzuhelfen, künstlich zu uniformieren ist nicht möglich. Die Umgangssprache
ist eben nicht die Schriftsprache, der man durch Reglementierung von obenher bei¬
kommen kann. Vorschläge zur Abhilfe sind freilich gemacht worden. Keiner taugt.
So viel sei hier zu ihnen übrigens noch bemerkt, daß nicht die Ausdrucksweise
einer größeren Haupt- und Residenzstadt zur Norm zu machen wäre, sondern
maßgebend müßten vor allem sein der Gesichtspunkt der größten Verbreitung, die
ein Wort bereits hat, und der der größten Zweckmäßigkeit, die dem Wort nach
seiner Eigenart und seiner Stellung zu den anderen Bestandteilen des Wortschatzes
innewohnt. Jedoch hat unsere Mannigfaltigkeit, was in der Regel übersehen
wird, auch ihre großen Vorzüge. Nur einer, den ich für den größten halte,
kann hier erwähnt werden. Jede Schriftsprache, nachdem sie sich von der ur¬
wüchsigen Volkssprache, aus der sie geboren ist, erheblich entfernt hat, muß er¬
starren, verkümmern, veröden und damit ihren höchsten Beruf verfehlen, wenn
sie nicht aus der Volkssprache immer neue Nahrung saugt. Dies kann aber im
großen Ganzen nur durch Vermittlung der Umgangssprache der Gebildeten ge¬
schehen. Diese stellt den natürlichen Förderschacht nach obenhin dar, und gerade
der große Reichtum an Ausdrücken, über den sie verfügt, und den sie bei ihrem
ständigen lebendigen Zusammenhang mit den niederen Volksdialekten aus diesen
schöpft, ist für die Befruchtung und Ernährung, die die Schriftsprache zu erfahren
hat, das am meisten Maßgebende und Förderliche. Freilich spielen hierbei Wörter,
deren Begriff fest begrenzt ist, wie etwa Kartoffel und Erdäpfel, Sonnabend und
Samstag, kaum eine Rolle, wohl aber die große Masse derjenigen, die im Ge¬
brauch der Gebildeten der verschiedenen Gegenden diese oder jene zartere oder
stärkere Bedeutungsschattierung aufweisen, wie z. B. Schmutz Dreck Kot, artig
brav geschickt, sehen schauen gucken, sich bemühen trachten. Die Verwertung
dieses lebendigen Vorrath, den unsere Umgangssprache über das ganze Sprach¬
gebiet hinweg zeigt, bewahrt, solange er bleibt, unsere Schriftsprache vor jener
Kahlheit und Dürre, der weiland die Schriftsprache der alten Römer mehr und
mehr verfallen ist, und der in der Gegenwart die seit langem akademisch einge¬
schnürte Schriftsprache der Franzosen mit raschen Schritten entgegengeht.

Jeden muß es nun wundern, daß unsere Deutschphilologen, die doch schon
länger als ein Jahrhundert in den verschiedensten Richtungen die Erforschung des
Entwicklungsgangs unserer Sprache emsigst und oft bis in die entferntesten
Winkel hinein betreiben, gerade das Gebiet der in Rede stehenden Wortgeographie
bisher mit keinem Fuß betreten haben. Erst jetzt ist endlich ein Forscher in die
Lücke getreten, um sie wenigstens aus eine größere Strecke hin auszufüllen, und
wiederum merkwürdigerweise ist der erste Bearbeiter dieses Feldes kein zünftiger
Germanist, sondern ein Vertreter der indogermanischen, sogenannten vergleichenden
Sprachwissenschaft und zwar einer, dessen Arbeitsgebiet bisher wesentlich das Alt-
und Neugriechische gewesen ist, Professor Paul Kretschmer an der Wiener Ani-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0083" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333928"/>
          <fw type="header" place="top"> Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_342" prev="#ID_341"> hängig von den Wandlungen, die im kulturellen Leben an den Dingen und in den<lb/>
Vorstellungen der Menscken vor sich gehen, und die sie notwendig widerspiegelt.<lb/>
Man denke etwa an Magd Mädchen Fräulein oder Chaise Fiaker Kutsche<lb/>
Droschke oder Krawatte Binde Schlips, deren Bedeutungsinhalt in der Umgangs¬<lb/>
sprache, seit sie in dieser aufgetreten sind, nicht nur in geographischer Hinsicht,<lb/>
sondern auch im Bewußtsein aller auf der Scholle Gebliebener, soweit sie nicht zu<lb/>
kurz gelebt haben, Verschiebungen erfahren hat und so mit vielem anderen auch<lb/>
weiterhin erfahren wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_343"> Daß die wortgeographischen Verschiedenheiten der Umgangssprache im Be¬<lb/>
reich der deutschen Umgangssprache so gewaltig sind im Vergleich mit denen, die<lb/>
man in Frankreich und England antrifft, ist in erster Linie natürlich darin be¬<lb/>
gründet, daß uns ein sprachliches Zentrum von der Art fehlt, wie es die Fran-<lb/>
zosen in Paris, die Engländer in London haben. Die Zersplitterung und Bunt¬<lb/>
heit, wie wir sie haben, hat gewiß und unverkennbar ihre Nachteile. Man denke<lb/>
nur an die Mißverständnisse, auch völliges Nichtverstehen, denen der in eine fremde<lb/>
Gegend Kommende bei so vielen Bestandteilen des Wortschatzes ausgesetzt ist. Künstlich<lb/>
abzuhelfen, künstlich zu uniformieren ist nicht möglich. Die Umgangssprache<lb/>
ist eben nicht die Schriftsprache, der man durch Reglementierung von obenher bei¬<lb/>
kommen kann. Vorschläge zur Abhilfe sind freilich gemacht worden. Keiner taugt.<lb/>
So viel sei hier zu ihnen übrigens noch bemerkt, daß nicht die Ausdrucksweise<lb/>
einer größeren Haupt- und Residenzstadt zur Norm zu machen wäre, sondern<lb/>
maßgebend müßten vor allem sein der Gesichtspunkt der größten Verbreitung, die<lb/>
ein Wort bereits hat, und der der größten Zweckmäßigkeit, die dem Wort nach<lb/>
seiner Eigenart und seiner Stellung zu den anderen Bestandteilen des Wortschatzes<lb/>
innewohnt. Jedoch hat unsere Mannigfaltigkeit, was in der Regel übersehen<lb/>
wird, auch ihre großen Vorzüge. Nur einer, den ich für den größten halte,<lb/>
kann hier erwähnt werden. Jede Schriftsprache, nachdem sie sich von der ur¬<lb/>
wüchsigen Volkssprache, aus der sie geboren ist, erheblich entfernt hat, muß er¬<lb/>
starren, verkümmern, veröden und damit ihren höchsten Beruf verfehlen, wenn<lb/>
sie nicht aus der Volkssprache immer neue Nahrung saugt. Dies kann aber im<lb/>
großen Ganzen nur durch Vermittlung der Umgangssprache der Gebildeten ge¬<lb/>
schehen. Diese stellt den natürlichen Förderschacht nach obenhin dar, und gerade<lb/>
der große Reichtum an Ausdrücken, über den sie verfügt, und den sie bei ihrem<lb/>
ständigen lebendigen Zusammenhang mit den niederen Volksdialekten aus diesen<lb/>
schöpft, ist für die Befruchtung und Ernährung, die die Schriftsprache zu erfahren<lb/>
hat, das am meisten Maßgebende und Förderliche. Freilich spielen hierbei Wörter,<lb/>
deren Begriff fest begrenzt ist, wie etwa Kartoffel und Erdäpfel, Sonnabend und<lb/>
Samstag, kaum eine Rolle, wohl aber die große Masse derjenigen, die im Ge¬<lb/>
brauch der Gebildeten der verschiedenen Gegenden diese oder jene zartere oder<lb/>
stärkere Bedeutungsschattierung aufweisen, wie z. B. Schmutz Dreck Kot, artig<lb/>
brav geschickt, sehen schauen gucken, sich bemühen trachten. Die Verwertung<lb/>
dieses lebendigen Vorrath, den unsere Umgangssprache über das ganze Sprach¬<lb/>
gebiet hinweg zeigt, bewahrt, solange er bleibt, unsere Schriftsprache vor jener<lb/>
Kahlheit und Dürre, der weiland die Schriftsprache der alten Römer mehr und<lb/>
mehr verfallen ist, und der in der Gegenwart die seit langem akademisch einge¬<lb/>
schnürte Schriftsprache der Franzosen mit raschen Schritten entgegengeht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_344" next="#ID_345"> Jeden muß es nun wundern, daß unsere Deutschphilologen, die doch schon<lb/>
länger als ein Jahrhundert in den verschiedensten Richtungen die Erforschung des<lb/>
Entwicklungsgangs unserer Sprache emsigst und oft bis in die entferntesten<lb/>
Winkel hinein betreiben, gerade das Gebiet der in Rede stehenden Wortgeographie<lb/>
bisher mit keinem Fuß betreten haben. Erst jetzt ist endlich ein Forscher in die<lb/>
Lücke getreten, um sie wenigstens aus eine größere Strecke hin auszufüllen, und<lb/>
wiederum merkwürdigerweise ist der erste Bearbeiter dieses Feldes kein zünftiger<lb/>
Germanist, sondern ein Vertreter der indogermanischen, sogenannten vergleichenden<lb/>
Sprachwissenschaft und zwar einer, dessen Arbeitsgebiet bisher wesentlich das Alt-<lb/>
und Neugriechische gewesen ist, Professor Paul Kretschmer an der Wiener Ani-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0083] Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache hängig von den Wandlungen, die im kulturellen Leben an den Dingen und in den Vorstellungen der Menscken vor sich gehen, und die sie notwendig widerspiegelt. Man denke etwa an Magd Mädchen Fräulein oder Chaise Fiaker Kutsche Droschke oder Krawatte Binde Schlips, deren Bedeutungsinhalt in der Umgangs¬ sprache, seit sie in dieser aufgetreten sind, nicht nur in geographischer Hinsicht, sondern auch im Bewußtsein aller auf der Scholle Gebliebener, soweit sie nicht zu kurz gelebt haben, Verschiebungen erfahren hat und so mit vielem anderen auch weiterhin erfahren wird. Daß die wortgeographischen Verschiedenheiten der Umgangssprache im Be¬ reich der deutschen Umgangssprache so gewaltig sind im Vergleich mit denen, die man in Frankreich und England antrifft, ist in erster Linie natürlich darin be¬ gründet, daß uns ein sprachliches Zentrum von der Art fehlt, wie es die Fran- zosen in Paris, die Engländer in London haben. Die Zersplitterung und Bunt¬ heit, wie wir sie haben, hat gewiß und unverkennbar ihre Nachteile. Man denke nur an die Mißverständnisse, auch völliges Nichtverstehen, denen der in eine fremde Gegend Kommende bei so vielen Bestandteilen des Wortschatzes ausgesetzt ist. Künstlich abzuhelfen, künstlich zu uniformieren ist nicht möglich. Die Umgangssprache ist eben nicht die Schriftsprache, der man durch Reglementierung von obenher bei¬ kommen kann. Vorschläge zur Abhilfe sind freilich gemacht worden. Keiner taugt. So viel sei hier zu ihnen übrigens noch bemerkt, daß nicht die Ausdrucksweise einer größeren Haupt- und Residenzstadt zur Norm zu machen wäre, sondern maßgebend müßten vor allem sein der Gesichtspunkt der größten Verbreitung, die ein Wort bereits hat, und der der größten Zweckmäßigkeit, die dem Wort nach seiner Eigenart und seiner Stellung zu den anderen Bestandteilen des Wortschatzes innewohnt. Jedoch hat unsere Mannigfaltigkeit, was in der Regel übersehen wird, auch ihre großen Vorzüge. Nur einer, den ich für den größten halte, kann hier erwähnt werden. Jede Schriftsprache, nachdem sie sich von der ur¬ wüchsigen Volkssprache, aus der sie geboren ist, erheblich entfernt hat, muß er¬ starren, verkümmern, veröden und damit ihren höchsten Beruf verfehlen, wenn sie nicht aus der Volkssprache immer neue Nahrung saugt. Dies kann aber im großen Ganzen nur durch Vermittlung der Umgangssprache der Gebildeten ge¬ schehen. Diese stellt den natürlichen Förderschacht nach obenhin dar, und gerade der große Reichtum an Ausdrücken, über den sie verfügt, und den sie bei ihrem ständigen lebendigen Zusammenhang mit den niederen Volksdialekten aus diesen schöpft, ist für die Befruchtung und Ernährung, die die Schriftsprache zu erfahren hat, das am meisten Maßgebende und Förderliche. Freilich spielen hierbei Wörter, deren Begriff fest begrenzt ist, wie etwa Kartoffel und Erdäpfel, Sonnabend und Samstag, kaum eine Rolle, wohl aber die große Masse derjenigen, die im Ge¬ brauch der Gebildeten der verschiedenen Gegenden diese oder jene zartere oder stärkere Bedeutungsschattierung aufweisen, wie z. B. Schmutz Dreck Kot, artig brav geschickt, sehen schauen gucken, sich bemühen trachten. Die Verwertung dieses lebendigen Vorrath, den unsere Umgangssprache über das ganze Sprach¬ gebiet hinweg zeigt, bewahrt, solange er bleibt, unsere Schriftsprache vor jener Kahlheit und Dürre, der weiland die Schriftsprache der alten Römer mehr und mehr verfallen ist, und der in der Gegenwart die seit langem akademisch einge¬ schnürte Schriftsprache der Franzosen mit raschen Schritten entgegengeht. Jeden muß es nun wundern, daß unsere Deutschphilologen, die doch schon länger als ein Jahrhundert in den verschiedensten Richtungen die Erforschung des Entwicklungsgangs unserer Sprache emsigst und oft bis in die entferntesten Winkel hinein betreiben, gerade das Gebiet der in Rede stehenden Wortgeographie bisher mit keinem Fuß betreten haben. Erst jetzt ist endlich ein Forscher in die Lücke getreten, um sie wenigstens aus eine größere Strecke hin auszufüllen, und wiederum merkwürdigerweise ist der erste Bearbeiter dieses Feldes kein zünftiger Germanist, sondern ein Vertreter der indogermanischen, sogenannten vergleichenden Sprachwissenschaft und zwar einer, dessen Arbeitsgebiet bisher wesentlich das Alt- und Neugriechische gewesen ist, Professor Paul Kretschmer an der Wiener Ani-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/83
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/83>, abgerufen am 01.07.2024.