Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

strickt ist mit dem Kampf der Parteien im Reiche und in Preußen. Wenn man
mit Recht immer aufs neue in der Reichsverfassung Bismarcks die geniale Aus-
gleichung der unitarischen und föderalistischen Kräfte der Nation bewundert hat,
so kennzeichnet gerade dies Bild trefflich auch den Unterschied, der zwischen der
liberalen und der konservativen Periode in der Politik des Reichskanzlers Elsaß
und Lothringen gegenüber besteht. Bis zu den wirtschaftspolitischen Kämpfen von
1877 beschweren Begriff und Bedeutung des ..Reichslandes" die Wagschale des
Unitarismus. Seit der Begründung der Statthalterschaft unterstützt der Charakter
des neuen, halb selbständigen Elsaß. Lothringen die Definition und Auslegung
des Reiches als eines föderativem Bundesstaates.

Wie in der inneren Politik Deutschlands bereitete sich im Jahre 1873 aber
auch nach außen ein entscheidungsvoller Umschwung vor. Über Erwarten schnell
hatte Frankreich seine Niederlage überwunden und rüstete zu neuen Kämpfen.
Noch im Oktober 1876 bot Bismarck dem leitenden Staatsmann Rußlands Unter-
stützung im Orient an. wenn er dafür einen Garantievertrag für Elsaß Lothringen
erhalte. Erst als Fürst Gortschakoff ablehnte, begannen die Verhandlungen mit
Osterreich-Ungarn, die 1879 zur Sicherung und Vollendung des Werkes von 1866
und 1870 führten. Nur als Verteidungswaffe gegen die mächtigen Nachbarn im
Osten und Westen war ja das neue Bündnis gedacht. Ängstlich bemühte sich der
Kanzler, die Reibungsflächen hüben und drüben zu mildern. Mit einem peinlich
genau arbeitenden "System von Aushilfen" suchte die politische Strategie Bismarcks
die Weltkatastrophe hintanzuhalten, die auch er von der Zukunft befürchtete. Oft
genug ist dabei der RückVersicherungsvertrag mit Rußland als das glänzendste
Zeugnis dieser Staatskunst, "der gerade durch ihre Mittelstellung ein höheres Maß
von Verantwortlichkeit als anderen auferlegt wurde", gepriesen worden. Aber
war die Zurückhaltung, mit der von Berlin aus in diesen Jahrzehnten die Frage der
staatsrechtlichen Zukunft Elsaß und Lothringens in der Schwebe gehalten wurde,
nicht das Gegenstück im Westen? Wer mit den Augen des Realpolitikers die
Kräfte und Zusammenhänge der großen Mächte abwog, mochte nur ungern das
junge Mitteleuropa schon in seinen noch unfertigen Grundpfeilern mit der Hypothek
der französischen Revanchepolitik belasten. Die Erkenntnis, daß Wien und Trieft,
Lemberg und Budapest in erster Reihe am Rhein zu verteidigen sind, ist ja heute
noch einem großen Teil der Ungarn und Polen, von Tschechen, Südslawen und
Pazifisten zu schweigen, fremd. In der Tat wird man von diesem Gesichtswinkel
der deutschen Außenpolitik aus die Errichtung der Statthalterschaft im "Reichsland"
geradezu als ein Pfand für die Erhaltung des europäischen Friedens ansehen
dürfen. Offen gestanden die österreichischen Staatsmänner im Jahre 1879, daß
nur die "verständige und friedliebende Weigerung der französischen Regierung"
den Abschluß eines russisch-französischen Bündnisses und damit die gefährlichste
Kriegsdrohung verhindert habe. Der Gedanke der Autonomie Elsaß und Lothringens
wurde integrierender Bestandteil der Versöhnungspolitik, die das Deutsche Reich
seitdem ein Menschenalter hindurch Frankreich gegenüber getrieben hat. um sich
und damit Europa den kaum auszudenkenden Vernichtungswillen eines Weltkrieges
zu ersparen.

Bei allem Verständnis aber, das wir mit diesem Überblick über die Zu¬
sammenhänge der inneren und äußeren Politik Deutschlands im Spiegel seines
Reichslandes gewinnen, darf doch das harte Urteil nicht fehlen, daß mit dem
Entscheidungsjahre 1879 für Elsaß und Lothringen eine Leidensgeschichte anhebt,
deren Darstellung nicht Aufgabe dieser Blätter sein kann. Wenn das "Reichsland"
bisher ein unitarischer Ring war, der den Bundesstaat zusammenhielt, so konnte
das Reich kaum mehr als ein Jahrfünft nach seiner Gründung bereits dieser
Stütze entbehren. Die neuen Schutzzölle, die kaum zu bewältigende Fülle sozial¬
politischer Gesetze und Verordnungen, der Kampf um Reichsmonopole und Steuern,
das neu erwachende Interesse an Seegeltung, an Kolonien und Flotte und endlich
die gemeinsam begonnene Weltpolitik: all das schmiedete die Einzelstaaten, Stämme
und Dynastien fester zusammen, als die Vaterlandsfreunde von 1815, von 1848


Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

strickt ist mit dem Kampf der Parteien im Reiche und in Preußen. Wenn man
mit Recht immer aufs neue in der Reichsverfassung Bismarcks die geniale Aus-
gleichung der unitarischen und föderalistischen Kräfte der Nation bewundert hat,
so kennzeichnet gerade dies Bild trefflich auch den Unterschied, der zwischen der
liberalen und der konservativen Periode in der Politik des Reichskanzlers Elsaß
und Lothringen gegenüber besteht. Bis zu den wirtschaftspolitischen Kämpfen von
1877 beschweren Begriff und Bedeutung des ..Reichslandes" die Wagschale des
Unitarismus. Seit der Begründung der Statthalterschaft unterstützt der Charakter
des neuen, halb selbständigen Elsaß. Lothringen die Definition und Auslegung
des Reiches als eines föderativem Bundesstaates.

Wie in der inneren Politik Deutschlands bereitete sich im Jahre 1873 aber
auch nach außen ein entscheidungsvoller Umschwung vor. Über Erwarten schnell
hatte Frankreich seine Niederlage überwunden und rüstete zu neuen Kämpfen.
Noch im Oktober 1876 bot Bismarck dem leitenden Staatsmann Rußlands Unter-
stützung im Orient an. wenn er dafür einen Garantievertrag für Elsaß Lothringen
erhalte. Erst als Fürst Gortschakoff ablehnte, begannen die Verhandlungen mit
Osterreich-Ungarn, die 1879 zur Sicherung und Vollendung des Werkes von 1866
und 1870 führten. Nur als Verteidungswaffe gegen die mächtigen Nachbarn im
Osten und Westen war ja das neue Bündnis gedacht. Ängstlich bemühte sich der
Kanzler, die Reibungsflächen hüben und drüben zu mildern. Mit einem peinlich
genau arbeitenden „System von Aushilfen" suchte die politische Strategie Bismarcks
die Weltkatastrophe hintanzuhalten, die auch er von der Zukunft befürchtete. Oft
genug ist dabei der RückVersicherungsvertrag mit Rußland als das glänzendste
Zeugnis dieser Staatskunst, „der gerade durch ihre Mittelstellung ein höheres Maß
von Verantwortlichkeit als anderen auferlegt wurde", gepriesen worden. Aber
war die Zurückhaltung, mit der von Berlin aus in diesen Jahrzehnten die Frage der
staatsrechtlichen Zukunft Elsaß und Lothringens in der Schwebe gehalten wurde,
nicht das Gegenstück im Westen? Wer mit den Augen des Realpolitikers die
Kräfte und Zusammenhänge der großen Mächte abwog, mochte nur ungern das
junge Mitteleuropa schon in seinen noch unfertigen Grundpfeilern mit der Hypothek
der französischen Revanchepolitik belasten. Die Erkenntnis, daß Wien und Trieft,
Lemberg und Budapest in erster Reihe am Rhein zu verteidigen sind, ist ja heute
noch einem großen Teil der Ungarn und Polen, von Tschechen, Südslawen und
Pazifisten zu schweigen, fremd. In der Tat wird man von diesem Gesichtswinkel
der deutschen Außenpolitik aus die Errichtung der Statthalterschaft im „Reichsland"
geradezu als ein Pfand für die Erhaltung des europäischen Friedens ansehen
dürfen. Offen gestanden die österreichischen Staatsmänner im Jahre 1879, daß
nur die „verständige und friedliebende Weigerung der französischen Regierung"
den Abschluß eines russisch-französischen Bündnisses und damit die gefährlichste
Kriegsdrohung verhindert habe. Der Gedanke der Autonomie Elsaß und Lothringens
wurde integrierender Bestandteil der Versöhnungspolitik, die das Deutsche Reich
seitdem ein Menschenalter hindurch Frankreich gegenüber getrieben hat. um sich
und damit Europa den kaum auszudenkenden Vernichtungswillen eines Weltkrieges
zu ersparen.

Bei allem Verständnis aber, das wir mit diesem Überblick über die Zu¬
sammenhänge der inneren und äußeren Politik Deutschlands im Spiegel seines
Reichslandes gewinnen, darf doch das harte Urteil nicht fehlen, daß mit dem
Entscheidungsjahre 1879 für Elsaß und Lothringen eine Leidensgeschichte anhebt,
deren Darstellung nicht Aufgabe dieser Blätter sein kann. Wenn das „Reichsland"
bisher ein unitarischer Ring war, der den Bundesstaat zusammenhielt, so konnte
das Reich kaum mehr als ein Jahrfünft nach seiner Gründung bereits dieser
Stütze entbehren. Die neuen Schutzzölle, die kaum zu bewältigende Fülle sozial¬
politischer Gesetze und Verordnungen, der Kampf um Reichsmonopole und Steuern,
das neu erwachende Interesse an Seegeltung, an Kolonien und Flotte und endlich
die gemeinsam begonnene Weltpolitik: all das schmiedete die Einzelstaaten, Stämme
und Dynastien fester zusammen, als die Vaterlandsfreunde von 1815, von 1848


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333915"/>
          <fw type="header" place="top"> Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_251" prev="#ID_250"> strickt ist mit dem Kampf der Parteien im Reiche und in Preußen. Wenn man<lb/>
mit Recht immer aufs neue in der Reichsverfassung Bismarcks die geniale Aus-<lb/>
gleichung der unitarischen und föderalistischen Kräfte der Nation bewundert hat,<lb/>
so kennzeichnet gerade dies Bild trefflich auch den Unterschied, der zwischen der<lb/>
liberalen und der konservativen Periode in der Politik des Reichskanzlers Elsaß<lb/>
und Lothringen gegenüber besteht. Bis zu den wirtschaftspolitischen Kämpfen von<lb/>
1877 beschweren Begriff und Bedeutung des ..Reichslandes" die Wagschale des<lb/>
Unitarismus. Seit der Begründung der Statthalterschaft unterstützt der Charakter<lb/>
des neuen, halb selbständigen Elsaß. Lothringen die Definition und Auslegung<lb/>
des Reiches als eines föderativem Bundesstaates.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_252"> Wie in der inneren Politik Deutschlands bereitete sich im Jahre 1873 aber<lb/>
auch nach außen ein entscheidungsvoller Umschwung vor. Über Erwarten schnell<lb/>
hatte Frankreich seine Niederlage überwunden und rüstete zu neuen Kämpfen.<lb/>
Noch im Oktober 1876 bot Bismarck dem leitenden Staatsmann Rußlands Unter-<lb/>
stützung im Orient an. wenn er dafür einen Garantievertrag für Elsaß Lothringen<lb/>
erhalte. Erst als Fürst Gortschakoff ablehnte, begannen die Verhandlungen mit<lb/>
Osterreich-Ungarn, die 1879 zur Sicherung und Vollendung des Werkes von 1866<lb/>
und 1870 führten. Nur als Verteidungswaffe gegen die mächtigen Nachbarn im<lb/>
Osten und Westen war ja das neue Bündnis gedacht. Ängstlich bemühte sich der<lb/>
Kanzler, die Reibungsflächen hüben und drüben zu mildern. Mit einem peinlich<lb/>
genau arbeitenden &#x201E;System von Aushilfen" suchte die politische Strategie Bismarcks<lb/>
die Weltkatastrophe hintanzuhalten, die auch er von der Zukunft befürchtete. Oft<lb/>
genug ist dabei der RückVersicherungsvertrag mit Rußland als das glänzendste<lb/>
Zeugnis dieser Staatskunst, &#x201E;der gerade durch ihre Mittelstellung ein höheres Maß<lb/>
von Verantwortlichkeit als anderen auferlegt wurde", gepriesen worden. Aber<lb/>
war die Zurückhaltung, mit der von Berlin aus in diesen Jahrzehnten die Frage der<lb/>
staatsrechtlichen Zukunft Elsaß und Lothringens in der Schwebe gehalten wurde,<lb/>
nicht das Gegenstück im Westen? Wer mit den Augen des Realpolitikers die<lb/>
Kräfte und Zusammenhänge der großen Mächte abwog, mochte nur ungern das<lb/>
junge Mitteleuropa schon in seinen noch unfertigen Grundpfeilern mit der Hypothek<lb/>
der französischen Revanchepolitik belasten. Die Erkenntnis, daß Wien und Trieft,<lb/>
Lemberg und Budapest in erster Reihe am Rhein zu verteidigen sind, ist ja heute<lb/>
noch einem großen Teil der Ungarn und Polen, von Tschechen, Südslawen und<lb/>
Pazifisten zu schweigen, fremd. In der Tat wird man von diesem Gesichtswinkel<lb/>
der deutschen Außenpolitik aus die Errichtung der Statthalterschaft im &#x201E;Reichsland"<lb/>
geradezu als ein Pfand für die Erhaltung des europäischen Friedens ansehen<lb/>
dürfen. Offen gestanden die österreichischen Staatsmänner im Jahre 1879, daß<lb/>
nur die &#x201E;verständige und friedliebende Weigerung der französischen Regierung"<lb/>
den Abschluß eines russisch-französischen Bündnisses und damit die gefährlichste<lb/>
Kriegsdrohung verhindert habe. Der Gedanke der Autonomie Elsaß und Lothringens<lb/>
wurde integrierender Bestandteil der Versöhnungspolitik, die das Deutsche Reich<lb/>
seitdem ein Menschenalter hindurch Frankreich gegenüber getrieben hat. um sich<lb/>
und damit Europa den kaum auszudenkenden Vernichtungswillen eines Weltkrieges<lb/>
zu ersparen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_253" next="#ID_254"> Bei allem Verständnis aber, das wir mit diesem Überblick über die Zu¬<lb/>
sammenhänge der inneren und äußeren Politik Deutschlands im Spiegel seines<lb/>
Reichslandes gewinnen, darf doch das harte Urteil nicht fehlen, daß mit dem<lb/>
Entscheidungsjahre 1879 für Elsaß und Lothringen eine Leidensgeschichte anhebt,<lb/>
deren Darstellung nicht Aufgabe dieser Blätter sein kann. Wenn das &#x201E;Reichsland"<lb/>
bisher ein unitarischer Ring war, der den Bundesstaat zusammenhielt, so konnte<lb/>
das Reich kaum mehr als ein Jahrfünft nach seiner Gründung bereits dieser<lb/>
Stütze entbehren. Die neuen Schutzzölle, die kaum zu bewältigende Fülle sozial¬<lb/>
politischer Gesetze und Verordnungen, der Kampf um Reichsmonopole und Steuern,<lb/>
das neu erwachende Interesse an Seegeltung, an Kolonien und Flotte und endlich<lb/>
die gemeinsam begonnene Weltpolitik: all das schmiedete die Einzelstaaten, Stämme<lb/>
und Dynastien fester zusammen, als die Vaterlandsfreunde von 1815, von 1848</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage strickt ist mit dem Kampf der Parteien im Reiche und in Preußen. Wenn man mit Recht immer aufs neue in der Reichsverfassung Bismarcks die geniale Aus- gleichung der unitarischen und föderalistischen Kräfte der Nation bewundert hat, so kennzeichnet gerade dies Bild trefflich auch den Unterschied, der zwischen der liberalen und der konservativen Periode in der Politik des Reichskanzlers Elsaß und Lothringen gegenüber besteht. Bis zu den wirtschaftspolitischen Kämpfen von 1877 beschweren Begriff und Bedeutung des ..Reichslandes" die Wagschale des Unitarismus. Seit der Begründung der Statthalterschaft unterstützt der Charakter des neuen, halb selbständigen Elsaß. Lothringen die Definition und Auslegung des Reiches als eines föderativem Bundesstaates. Wie in der inneren Politik Deutschlands bereitete sich im Jahre 1873 aber auch nach außen ein entscheidungsvoller Umschwung vor. Über Erwarten schnell hatte Frankreich seine Niederlage überwunden und rüstete zu neuen Kämpfen. Noch im Oktober 1876 bot Bismarck dem leitenden Staatsmann Rußlands Unter- stützung im Orient an. wenn er dafür einen Garantievertrag für Elsaß Lothringen erhalte. Erst als Fürst Gortschakoff ablehnte, begannen die Verhandlungen mit Osterreich-Ungarn, die 1879 zur Sicherung und Vollendung des Werkes von 1866 und 1870 führten. Nur als Verteidungswaffe gegen die mächtigen Nachbarn im Osten und Westen war ja das neue Bündnis gedacht. Ängstlich bemühte sich der Kanzler, die Reibungsflächen hüben und drüben zu mildern. Mit einem peinlich genau arbeitenden „System von Aushilfen" suchte die politische Strategie Bismarcks die Weltkatastrophe hintanzuhalten, die auch er von der Zukunft befürchtete. Oft genug ist dabei der RückVersicherungsvertrag mit Rußland als das glänzendste Zeugnis dieser Staatskunst, „der gerade durch ihre Mittelstellung ein höheres Maß von Verantwortlichkeit als anderen auferlegt wurde", gepriesen worden. Aber war die Zurückhaltung, mit der von Berlin aus in diesen Jahrzehnten die Frage der staatsrechtlichen Zukunft Elsaß und Lothringens in der Schwebe gehalten wurde, nicht das Gegenstück im Westen? Wer mit den Augen des Realpolitikers die Kräfte und Zusammenhänge der großen Mächte abwog, mochte nur ungern das junge Mitteleuropa schon in seinen noch unfertigen Grundpfeilern mit der Hypothek der französischen Revanchepolitik belasten. Die Erkenntnis, daß Wien und Trieft, Lemberg und Budapest in erster Reihe am Rhein zu verteidigen sind, ist ja heute noch einem großen Teil der Ungarn und Polen, von Tschechen, Südslawen und Pazifisten zu schweigen, fremd. In der Tat wird man von diesem Gesichtswinkel der deutschen Außenpolitik aus die Errichtung der Statthalterschaft im „Reichsland" geradezu als ein Pfand für die Erhaltung des europäischen Friedens ansehen dürfen. Offen gestanden die österreichischen Staatsmänner im Jahre 1879, daß nur die „verständige und friedliebende Weigerung der französischen Regierung" den Abschluß eines russisch-französischen Bündnisses und damit die gefährlichste Kriegsdrohung verhindert habe. Der Gedanke der Autonomie Elsaß und Lothringens wurde integrierender Bestandteil der Versöhnungspolitik, die das Deutsche Reich seitdem ein Menschenalter hindurch Frankreich gegenüber getrieben hat. um sich und damit Europa den kaum auszudenkenden Vernichtungswillen eines Weltkrieges zu ersparen. Bei allem Verständnis aber, das wir mit diesem Überblick über die Zu¬ sammenhänge der inneren und äußeren Politik Deutschlands im Spiegel seines Reichslandes gewinnen, darf doch das harte Urteil nicht fehlen, daß mit dem Entscheidungsjahre 1879 für Elsaß und Lothringen eine Leidensgeschichte anhebt, deren Darstellung nicht Aufgabe dieser Blätter sein kann. Wenn das „Reichsland" bisher ein unitarischer Ring war, der den Bundesstaat zusammenhielt, so konnte das Reich kaum mehr als ein Jahrfünft nach seiner Gründung bereits dieser Stütze entbehren. Die neuen Schutzzölle, die kaum zu bewältigende Fülle sozial¬ politischer Gesetze und Verordnungen, der Kampf um Reichsmonopole und Steuern, das neu erwachende Interesse an Seegeltung, an Kolonien und Flotte und endlich die gemeinsam begonnene Weltpolitik: all das schmiedete die Einzelstaaten, Stämme und Dynastien fester zusammen, als die Vaterlandsfreunde von 1815, von 1848

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/70>, abgerufen am 03.07.2024.