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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

politische Gesichtspunkte fügte König Wilhelm von Württemberg hinzu, als er im
Krimkrieg den heranreifenden Diplomaten mahnte: "Geben Sie uns Straßburg,
und wir werden einig sein für alle Eventualitäten. Solange Straßburg aber ein
Ausfallstor ist für eine stets bewaffnete Macht, muß ich befürchten, daß mein
Land überschwemmt wird von fremden Truppen, bevor mir der deutsche Bund
zu Hilfe kommen kann. Der Knotenpunkt liegt in Straßburg; denn solange das
nicht deutsch ist, wird es immer ein Hindernis für Süddeutschland bilden, sich
der deutschen Einheit, einer nationalen deutschen Politik, ohne Rückhalt hinzu¬
geben." Mit realpolitischer Schärfe beleuchtet dies Wort den tiefen Zusammen¬
hang zwischen der deutschen Einheit im Innern und ihrer notwendigen Sicherung
gegen den westlichen Nachbarn. nachdrücklich hat es der Kanzler daher in seiner
Reichstagsrede vom Mai 1871 wiederholt: "Der Keil, den die Ecke bei Weißen¬
burg in Deutschland hineinschneidet, trennte Süddeutschland wirksamer als die
politische Mainlinie vom Norden." -- Nichts kennzeichnet besser die wechselseitige
Bedingtheit innerer und äußerer Politik, die vor allem im allseits umdrohten
Kernlande Mitteleuropas inhaltsschwere Wahrheit istl

Nur von innen heraus jedoch ließ Bismarck die ganze Fülle der nationalen
Sehnsucht wirken, die im Grunde auch diese Erwägungen durchfluten. Mit Meister¬
hand wußte der Kanzler, der schon 1853 Kammern und Presse das mächtigste
Hilfsmittel der auswärtigen Politik Preußens genannt hatte, auch jetzt gerade
dies Instrument zu spielen. Nach außen aber schob er durchweg lediglich mili¬
tärisch-politische Gründe in den Vordergrund, als er im Hochsommer 1870, un¬
mittelbar noch Weißenburg und Wörth, in den diplomatischen Kampf um das
Grenzland eintrat. Denn das eine war klar: die elsaß-lothringische Frage auf¬
werfen, hieß zugleich das europäische Gleichgewicht bedrohen, das der Wiener
.Kongreß so überkünstlich gestützt und das die Großmächte bisher zum wenigsten
in Mitteleuropa ängstlich zu wahren gewußt hatten. Jede Territorialverschiebung
am Rhein mutzte Deutschland oder Frankreich das Übergewicht im europäischen
Areopag verschaffen. Gerade in dieser Beziehung aber hatte es Bismarck aufs
trefflichste verstanden, den Weg für eine allein deutsche Politik im Kreise der eifer¬
süchtigen Nachbarn frei zu machen. Vier Jahre zuvor noch hatte er den Nickvls-
burger Frieden nur in umsichtigster Schonung aller der Eigenwünsche, die Frank¬
reich, Nußland und England vorbrachten, schließen können: im Spätsommer 1870
dagegen sah er sich einer überaus günstigen internationalen Konstellation gegenüber.
Wohl wartete in Osterreich Graf Beust sehnlichst auf eine Gelegenheit, die Scharte
von Königgrätz auszuwetzen, in Italien machte König Viktor Emanuel kein Hehl
aus seiner werktätigen Sympathie für das bedrohte Frankreich. Aber hier wie
dort lehnte die öffentliche Meinung tatkräftig jede Feindseligkeit gegen Deutschland
ab, das jetzt um die Vollendung seiner Einheit rang. Am russischen Kaiserhofe
glaubte man von der Niederlage Frankreichs die Öffnung des Schwarzen Meeres
erhoffen zu dürfen, das die Westmächte nach dem Krimkriege für die russische Flotte
geschlossen hatten. Während die Petersburger und Moskaner Presse bereits leiden-
schaftlich für die in Frankreich bedrohte "Sache der Zivilisation" Partei ergriff,
hielt sich die Negierung Alexanders des Zweiten vorsichtig zurück. Und auch
England vor allem sah nicht ungern den Stern des dritten Napoleon sinken.
Bismarcks Enthüllungen über die luxemburgische und belgische Frage hatten dem
Inselreich zu deutlich bewiesen, daß der Kaiser der Franzosen die Hand sogar
nach der flandrischen Küste auszustrecken wagte. In glänzender Isolierung glaubte
der britische Löwe dem Kampf auf dem Kontinent zusehen zu können, solange die
"kleindeutschen" Ansprüche seine Seeherrschaft nicht berührten. Angesichts dieser
weltpolitischen Lage ließ Bismarck von vornherein den Ansprüchen der deutschen
Presse freien Lauf. Zeitweise sah er auch überspannte Wünsche nicht ungern, um
diesen spontanen Äußerungen des Volkswillens gegenüber die eigene Mäßigung
im diplomatischen Spiel voll zur Geltung zu bringen: "damit man wenigstens
was Ordentliches bekommt, wenn auch nicht alles, was man fordert." Er selbst
hielt als verantwortlicher Staatsmann von Anfang an fest und bestimmt an der


Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

politische Gesichtspunkte fügte König Wilhelm von Württemberg hinzu, als er im
Krimkrieg den heranreifenden Diplomaten mahnte: „Geben Sie uns Straßburg,
und wir werden einig sein für alle Eventualitäten. Solange Straßburg aber ein
Ausfallstor ist für eine stets bewaffnete Macht, muß ich befürchten, daß mein
Land überschwemmt wird von fremden Truppen, bevor mir der deutsche Bund
zu Hilfe kommen kann. Der Knotenpunkt liegt in Straßburg; denn solange das
nicht deutsch ist, wird es immer ein Hindernis für Süddeutschland bilden, sich
der deutschen Einheit, einer nationalen deutschen Politik, ohne Rückhalt hinzu¬
geben." Mit realpolitischer Schärfe beleuchtet dies Wort den tiefen Zusammen¬
hang zwischen der deutschen Einheit im Innern und ihrer notwendigen Sicherung
gegen den westlichen Nachbarn. nachdrücklich hat es der Kanzler daher in seiner
Reichstagsrede vom Mai 1871 wiederholt: „Der Keil, den die Ecke bei Weißen¬
burg in Deutschland hineinschneidet, trennte Süddeutschland wirksamer als die
politische Mainlinie vom Norden." — Nichts kennzeichnet besser die wechselseitige
Bedingtheit innerer und äußerer Politik, die vor allem im allseits umdrohten
Kernlande Mitteleuropas inhaltsschwere Wahrheit istl

Nur von innen heraus jedoch ließ Bismarck die ganze Fülle der nationalen
Sehnsucht wirken, die im Grunde auch diese Erwägungen durchfluten. Mit Meister¬
hand wußte der Kanzler, der schon 1853 Kammern und Presse das mächtigste
Hilfsmittel der auswärtigen Politik Preußens genannt hatte, auch jetzt gerade
dies Instrument zu spielen. Nach außen aber schob er durchweg lediglich mili¬
tärisch-politische Gründe in den Vordergrund, als er im Hochsommer 1870, un¬
mittelbar noch Weißenburg und Wörth, in den diplomatischen Kampf um das
Grenzland eintrat. Denn das eine war klar: die elsaß-lothringische Frage auf¬
werfen, hieß zugleich das europäische Gleichgewicht bedrohen, das der Wiener
.Kongreß so überkünstlich gestützt und das die Großmächte bisher zum wenigsten
in Mitteleuropa ängstlich zu wahren gewußt hatten. Jede Territorialverschiebung
am Rhein mutzte Deutschland oder Frankreich das Übergewicht im europäischen
Areopag verschaffen. Gerade in dieser Beziehung aber hatte es Bismarck aufs
trefflichste verstanden, den Weg für eine allein deutsche Politik im Kreise der eifer¬
süchtigen Nachbarn frei zu machen. Vier Jahre zuvor noch hatte er den Nickvls-
burger Frieden nur in umsichtigster Schonung aller der Eigenwünsche, die Frank¬
reich, Nußland und England vorbrachten, schließen können: im Spätsommer 1870
dagegen sah er sich einer überaus günstigen internationalen Konstellation gegenüber.
Wohl wartete in Osterreich Graf Beust sehnlichst auf eine Gelegenheit, die Scharte
von Königgrätz auszuwetzen, in Italien machte König Viktor Emanuel kein Hehl
aus seiner werktätigen Sympathie für das bedrohte Frankreich. Aber hier wie
dort lehnte die öffentliche Meinung tatkräftig jede Feindseligkeit gegen Deutschland
ab, das jetzt um die Vollendung seiner Einheit rang. Am russischen Kaiserhofe
glaubte man von der Niederlage Frankreichs die Öffnung des Schwarzen Meeres
erhoffen zu dürfen, das die Westmächte nach dem Krimkriege für die russische Flotte
geschlossen hatten. Während die Petersburger und Moskaner Presse bereits leiden-
schaftlich für die in Frankreich bedrohte „Sache der Zivilisation" Partei ergriff,
hielt sich die Negierung Alexanders des Zweiten vorsichtig zurück. Und auch
England vor allem sah nicht ungern den Stern des dritten Napoleon sinken.
Bismarcks Enthüllungen über die luxemburgische und belgische Frage hatten dem
Inselreich zu deutlich bewiesen, daß der Kaiser der Franzosen die Hand sogar
nach der flandrischen Küste auszustrecken wagte. In glänzender Isolierung glaubte
der britische Löwe dem Kampf auf dem Kontinent zusehen zu können, solange die
„kleindeutschen" Ansprüche seine Seeherrschaft nicht berührten. Angesichts dieser
weltpolitischen Lage ließ Bismarck von vornherein den Ansprüchen der deutschen
Presse freien Lauf. Zeitweise sah er auch überspannte Wünsche nicht ungern, um
diesen spontanen Äußerungen des Volkswillens gegenüber die eigene Mäßigung
im diplomatischen Spiel voll zur Geltung zu bringen: „damit man wenigstens
was Ordentliches bekommt, wenn auch nicht alles, was man fordert." Er selbst
hielt als verantwortlicher Staatsmann von Anfang an fest und bestimmt an der


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[0044] Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage politische Gesichtspunkte fügte König Wilhelm von Württemberg hinzu, als er im Krimkrieg den heranreifenden Diplomaten mahnte: „Geben Sie uns Straßburg, und wir werden einig sein für alle Eventualitäten. Solange Straßburg aber ein Ausfallstor ist für eine stets bewaffnete Macht, muß ich befürchten, daß mein Land überschwemmt wird von fremden Truppen, bevor mir der deutsche Bund zu Hilfe kommen kann. Der Knotenpunkt liegt in Straßburg; denn solange das nicht deutsch ist, wird es immer ein Hindernis für Süddeutschland bilden, sich der deutschen Einheit, einer nationalen deutschen Politik, ohne Rückhalt hinzu¬ geben." Mit realpolitischer Schärfe beleuchtet dies Wort den tiefen Zusammen¬ hang zwischen der deutschen Einheit im Innern und ihrer notwendigen Sicherung gegen den westlichen Nachbarn. nachdrücklich hat es der Kanzler daher in seiner Reichstagsrede vom Mai 1871 wiederholt: „Der Keil, den die Ecke bei Weißen¬ burg in Deutschland hineinschneidet, trennte Süddeutschland wirksamer als die politische Mainlinie vom Norden." — Nichts kennzeichnet besser die wechselseitige Bedingtheit innerer und äußerer Politik, die vor allem im allseits umdrohten Kernlande Mitteleuropas inhaltsschwere Wahrheit istl Nur von innen heraus jedoch ließ Bismarck die ganze Fülle der nationalen Sehnsucht wirken, die im Grunde auch diese Erwägungen durchfluten. Mit Meister¬ hand wußte der Kanzler, der schon 1853 Kammern und Presse das mächtigste Hilfsmittel der auswärtigen Politik Preußens genannt hatte, auch jetzt gerade dies Instrument zu spielen. Nach außen aber schob er durchweg lediglich mili¬ tärisch-politische Gründe in den Vordergrund, als er im Hochsommer 1870, un¬ mittelbar noch Weißenburg und Wörth, in den diplomatischen Kampf um das Grenzland eintrat. Denn das eine war klar: die elsaß-lothringische Frage auf¬ werfen, hieß zugleich das europäische Gleichgewicht bedrohen, das der Wiener .Kongreß so überkünstlich gestützt und das die Großmächte bisher zum wenigsten in Mitteleuropa ängstlich zu wahren gewußt hatten. Jede Territorialverschiebung am Rhein mutzte Deutschland oder Frankreich das Übergewicht im europäischen Areopag verschaffen. Gerade in dieser Beziehung aber hatte es Bismarck aufs trefflichste verstanden, den Weg für eine allein deutsche Politik im Kreise der eifer¬ süchtigen Nachbarn frei zu machen. Vier Jahre zuvor noch hatte er den Nickvls- burger Frieden nur in umsichtigster Schonung aller der Eigenwünsche, die Frank¬ reich, Nußland und England vorbrachten, schließen können: im Spätsommer 1870 dagegen sah er sich einer überaus günstigen internationalen Konstellation gegenüber. Wohl wartete in Osterreich Graf Beust sehnlichst auf eine Gelegenheit, die Scharte von Königgrätz auszuwetzen, in Italien machte König Viktor Emanuel kein Hehl aus seiner werktätigen Sympathie für das bedrohte Frankreich. Aber hier wie dort lehnte die öffentliche Meinung tatkräftig jede Feindseligkeit gegen Deutschland ab, das jetzt um die Vollendung seiner Einheit rang. Am russischen Kaiserhofe glaubte man von der Niederlage Frankreichs die Öffnung des Schwarzen Meeres erhoffen zu dürfen, das die Westmächte nach dem Krimkriege für die russische Flotte geschlossen hatten. Während die Petersburger und Moskaner Presse bereits leiden- schaftlich für die in Frankreich bedrohte „Sache der Zivilisation" Partei ergriff, hielt sich die Negierung Alexanders des Zweiten vorsichtig zurück. Und auch England vor allem sah nicht ungern den Stern des dritten Napoleon sinken. Bismarcks Enthüllungen über die luxemburgische und belgische Frage hatten dem Inselreich zu deutlich bewiesen, daß der Kaiser der Franzosen die Hand sogar nach der flandrischen Küste auszustrecken wagte. In glänzender Isolierung glaubte der britische Löwe dem Kampf auf dem Kontinent zusehen zu können, solange die „kleindeutschen" Ansprüche seine Seeherrschaft nicht berührten. Angesichts dieser weltpolitischen Lage ließ Bismarck von vornherein den Ansprüchen der deutschen Presse freien Lauf. Zeitweise sah er auch überspannte Wünsche nicht ungern, um diesen spontanen Äußerungen des Volkswillens gegenüber die eigene Mäßigung im diplomatischen Spiel voll zur Geltung zu bringen: „damit man wenigstens was Ordentliches bekommt, wenn auch nicht alles, was man fordert." Er selbst hielt als verantwortlicher Staatsmann von Anfang an fest und bestimmt an der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/44>, abgerufen am 29.06.2024.