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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Bcmernsiedelung in den baltischen Provinzen

gebrach, so ergibt sich, daß die neuen Gebiete in erheblichem Umfange dazu bei¬
tragen könnten, uns künftig vor ähnlichen Entbehrungen, wie wir sie uns jetzt
auferlegen müssen, zu schützen. Auch gewerbliche Rohstoffe können uns die neuen
Staaten in großem Umfange liefern, z. B. Flachs, Leinsamen und Holz. Die
Leinen-Industrie hat deshalb -großes Interesse an der Besiedelung Kurlands.
Noch mehr Wert wird sie aber vermutlich auf die Förderung des Flachsbaues
in Livland und Estland legen, da dort die Aussichten noch günstiger sind.

Zweitens kommen die neuen Staaten als Absatzgebiet für die deutsche
Industrie in Betracht. Schon bisher war die Ausfuhr von landwirtschaftlichen
Maschinen nach dem Baltikum nicht unbedeutend. Sie wurde nur durch den
Einfuhrzoll und die Transportkosten behindert. Der Fortfall des Zolles, die
Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und die erhebliche Verdichtung der Be¬
völkerung wird die Einfuhr außerordentlich steigern. Ähnliches gilt für Dünge¬
mittel. Ferner wird eine erhebliche Nachfrage nach Baustoffen und Eifenbcchn-
bcmmaterial entstehen; müssen doch, wenn die baltischen Provinzen dieselbe Bahn¬
dichtigkeit auf die Fläche wie Ostpreußen erreichen wollen, 5400 Kilometer
Bahnen gebaut werden. Zum Vergleich sei angeführt, daß die Luftlinie zwischen
New Jor! und San Franzisko nur 4200 Kilometer beträgt, und daß sich die
Länge der Bagdadbahn von Konstantinopel bis zum Persischen Golf nach ihrer
Vollendung nur auf 3000 Kilometer belaufen wird. Von sachverständiger
Seite ist der deutsche Gesamtabfatz, der sich nach der vollen Besiedelung der
baltischen Provinzen und Litauens dorthin ergeben dürfte, auf jährlich eine
Milliarde Mark geschätzt worden, d. h. ein Zehntel unserer gesamten Ausfuhr
im Jahre 1913 und erheblich mehr als unsere Ausfuhr nach den drei Erdteilen
Asien, Afrika und Australien Msammengenonnnen.

Drittens würde das Baltikum als Anfiedelungsland in Frage kommen.
Es handelt sich um ein Gebiet von 94 000 Quadratkilometer, das an Größe den
beiden Königreichen Bayern und Württemberg gleich kommt, aber nur 29 Ein¬
wohner auf 1 Quadratmeter hat gegen 56 in Ostpreußen und 120 in Deutsch¬
land. Wenn das Baltikum die Bevölkerungsdichtigkeit von Ostpreußen erreichen
will, muß es noch mehr als 2,5 Mill. Menschen aufnehmen. Nun könnte man
vielleicht meinen, Deutschland brauche gar kein Siedelungsland mehr; denn
seine Auswanderung sei von 100--200 000 Personen in den Jahren 1880 bis
1890 auf 26 000 im Jahre 1913 zurückgegangen. Aber diefer Rückgang ist nur
aus der glänzenden wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands vor dem Kriege,
namentlich dem Aufschwung unserer Industrie, zu erklären. Und ob diese
Entwicklung nach dem Kriege sich in gleicher Weise fortsetzen wird, ist angesichts
der uns angedrohten Rohstoffsperre und der Zerstörung vieler Handels¬
beziehungen durch den Krieg für die erste Friedenszeit nicht ganz sicher. Eine
Wiederzunahme der Auswanderung liegt daher nicht außerhalb des Bereiches
der Möglichkeit. Vor allem aber findet seit Jahrzehnten in Deutschland eine
außerordentlich starke Binnenwanderung von dem Lande in die Städte statt.
Der normale Wanderverlust unseres Landvolkes während eines Jahres wird
auf 170 000 Familien geschätzt. Ferner muß damit gerechnet werden, daß von
den 250--260 000 ländlichen Familien deutscher Nationalität, die in Rußland
leben, etwa die Hälfte, durch die Gefahren für Leben und Eigentum aus Ru߬
land vertrieben, in ihrer alten Heimat Zuflucht suchen wird, und daß auch aus
Übersee Taufende von Familien nach Deutschland zurückkehren werden. Den
Deutsch-Russen ist das Recht der Rückkehr und ein Anspruch auf Entschädigung
durch das 6. Kapitel des Zusatzvertrages zum Brest-Litowsker Friedensverträge
vom 3./7. März 1918 gewährleistet. In Deutschland aber könnten, selbst wenn
es möglich wäre, durch freihändigen Ankauf zu erträglichen Preisen in allen
Landesteilen den Anteil des Großgrundbesitzes an der Fläche auf den Durch¬
schnitt des Deutschen Reiches zu reduzieren, von der Odlandbesiedlnng abgesehen,
überhaupt nur 260 000 neue Stellen von 10 Hektar geschaffen werden. Tat¬
sächlich ist jedoch, zumal bei den erheblich gestergerten Bodenprersen, ein Erwerb
so großer Flächen in Deutschland selbst ausgeschlossen; keinesfalls ist er in der


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gebrach, so ergibt sich, daß die neuen Gebiete in erheblichem Umfange dazu bei¬
tragen könnten, uns künftig vor ähnlichen Entbehrungen, wie wir sie uns jetzt
auferlegen müssen, zu schützen. Auch gewerbliche Rohstoffe können uns die neuen
Staaten in großem Umfange liefern, z. B. Flachs, Leinsamen und Holz. Die
Leinen-Industrie hat deshalb -großes Interesse an der Besiedelung Kurlands.
Noch mehr Wert wird sie aber vermutlich auf die Förderung des Flachsbaues
in Livland und Estland legen, da dort die Aussichten noch günstiger sind.

Zweitens kommen die neuen Staaten als Absatzgebiet für die deutsche
Industrie in Betracht. Schon bisher war die Ausfuhr von landwirtschaftlichen
Maschinen nach dem Baltikum nicht unbedeutend. Sie wurde nur durch den
Einfuhrzoll und die Transportkosten behindert. Der Fortfall des Zolles, die
Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und die erhebliche Verdichtung der Be¬
völkerung wird die Einfuhr außerordentlich steigern. Ähnliches gilt für Dünge¬
mittel. Ferner wird eine erhebliche Nachfrage nach Baustoffen und Eifenbcchn-
bcmmaterial entstehen; müssen doch, wenn die baltischen Provinzen dieselbe Bahn¬
dichtigkeit auf die Fläche wie Ostpreußen erreichen wollen, 5400 Kilometer
Bahnen gebaut werden. Zum Vergleich sei angeführt, daß die Luftlinie zwischen
New Jor! und San Franzisko nur 4200 Kilometer beträgt, und daß sich die
Länge der Bagdadbahn von Konstantinopel bis zum Persischen Golf nach ihrer
Vollendung nur auf 3000 Kilometer belaufen wird. Von sachverständiger
Seite ist der deutsche Gesamtabfatz, der sich nach der vollen Besiedelung der
baltischen Provinzen und Litauens dorthin ergeben dürfte, auf jährlich eine
Milliarde Mark geschätzt worden, d. h. ein Zehntel unserer gesamten Ausfuhr
im Jahre 1913 und erheblich mehr als unsere Ausfuhr nach den drei Erdteilen
Asien, Afrika und Australien Msammengenonnnen.

Drittens würde das Baltikum als Anfiedelungsland in Frage kommen.
Es handelt sich um ein Gebiet von 94 000 Quadratkilometer, das an Größe den
beiden Königreichen Bayern und Württemberg gleich kommt, aber nur 29 Ein¬
wohner auf 1 Quadratmeter hat gegen 56 in Ostpreußen und 120 in Deutsch¬
land. Wenn das Baltikum die Bevölkerungsdichtigkeit von Ostpreußen erreichen
will, muß es noch mehr als 2,5 Mill. Menschen aufnehmen. Nun könnte man
vielleicht meinen, Deutschland brauche gar kein Siedelungsland mehr; denn
seine Auswanderung sei von 100—200 000 Personen in den Jahren 1880 bis
1890 auf 26 000 im Jahre 1913 zurückgegangen. Aber diefer Rückgang ist nur
aus der glänzenden wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands vor dem Kriege,
namentlich dem Aufschwung unserer Industrie, zu erklären. Und ob diese
Entwicklung nach dem Kriege sich in gleicher Weise fortsetzen wird, ist angesichts
der uns angedrohten Rohstoffsperre und der Zerstörung vieler Handels¬
beziehungen durch den Krieg für die erste Friedenszeit nicht ganz sicher. Eine
Wiederzunahme der Auswanderung liegt daher nicht außerhalb des Bereiches
der Möglichkeit. Vor allem aber findet seit Jahrzehnten in Deutschland eine
außerordentlich starke Binnenwanderung von dem Lande in die Städte statt.
Der normale Wanderverlust unseres Landvolkes während eines Jahres wird
auf 170 000 Familien geschätzt. Ferner muß damit gerechnet werden, daß von
den 250—260 000 ländlichen Familien deutscher Nationalität, die in Rußland
leben, etwa die Hälfte, durch die Gefahren für Leben und Eigentum aus Ru߬
land vertrieben, in ihrer alten Heimat Zuflucht suchen wird, und daß auch aus
Übersee Taufende von Familien nach Deutschland zurückkehren werden. Den
Deutsch-Russen ist das Recht der Rückkehr und ein Anspruch auf Entschädigung
durch das 6. Kapitel des Zusatzvertrages zum Brest-Litowsker Friedensverträge
vom 3./7. März 1918 gewährleistet. In Deutschland aber könnten, selbst wenn
es möglich wäre, durch freihändigen Ankauf zu erträglichen Preisen in allen
Landesteilen den Anteil des Großgrundbesitzes an der Fläche auf den Durch¬
schnitt des Deutschen Reiches zu reduzieren, von der Odlandbesiedlnng abgesehen,
überhaupt nur 260 000 neue Stellen von 10 Hektar geschaffen werden. Tat¬
sächlich ist jedoch, zumal bei den erheblich gestergerten Bodenprersen, ein Erwerb
so großer Flächen in Deutschland selbst ausgeschlossen; keinesfalls ist er in der


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[0301] Deutsche Bcmernsiedelung in den baltischen Provinzen gebrach, so ergibt sich, daß die neuen Gebiete in erheblichem Umfange dazu bei¬ tragen könnten, uns künftig vor ähnlichen Entbehrungen, wie wir sie uns jetzt auferlegen müssen, zu schützen. Auch gewerbliche Rohstoffe können uns die neuen Staaten in großem Umfange liefern, z. B. Flachs, Leinsamen und Holz. Die Leinen-Industrie hat deshalb -großes Interesse an der Besiedelung Kurlands. Noch mehr Wert wird sie aber vermutlich auf die Förderung des Flachsbaues in Livland und Estland legen, da dort die Aussichten noch günstiger sind. Zweitens kommen die neuen Staaten als Absatzgebiet für die deutsche Industrie in Betracht. Schon bisher war die Ausfuhr von landwirtschaftlichen Maschinen nach dem Baltikum nicht unbedeutend. Sie wurde nur durch den Einfuhrzoll und die Transportkosten behindert. Der Fortfall des Zolles, die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und die erhebliche Verdichtung der Be¬ völkerung wird die Einfuhr außerordentlich steigern. Ähnliches gilt für Dünge¬ mittel. Ferner wird eine erhebliche Nachfrage nach Baustoffen und Eifenbcchn- bcmmaterial entstehen; müssen doch, wenn die baltischen Provinzen dieselbe Bahn¬ dichtigkeit auf die Fläche wie Ostpreußen erreichen wollen, 5400 Kilometer Bahnen gebaut werden. Zum Vergleich sei angeführt, daß die Luftlinie zwischen New Jor! und San Franzisko nur 4200 Kilometer beträgt, und daß sich die Länge der Bagdadbahn von Konstantinopel bis zum Persischen Golf nach ihrer Vollendung nur auf 3000 Kilometer belaufen wird. Von sachverständiger Seite ist der deutsche Gesamtabfatz, der sich nach der vollen Besiedelung der baltischen Provinzen und Litauens dorthin ergeben dürfte, auf jährlich eine Milliarde Mark geschätzt worden, d. h. ein Zehntel unserer gesamten Ausfuhr im Jahre 1913 und erheblich mehr als unsere Ausfuhr nach den drei Erdteilen Asien, Afrika und Australien Msammengenonnnen. Drittens würde das Baltikum als Anfiedelungsland in Frage kommen. Es handelt sich um ein Gebiet von 94 000 Quadratkilometer, das an Größe den beiden Königreichen Bayern und Württemberg gleich kommt, aber nur 29 Ein¬ wohner auf 1 Quadratmeter hat gegen 56 in Ostpreußen und 120 in Deutsch¬ land. Wenn das Baltikum die Bevölkerungsdichtigkeit von Ostpreußen erreichen will, muß es noch mehr als 2,5 Mill. Menschen aufnehmen. Nun könnte man vielleicht meinen, Deutschland brauche gar kein Siedelungsland mehr; denn seine Auswanderung sei von 100—200 000 Personen in den Jahren 1880 bis 1890 auf 26 000 im Jahre 1913 zurückgegangen. Aber diefer Rückgang ist nur aus der glänzenden wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands vor dem Kriege, namentlich dem Aufschwung unserer Industrie, zu erklären. Und ob diese Entwicklung nach dem Kriege sich in gleicher Weise fortsetzen wird, ist angesichts der uns angedrohten Rohstoffsperre und der Zerstörung vieler Handels¬ beziehungen durch den Krieg für die erste Friedenszeit nicht ganz sicher. Eine Wiederzunahme der Auswanderung liegt daher nicht außerhalb des Bereiches der Möglichkeit. Vor allem aber findet seit Jahrzehnten in Deutschland eine außerordentlich starke Binnenwanderung von dem Lande in die Städte statt. Der normale Wanderverlust unseres Landvolkes während eines Jahres wird auf 170 000 Familien geschätzt. Ferner muß damit gerechnet werden, daß von den 250—260 000 ländlichen Familien deutscher Nationalität, die in Rußland leben, etwa die Hälfte, durch die Gefahren für Leben und Eigentum aus Ru߬ land vertrieben, in ihrer alten Heimat Zuflucht suchen wird, und daß auch aus Übersee Taufende von Familien nach Deutschland zurückkehren werden. Den Deutsch-Russen ist das Recht der Rückkehr und ein Anspruch auf Entschädigung durch das 6. Kapitel des Zusatzvertrages zum Brest-Litowsker Friedensverträge vom 3./7. März 1918 gewährleistet. In Deutschland aber könnten, selbst wenn es möglich wäre, durch freihändigen Ankauf zu erträglichen Preisen in allen Landesteilen den Anteil des Großgrundbesitzes an der Fläche auf den Durch¬ schnitt des Deutschen Reiches zu reduzieren, von der Odlandbesiedlnng abgesehen, überhaupt nur 260 000 neue Stellen von 10 Hektar geschaffen werden. Tat¬ sächlich ist jedoch, zumal bei den erheblich gestergerten Bodenprersen, ein Erwerb so großer Flächen in Deutschland selbst ausgeschlossen; keinesfalls ist er in der

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/301>, abgerufen am 22.07.2024.