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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Wirtschaft, Horatiol

Löhne, die etwa dem Preisstande der im Schleichhandel vertriebenen Verbranchs¬
güter entsprechen, und hat nicht bedacht, daß dadurch der Schleichhandel geradezu
auf allen Gebieten grotzgezüchtet werden muß."

Sehr richtig! Es sind nicht nur die Kriegsgewinnstler, deren Protzentum
und Genußsucht die Preise hochtreibt. Auch die Löhne der Kriegsindustrie
wirken mit. Unnütz zu fragen, was in dem fehlerhaften Kreis Ursache und
Wirkung sei, Löhne oder Preise. Solche Wechselbeziehungen sind schon in
gesunden Friedenstagen schwer zu erforschen, geschweige an dem im Fieber sich
bäumenden kranken Wirtschaftskörper. Mit den Nominallöhnen steigern sich
die Lebensansprüche, mit den Lebensansprüchen die Preise, mit den Preisen
hinwiederum die Nominallöhne, und so geht es im ewigen Zirkel. Das Spiel
begann: die Militärbehörden schlössen Werkverträge ab, die den Unternehmern
die Selbstkosten mit prozentualen Zuschlägen vergüteten. Da war kein
Interesse mehr an billigem Einstand. Im Gegenteil, mit den höheren
Gestehungskosten stieg der Verdienst des Unternehmers, und so zog, da Arbeiter
"gefragt" waren, endloses überbieten immer weitere Kreise.

Sind die Reallöhne der deutschen Arbeiterschaft im Kriege gestiegen?
Wollten wir als Maßstab die rationierten Lebensmittel zugrunde legen, so wäre
die Frage unbedingt zu bejahen. Doch solche Rechnungsweise ist aus nahe¬
liegenden Gründen nicht erlaubt. Der Versuch, den durch Schleichhandel ge¬
deckten Bedarf mit einzubeziehen, muß scheitern. Das Orakel der Wissenschaft
schweigt, alle Maßstäbe fehlen. Es bleiben nur die Symptome, und diese alle
künden, daß, gemessen an den Preisen irgendwie erreichbarer, nach Vernunft
begehrter und beschaffter Lebensmittel, die Kaufkraft der industriellen Löhne im
Kriege gestiegen ist. Wer Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu hören, der kann
dies nicht bezweifeln- Durchschnitt ist nicht Verallgemeinerung.

Materiell sind die Arbeiter sehr viel besser daran als die Festbesoldeten.
Berechtigte Wehklage des bayerischen Kultusministers von Knilling: "Wir trei¬
ben der völligen Proletarisierung des Beamtenstandes zu, und was das Schreck¬
lichste ist, die Integrität wird auf eine harte Probe gestellt. Der deutsche Be¬
amtenstand, der ehrlichste der Welt, ist in allen Schichten der Korruption ganz
nahe, und man muß fast wehrlos zusehen. Alle staatliche Hilfe kann unmöglich
Schritt halten mit der Verteuerung der Lebenshaltung und dem Sinken des
Geldwertes."

Es ist eine andere Art von Versuchungen, denen die Arbeiter unterliegen.
Ihre Führer wissen es und steuern, wo sie können. Die Lebsucht ist erwacht,
die Überschätzung von Genüssen, die ihnen früher versagt waren, und die sie jetzt,
hochentlohnt für schwere Arbeit, sich glauben leisten zu dürfen. In der Zu¬
versicht, daß sie niemals mehr zu verzichten brauchen.

Bekennen wir es offen: wir alle haben vor dem Kriege zu gut gelebt und
uns namentlich allzu üppig ernährt, in gesteigertem Maße auch in der ersten
Kriegszeit. Wie enthirnte Tauben ihre Körner picken, so lebten wir und ver¬
zehrten, was gut und teuer war, bewußtlos, gedankenlos, in den Tag hinein,
als seien wir, Kinder und Kindeskinder, der vollen Töpfe versichert bis in die
fernsten Aeonen. Von Wirtschaftsstruktur wußten wir nichts oder wenig. Heute
muß ein jeder, der auf Bil- oder Büldung Anspruch erhebt, dreimal täglich von
Valuta sprechen, von denen er wenigstens so viel weiß, daß jener Landgerichtsrat
sich irrte, als er Anno dazumal bei seinem Freunde, dem Bankdirektor, Valuta,
die er für ein festverzinsliches Papier hielt, sehen und kaufen wollte (ebenso
irrte wie jener Regierungsassessor, der als Dombaureferent im Berichtsentwurf
des Baumeisters den Ausdruck "Fiale" in "Phiole" umänderte, weil er einen
Schreibfehler des "nur" auf dem Realgymnasium vorgebildeten Technikers ver¬
mutete).

Wir sind alle pralle Apfel gewesen und geknitterte Mispeln geworden.
Und doch fühlen wir uns -- rein Physisch -- wohler in unserer Haut als vor¬
dem, mit Ausnahme des gilt versorgten, höchst mißvergnügten Calcagno, dem
wir jeden Tag an jeder Straßenecke begegnen. Wir sind nicht mehr schwer von


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Löhne, die etwa dem Preisstande der im Schleichhandel vertriebenen Verbranchs¬
güter entsprechen, und hat nicht bedacht, daß dadurch der Schleichhandel geradezu
auf allen Gebieten grotzgezüchtet werden muß."

Sehr richtig! Es sind nicht nur die Kriegsgewinnstler, deren Protzentum
und Genußsucht die Preise hochtreibt. Auch die Löhne der Kriegsindustrie
wirken mit. Unnütz zu fragen, was in dem fehlerhaften Kreis Ursache und
Wirkung sei, Löhne oder Preise. Solche Wechselbeziehungen sind schon in
gesunden Friedenstagen schwer zu erforschen, geschweige an dem im Fieber sich
bäumenden kranken Wirtschaftskörper. Mit den Nominallöhnen steigern sich
die Lebensansprüche, mit den Lebensansprüchen die Preise, mit den Preisen
hinwiederum die Nominallöhne, und so geht es im ewigen Zirkel. Das Spiel
begann: die Militärbehörden schlössen Werkverträge ab, die den Unternehmern
die Selbstkosten mit prozentualen Zuschlägen vergüteten. Da war kein
Interesse mehr an billigem Einstand. Im Gegenteil, mit den höheren
Gestehungskosten stieg der Verdienst des Unternehmers, und so zog, da Arbeiter
„gefragt" waren, endloses überbieten immer weitere Kreise.

Sind die Reallöhne der deutschen Arbeiterschaft im Kriege gestiegen?
Wollten wir als Maßstab die rationierten Lebensmittel zugrunde legen, so wäre
die Frage unbedingt zu bejahen. Doch solche Rechnungsweise ist aus nahe¬
liegenden Gründen nicht erlaubt. Der Versuch, den durch Schleichhandel ge¬
deckten Bedarf mit einzubeziehen, muß scheitern. Das Orakel der Wissenschaft
schweigt, alle Maßstäbe fehlen. Es bleiben nur die Symptome, und diese alle
künden, daß, gemessen an den Preisen irgendwie erreichbarer, nach Vernunft
begehrter und beschaffter Lebensmittel, die Kaufkraft der industriellen Löhne im
Kriege gestiegen ist. Wer Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu hören, der kann
dies nicht bezweifeln- Durchschnitt ist nicht Verallgemeinerung.

Materiell sind die Arbeiter sehr viel besser daran als die Festbesoldeten.
Berechtigte Wehklage des bayerischen Kultusministers von Knilling: „Wir trei¬
ben der völligen Proletarisierung des Beamtenstandes zu, und was das Schreck¬
lichste ist, die Integrität wird auf eine harte Probe gestellt. Der deutsche Be¬
amtenstand, der ehrlichste der Welt, ist in allen Schichten der Korruption ganz
nahe, und man muß fast wehrlos zusehen. Alle staatliche Hilfe kann unmöglich
Schritt halten mit der Verteuerung der Lebenshaltung und dem Sinken des
Geldwertes."

Es ist eine andere Art von Versuchungen, denen die Arbeiter unterliegen.
Ihre Führer wissen es und steuern, wo sie können. Die Lebsucht ist erwacht,
die Überschätzung von Genüssen, die ihnen früher versagt waren, und die sie jetzt,
hochentlohnt für schwere Arbeit, sich glauben leisten zu dürfen. In der Zu¬
versicht, daß sie niemals mehr zu verzichten brauchen.

Bekennen wir es offen: wir alle haben vor dem Kriege zu gut gelebt und
uns namentlich allzu üppig ernährt, in gesteigertem Maße auch in der ersten
Kriegszeit. Wie enthirnte Tauben ihre Körner picken, so lebten wir und ver¬
zehrten, was gut und teuer war, bewußtlos, gedankenlos, in den Tag hinein,
als seien wir, Kinder und Kindeskinder, der vollen Töpfe versichert bis in die
fernsten Aeonen. Von Wirtschaftsstruktur wußten wir nichts oder wenig. Heute
muß ein jeder, der auf Bil- oder Büldung Anspruch erhebt, dreimal täglich von
Valuta sprechen, von denen er wenigstens so viel weiß, daß jener Landgerichtsrat
sich irrte, als er Anno dazumal bei seinem Freunde, dem Bankdirektor, Valuta,
die er für ein festverzinsliches Papier hielt, sehen und kaufen wollte (ebenso
irrte wie jener Regierungsassessor, der als Dombaureferent im Berichtsentwurf
des Baumeisters den Ausdruck „Fiale" in „Phiole" umänderte, weil er einen
Schreibfehler des „nur" auf dem Realgymnasium vorgebildeten Technikers ver¬
mutete).

Wir sind alle pralle Apfel gewesen und geknitterte Mispeln geworden.
Und doch fühlen wir uns — rein Physisch — wohler in unserer Haut als vor¬
dem, mit Ausnahme des gilt versorgten, höchst mißvergnügten Calcagno, dem
wir jeden Tag an jeder Straßenecke begegnen. Wir sind nicht mehr schwer von


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[0286] Wirtschaft, Horatiol Löhne, die etwa dem Preisstande der im Schleichhandel vertriebenen Verbranchs¬ güter entsprechen, und hat nicht bedacht, daß dadurch der Schleichhandel geradezu auf allen Gebieten grotzgezüchtet werden muß." Sehr richtig! Es sind nicht nur die Kriegsgewinnstler, deren Protzentum und Genußsucht die Preise hochtreibt. Auch die Löhne der Kriegsindustrie wirken mit. Unnütz zu fragen, was in dem fehlerhaften Kreis Ursache und Wirkung sei, Löhne oder Preise. Solche Wechselbeziehungen sind schon in gesunden Friedenstagen schwer zu erforschen, geschweige an dem im Fieber sich bäumenden kranken Wirtschaftskörper. Mit den Nominallöhnen steigern sich die Lebensansprüche, mit den Lebensansprüchen die Preise, mit den Preisen hinwiederum die Nominallöhne, und so geht es im ewigen Zirkel. Das Spiel begann: die Militärbehörden schlössen Werkverträge ab, die den Unternehmern die Selbstkosten mit prozentualen Zuschlägen vergüteten. Da war kein Interesse mehr an billigem Einstand. Im Gegenteil, mit den höheren Gestehungskosten stieg der Verdienst des Unternehmers, und so zog, da Arbeiter „gefragt" waren, endloses überbieten immer weitere Kreise. Sind die Reallöhne der deutschen Arbeiterschaft im Kriege gestiegen? Wollten wir als Maßstab die rationierten Lebensmittel zugrunde legen, so wäre die Frage unbedingt zu bejahen. Doch solche Rechnungsweise ist aus nahe¬ liegenden Gründen nicht erlaubt. Der Versuch, den durch Schleichhandel ge¬ deckten Bedarf mit einzubeziehen, muß scheitern. Das Orakel der Wissenschaft schweigt, alle Maßstäbe fehlen. Es bleiben nur die Symptome, und diese alle künden, daß, gemessen an den Preisen irgendwie erreichbarer, nach Vernunft begehrter und beschaffter Lebensmittel, die Kaufkraft der industriellen Löhne im Kriege gestiegen ist. Wer Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu hören, der kann dies nicht bezweifeln- Durchschnitt ist nicht Verallgemeinerung. Materiell sind die Arbeiter sehr viel besser daran als die Festbesoldeten. Berechtigte Wehklage des bayerischen Kultusministers von Knilling: „Wir trei¬ ben der völligen Proletarisierung des Beamtenstandes zu, und was das Schreck¬ lichste ist, die Integrität wird auf eine harte Probe gestellt. Der deutsche Be¬ amtenstand, der ehrlichste der Welt, ist in allen Schichten der Korruption ganz nahe, und man muß fast wehrlos zusehen. Alle staatliche Hilfe kann unmöglich Schritt halten mit der Verteuerung der Lebenshaltung und dem Sinken des Geldwertes." Es ist eine andere Art von Versuchungen, denen die Arbeiter unterliegen. Ihre Führer wissen es und steuern, wo sie können. Die Lebsucht ist erwacht, die Überschätzung von Genüssen, die ihnen früher versagt waren, und die sie jetzt, hochentlohnt für schwere Arbeit, sich glauben leisten zu dürfen. In der Zu¬ versicht, daß sie niemals mehr zu verzichten brauchen. Bekennen wir es offen: wir alle haben vor dem Kriege zu gut gelebt und uns namentlich allzu üppig ernährt, in gesteigertem Maße auch in der ersten Kriegszeit. Wie enthirnte Tauben ihre Körner picken, so lebten wir und ver¬ zehrten, was gut und teuer war, bewußtlos, gedankenlos, in den Tag hinein, als seien wir, Kinder und Kindeskinder, der vollen Töpfe versichert bis in die fernsten Aeonen. Von Wirtschaftsstruktur wußten wir nichts oder wenig. Heute muß ein jeder, der auf Bil- oder Büldung Anspruch erhebt, dreimal täglich von Valuta sprechen, von denen er wenigstens so viel weiß, daß jener Landgerichtsrat sich irrte, als er Anno dazumal bei seinem Freunde, dem Bankdirektor, Valuta, die er für ein festverzinsliches Papier hielt, sehen und kaufen wollte (ebenso irrte wie jener Regierungsassessor, der als Dombaureferent im Berichtsentwurf des Baumeisters den Ausdruck „Fiale" in „Phiole" umänderte, weil er einen Schreibfehler des „nur" auf dem Realgymnasium vorgebildeten Technikers ver¬ mutete). Wir sind alle pralle Apfel gewesen und geknitterte Mispeln geworden. Und doch fühlen wir uns — rein Physisch — wohler in unserer Haut als vor¬ dem, mit Ausnahme des gilt versorgten, höchst mißvergnügten Calcagno, dem wir jeden Tag an jeder Straßenecke begegnen. Wir sind nicht mehr schwer von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/286>, abgerufen am 22.07.2024.