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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Reichsländische Erfahrungen und östliche Behandlungsfragen

spiele, aus denen die Deutschenhetze der ganzen Welt unermüdlich Kapital
schlägt, bedeuten auch für uns selber bislang ungelöste Probleme, die uns noch
schwer auf der Seele Kegen. Ich habe an dieser Stelle bereits früher über die
Grenzen vorab des deutschen Beamtengeistes, soweit sie sich in den reichsländi-
schn Erfahrungen dargetan haben, des Ausführlicher gehandelt. Es ist sicher¬
lich dringend davor zu warnen, die elsaß-lothringischen Lehren vorschnell zu
ziehen und auf die Ostprobleme zu übertragen, vstoris uuvarlbns, d. h. bei der
gänzlichen Verschiedenheit der westlichen und östlichen Kulturlage ist hier die
allergrößte Vorsicht geboten. Trotz solcher Vorbehalte bleibt das elsässische Bei¬
spiel lehrreich für den, der es richtrg handhabt. Es ist doch eben derselbe soziale
Typus des losgerissenen deutschen Kulturträgers, der hier wie dort vor Auf¬
gaben gestellt ist, die ihm vou Natur nicht liegen. Dem .Kenner und unvorein¬
genommenen Beobachter beider Situationen drängen sich daher schon heute ge¬
wisse Vergleichspunkte gebieterisch auf. Verhindert ist vor allem die eme
grundlegende Beobachtung, die man in der Heimat selber nicht machen kann:
ganz derselbe Deutsche, dessen Gehaben und Tätigkeit in seinem gewohnten
Wirkungskreise wohltuend und angemessen wirkt, gewinnt überraschenderweise
einen verzerrten und unschönen Anblick, sowie er als Kulturpionier in eine
fremde Wirkungsstätte verpflanzt wird.

Der Deutsche ist seelisch vegetativer, er ist ortsgebundener als man
glaubt. Diese merkwürdige Entartung, die seine Entwurzelung zur Folge hat,
ist vielleicht einer der wenig beachteten Gründe des uns so rätselhaften Deutschen¬
hasses der ganzen Welt. Dieser Haß beruht insofern wirklich zu einem großen
Teil auf Unkenntnis, als das Ausland den Deutsche" doch vornehmlich als dis¬
harmonischen Auslanddeutschen, nicht als harmonisches Gewächs seines Wurzel¬
bodens kennt. Wie oft macht man im Elsaß die Erfahrung, daß Elsässer erstaunt
aus Altdeutschland zurückkommen, wo sie sich über Erwarten wohlgesühlt hatten.
Sie entdeckten dort mit einem Male einen ganz anderen, den echten Deutschen,
den sie noch gar nicht kannten. Wo liegen die Gründe dieser Erscheinung und
welche Züge bestimmen dieses Bild des entwurzelten Deutschen?

Es ist sehr beliebt, dieses kolonisatorische Ungeschick als Atavismus unserer
kleinstaatlichen Vergangenheit zu erklären. Die unzweifelhafte soziale Unsicher¬
heit des Deutschen wird hier als historische Unreife genommen. Zugleich läßt
diese Betrachtungsweise dem Optimismus breiten Raum, es werde ganz von
selbst mit dem Fortgang der geschichtlichen Entfaltung des neuen Deutschen
Reiches das Fehlende sich einstellen. Diese Theorie greift nicht tief genug und
verkennt die tragische Seite dieser Erscheinung. Die inneren Schwierigkeiten,
die sich dem Erwachsen und der Verfestigung einer deutschen Gesellschaft ent¬
gegenstellen, deren Schwächen für unsere kolonisatorischen Mißerfolge mit in
erster Linie haftbar zu machen sind, stammen aus dem Kern des deutschen Wesens
selber. Für das deutsche Wesen in seiner urtümlichen Tiefe ist eine enge Ver-
schwisterung von Individualismus und Objektivismus bezeichnend. Der
Deutsche ist der geborene Fanatiker der Sachlichkeit, der sich bis zur menschlichen
Verarmung seiner Person an die Sache hingeben und weggeben kann. Aber er
sieht diese Sache, die ihm Beruf und heilige Sendung ist, so durchaus durch die
Brille seiner Individualität, daß aus dieser metaphysischen Urzelle seines Lebens
kein Gemeinschaftsbewußtsein erwachsen kann. Im selben Zeitraume, wo im
Westen Europas sich jene beiden Machtstaaten verfestigten, die heute das Rück¬
grat der gegen uns gerichteten Koalition bilden, machte sich der Deutsche mit
allem metaphysischen und starren Ernst, der ihm eigen ist, daran, seine beiden
großen Gemeinschaften, das Reich und die Kirche, zu zertrümmern. Und man
kann heute mit einiger Sicherheit behaupten, daß Deutschland unrettbar dem
griechischen Geschicke verfallen wäre, wenn nicht eine besondere Auslese des
deutscheu Menschen, wenn nicht das willenseinseitige ostelbische Siedlertum



") Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen stütze ich mich im Folgenden aus
diesen Aufsatz "Der altdeutsche Einwanderer im Elsaß" (Grenzboten 1917, Heft 41.) -
Reichsländische Erfahrungen und östliche Behandlungsfragen

spiele, aus denen die Deutschenhetze der ganzen Welt unermüdlich Kapital
schlägt, bedeuten auch für uns selber bislang ungelöste Probleme, die uns noch
schwer auf der Seele Kegen. Ich habe an dieser Stelle bereits früher über die
Grenzen vorab des deutschen Beamtengeistes, soweit sie sich in den reichsländi-
schn Erfahrungen dargetan haben, des Ausführlicher gehandelt. Es ist sicher¬
lich dringend davor zu warnen, die elsaß-lothringischen Lehren vorschnell zu
ziehen und auf die Ostprobleme zu übertragen, vstoris uuvarlbns, d. h. bei der
gänzlichen Verschiedenheit der westlichen und östlichen Kulturlage ist hier die
allergrößte Vorsicht geboten. Trotz solcher Vorbehalte bleibt das elsässische Bei¬
spiel lehrreich für den, der es richtrg handhabt. Es ist doch eben derselbe soziale
Typus des losgerissenen deutschen Kulturträgers, der hier wie dort vor Auf¬
gaben gestellt ist, die ihm vou Natur nicht liegen. Dem .Kenner und unvorein¬
genommenen Beobachter beider Situationen drängen sich daher schon heute ge¬
wisse Vergleichspunkte gebieterisch auf. Verhindert ist vor allem die eme
grundlegende Beobachtung, die man in der Heimat selber nicht machen kann:
ganz derselbe Deutsche, dessen Gehaben und Tätigkeit in seinem gewohnten
Wirkungskreise wohltuend und angemessen wirkt, gewinnt überraschenderweise
einen verzerrten und unschönen Anblick, sowie er als Kulturpionier in eine
fremde Wirkungsstätte verpflanzt wird.

Der Deutsche ist seelisch vegetativer, er ist ortsgebundener als man
glaubt. Diese merkwürdige Entartung, die seine Entwurzelung zur Folge hat,
ist vielleicht einer der wenig beachteten Gründe des uns so rätselhaften Deutschen¬
hasses der ganzen Welt. Dieser Haß beruht insofern wirklich zu einem großen
Teil auf Unkenntnis, als das Ausland den Deutsche» doch vornehmlich als dis¬
harmonischen Auslanddeutschen, nicht als harmonisches Gewächs seines Wurzel¬
bodens kennt. Wie oft macht man im Elsaß die Erfahrung, daß Elsässer erstaunt
aus Altdeutschland zurückkommen, wo sie sich über Erwarten wohlgesühlt hatten.
Sie entdeckten dort mit einem Male einen ganz anderen, den echten Deutschen,
den sie noch gar nicht kannten. Wo liegen die Gründe dieser Erscheinung und
welche Züge bestimmen dieses Bild des entwurzelten Deutschen?

Es ist sehr beliebt, dieses kolonisatorische Ungeschick als Atavismus unserer
kleinstaatlichen Vergangenheit zu erklären. Die unzweifelhafte soziale Unsicher¬
heit des Deutschen wird hier als historische Unreife genommen. Zugleich läßt
diese Betrachtungsweise dem Optimismus breiten Raum, es werde ganz von
selbst mit dem Fortgang der geschichtlichen Entfaltung des neuen Deutschen
Reiches das Fehlende sich einstellen. Diese Theorie greift nicht tief genug und
verkennt die tragische Seite dieser Erscheinung. Die inneren Schwierigkeiten,
die sich dem Erwachsen und der Verfestigung einer deutschen Gesellschaft ent¬
gegenstellen, deren Schwächen für unsere kolonisatorischen Mißerfolge mit in
erster Linie haftbar zu machen sind, stammen aus dem Kern des deutschen Wesens
selber. Für das deutsche Wesen in seiner urtümlichen Tiefe ist eine enge Ver-
schwisterung von Individualismus und Objektivismus bezeichnend. Der
Deutsche ist der geborene Fanatiker der Sachlichkeit, der sich bis zur menschlichen
Verarmung seiner Person an die Sache hingeben und weggeben kann. Aber er
sieht diese Sache, die ihm Beruf und heilige Sendung ist, so durchaus durch die
Brille seiner Individualität, daß aus dieser metaphysischen Urzelle seines Lebens
kein Gemeinschaftsbewußtsein erwachsen kann. Im selben Zeitraume, wo im
Westen Europas sich jene beiden Machtstaaten verfestigten, die heute das Rück¬
grat der gegen uns gerichteten Koalition bilden, machte sich der Deutsche mit
allem metaphysischen und starren Ernst, der ihm eigen ist, daran, seine beiden
großen Gemeinschaften, das Reich und die Kirche, zu zertrümmern. Und man
kann heute mit einiger Sicherheit behaupten, daß Deutschland unrettbar dem
griechischen Geschicke verfallen wäre, wenn nicht eine besondere Auslese des
deutscheu Menschen, wenn nicht das willenseinseitige ostelbische Siedlertum



») Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen stütze ich mich im Folgenden aus
diesen Aufsatz „Der altdeutsche Einwanderer im Elsaß" (Grenzboten 1917, Heft 41.) -
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[0275] Reichsländische Erfahrungen und östliche Behandlungsfragen spiele, aus denen die Deutschenhetze der ganzen Welt unermüdlich Kapital schlägt, bedeuten auch für uns selber bislang ungelöste Probleme, die uns noch schwer auf der Seele Kegen. Ich habe an dieser Stelle bereits früher über die Grenzen vorab des deutschen Beamtengeistes, soweit sie sich in den reichsländi- schn Erfahrungen dargetan haben, des Ausführlicher gehandelt. Es ist sicher¬ lich dringend davor zu warnen, die elsaß-lothringischen Lehren vorschnell zu ziehen und auf die Ostprobleme zu übertragen, vstoris uuvarlbns, d. h. bei der gänzlichen Verschiedenheit der westlichen und östlichen Kulturlage ist hier die allergrößte Vorsicht geboten. Trotz solcher Vorbehalte bleibt das elsässische Bei¬ spiel lehrreich für den, der es richtrg handhabt. Es ist doch eben derselbe soziale Typus des losgerissenen deutschen Kulturträgers, der hier wie dort vor Auf¬ gaben gestellt ist, die ihm vou Natur nicht liegen. Dem .Kenner und unvorein¬ genommenen Beobachter beider Situationen drängen sich daher schon heute ge¬ wisse Vergleichspunkte gebieterisch auf. Verhindert ist vor allem die eme grundlegende Beobachtung, die man in der Heimat selber nicht machen kann: ganz derselbe Deutsche, dessen Gehaben und Tätigkeit in seinem gewohnten Wirkungskreise wohltuend und angemessen wirkt, gewinnt überraschenderweise einen verzerrten und unschönen Anblick, sowie er als Kulturpionier in eine fremde Wirkungsstätte verpflanzt wird. Der Deutsche ist seelisch vegetativer, er ist ortsgebundener als man glaubt. Diese merkwürdige Entartung, die seine Entwurzelung zur Folge hat, ist vielleicht einer der wenig beachteten Gründe des uns so rätselhaften Deutschen¬ hasses der ganzen Welt. Dieser Haß beruht insofern wirklich zu einem großen Teil auf Unkenntnis, als das Ausland den Deutsche» doch vornehmlich als dis¬ harmonischen Auslanddeutschen, nicht als harmonisches Gewächs seines Wurzel¬ bodens kennt. Wie oft macht man im Elsaß die Erfahrung, daß Elsässer erstaunt aus Altdeutschland zurückkommen, wo sie sich über Erwarten wohlgesühlt hatten. Sie entdeckten dort mit einem Male einen ganz anderen, den echten Deutschen, den sie noch gar nicht kannten. Wo liegen die Gründe dieser Erscheinung und welche Züge bestimmen dieses Bild des entwurzelten Deutschen? Es ist sehr beliebt, dieses kolonisatorische Ungeschick als Atavismus unserer kleinstaatlichen Vergangenheit zu erklären. Die unzweifelhafte soziale Unsicher¬ heit des Deutschen wird hier als historische Unreife genommen. Zugleich läßt diese Betrachtungsweise dem Optimismus breiten Raum, es werde ganz von selbst mit dem Fortgang der geschichtlichen Entfaltung des neuen Deutschen Reiches das Fehlende sich einstellen. Diese Theorie greift nicht tief genug und verkennt die tragische Seite dieser Erscheinung. Die inneren Schwierigkeiten, die sich dem Erwachsen und der Verfestigung einer deutschen Gesellschaft ent¬ gegenstellen, deren Schwächen für unsere kolonisatorischen Mißerfolge mit in erster Linie haftbar zu machen sind, stammen aus dem Kern des deutschen Wesens selber. Für das deutsche Wesen in seiner urtümlichen Tiefe ist eine enge Ver- schwisterung von Individualismus und Objektivismus bezeichnend. Der Deutsche ist der geborene Fanatiker der Sachlichkeit, der sich bis zur menschlichen Verarmung seiner Person an die Sache hingeben und weggeben kann. Aber er sieht diese Sache, die ihm Beruf und heilige Sendung ist, so durchaus durch die Brille seiner Individualität, daß aus dieser metaphysischen Urzelle seines Lebens kein Gemeinschaftsbewußtsein erwachsen kann. Im selben Zeitraume, wo im Westen Europas sich jene beiden Machtstaaten verfestigten, die heute das Rück¬ grat der gegen uns gerichteten Koalition bilden, machte sich der Deutsche mit allem metaphysischen und starren Ernst, der ihm eigen ist, daran, seine beiden großen Gemeinschaften, das Reich und die Kirche, zu zertrümmern. Und man kann heute mit einiger Sicherheit behaupten, daß Deutschland unrettbar dem griechischen Geschicke verfallen wäre, wenn nicht eine besondere Auslese des deutscheu Menschen, wenn nicht das willenseinseitige ostelbische Siedlertum ») Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen stütze ich mich im Folgenden aus diesen Aufsatz „Der altdeutsche Einwanderer im Elsaß" (Grenzboten 1917, Heft 41.) -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/275>, abgerufen am 22.07.2024.