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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Rcichsländische Erfahrungen und östliche Behandlungsfragen

Es heißt nicht die aufreibende und entsagende Arbeit der Etappe schmähen,
wenn man feststellt, daß das Gros der körperlich und seelisch gesunden Kräfte
unseres Volkstums heute durch den Waffendienst diesen so zu sagen kriegskoloni¬
satorischen Aufgaben entzogen wird. Auch daß die seelische Lage der Etappe ge¬
wissen unerfreulichen und allgemein verurteilten Entartungserscheinungen der
Kriegsmoral besonders günstig ist, ist heute allen kriegführenden Völkern bekannt.
Die Etappendisziplin, die mit allen Mitteln in den weiten Okkupationsgebieten
dem deutschen Namen Achtung zu schaffen sucht, hat mit inneren Widerständen
zu rechnen, die bekämpft, aber nicht ausgerottet werden können, weil sie in der
ewigen Natur des Kriegszustandes selber wurzeln. Und ferner: der ungeminderte
Kriegwille unsrer Feinde und die daraus hervorwachsende dauernde Lebensgefahr
unseres Volkes zwingt uns, ob wir wollen oder nicht, die neu erschlossenen Ge¬
biete des Ostens einstweilen in erster Linie unserer wirtschaftlichen Selbsterhal¬
tung nutzbar zu machen. Ob diejenigen die Bilanz zwischen außenpolitischer
und innenpolitischer Klugheit richtig gezogen haben, die beim Friedensschluß mit
der Ukraine die Spitzmarke des "Brotfriedens" allzu laut verkündeten, mag dahin¬
gestellt bleiben. Den Tatsachen trägt sie Rechnung, und ob man ihre Proklamie¬
rung als ehrlich, brutal, zynisch oder enfant-terriblehaft ausdeutet, bleibt
Standpunktssache. Aber daß das Wort in Kiew einen anderen Klang haben mußte
als in Wien, liegt auf der Hand. Mit Mitteleuropa wirtschaftlich verbunden
sein, das heißt heute eine verheißungsvolle Zukunft mit einer überaus lastenden
Gegenwart voll Opfern und Mühsalen auf Risiko vorweg bezahlen. Auch uns
sind die Brotkarten und die fleischlosen Tage samt allen sonstigen Kriegsbeschrän¬
kungen unserer persönlichen und bürgerlichen Freiheit nicht angenehm, aber bei
uns weiß jedes Kind, muß jedes Kind wissen, daß es uns um Kopf und Kragen
geht und daß wir nicht die Wahl haben, ob wir all dieses auf uns nehmen und er¬
tragen wollen oder nicht. Gerade diese Erkenntnis erhält uns ja die nationale
Spannkraft, und die EinPrägung dieses Bewußtseins ist der gute innerpolitische
Sinn der sonst recht anfechtbaren Friedensangebote. Aber wenn nun trotz allem
nationalen Idealismus das Murren und Klagen kleinmenschlicher Kriegsnervosi¬
tät auch im deutschen Hause nicht ganz fehlt, dann ist es ein wenig weit gegangen,
den Ostvölkern diese natürlichen Empfindungen zu verdenken.' Die kurländi-
schen Letten haben keine bolschewistische Tyrannei am eigenen Leibe erfahren,
sondern der vielgeschmähte Zarismus hat sich dort im Zeichen des Deutschen¬
hasses mit einer mehr diplomatischen als ernst gemeinten, dafür aber sehr ernst
genommenen Verbeugung vor den nationalen Eitelkeiten der Letten verab¬
schiedet. Das sollten alle die klugen Leute sich überlegen, die schon heute von
eben diesen Letten eine überschwengliche Dankbarkeit für die Segnungen der
deutschen Kultur nach der russischen "Mißwirtschaft" erwarten, unserer Kultur,
die sich jenen, wie die Dinge liegen und liegen müssen, unter der Form der
Rationierungen, Requisitionen und Verkehrsbeschränkungen nicht eben sehr ver-
, führerisch und werbekräftig präsentiert.

Das deutsche System und der deutsche Mensch im Osten, im Zeichen der
ehernen Zeit als Militärdiktatur und als Etappenkrieger: welch ungeheure sach¬
gebotene Erschwerung für unser Volk, deu Weg zum Herzen der Ostvölker zu
finden! Welch undankbare Herkulesarbeit für unsere tüchtigen Kulturpioniere,
dem Deutschtum rasch zuflutende Sympathien unter solchen Umständen zu er¬
werben. Immerhin: alle die hier angedeuteten Schwierigkeiten bergen in sich
den Trost, daß sie zeitlichen Charakter tragen. Deutsches Feldherrngenie und
deutsche Tapferkeit arbeiten erfolgreich daran, allen Kriegsnotständen möglichst
schnell ein Ende zu bereiten. Einmal werden nicht nur diese Bedrängnisse
selber, sondern auch die Erinnerungen daran ein Ende haben. ^

Aber auch damit ist nicht alles Rauhe geglättet, und hier kommen wir erst
an die eigentlich schwerwiegenden Fragen. Das neudeutsche System und der
neudeutsche Mensch: beide haben auch jenseits des Kriegszustandes und seiner
harten Zwangsläufigkeiten ihre Ecken und .Kanten, an die sich fremde Stämme
und Völker nicht so leicht gewöhnen. Die schon erwähnten peinlichen Schulbei-


Rcichsländische Erfahrungen und östliche Behandlungsfragen

Es heißt nicht die aufreibende und entsagende Arbeit der Etappe schmähen,
wenn man feststellt, daß das Gros der körperlich und seelisch gesunden Kräfte
unseres Volkstums heute durch den Waffendienst diesen so zu sagen kriegskoloni¬
satorischen Aufgaben entzogen wird. Auch daß die seelische Lage der Etappe ge¬
wissen unerfreulichen und allgemein verurteilten Entartungserscheinungen der
Kriegsmoral besonders günstig ist, ist heute allen kriegführenden Völkern bekannt.
Die Etappendisziplin, die mit allen Mitteln in den weiten Okkupationsgebieten
dem deutschen Namen Achtung zu schaffen sucht, hat mit inneren Widerständen
zu rechnen, die bekämpft, aber nicht ausgerottet werden können, weil sie in der
ewigen Natur des Kriegszustandes selber wurzeln. Und ferner: der ungeminderte
Kriegwille unsrer Feinde und die daraus hervorwachsende dauernde Lebensgefahr
unseres Volkes zwingt uns, ob wir wollen oder nicht, die neu erschlossenen Ge¬
biete des Ostens einstweilen in erster Linie unserer wirtschaftlichen Selbsterhal¬
tung nutzbar zu machen. Ob diejenigen die Bilanz zwischen außenpolitischer
und innenpolitischer Klugheit richtig gezogen haben, die beim Friedensschluß mit
der Ukraine die Spitzmarke des „Brotfriedens" allzu laut verkündeten, mag dahin¬
gestellt bleiben. Den Tatsachen trägt sie Rechnung, und ob man ihre Proklamie¬
rung als ehrlich, brutal, zynisch oder enfant-terriblehaft ausdeutet, bleibt
Standpunktssache. Aber daß das Wort in Kiew einen anderen Klang haben mußte
als in Wien, liegt auf der Hand. Mit Mitteleuropa wirtschaftlich verbunden
sein, das heißt heute eine verheißungsvolle Zukunft mit einer überaus lastenden
Gegenwart voll Opfern und Mühsalen auf Risiko vorweg bezahlen. Auch uns
sind die Brotkarten und die fleischlosen Tage samt allen sonstigen Kriegsbeschrän¬
kungen unserer persönlichen und bürgerlichen Freiheit nicht angenehm, aber bei
uns weiß jedes Kind, muß jedes Kind wissen, daß es uns um Kopf und Kragen
geht und daß wir nicht die Wahl haben, ob wir all dieses auf uns nehmen und er¬
tragen wollen oder nicht. Gerade diese Erkenntnis erhält uns ja die nationale
Spannkraft, und die EinPrägung dieses Bewußtseins ist der gute innerpolitische
Sinn der sonst recht anfechtbaren Friedensangebote. Aber wenn nun trotz allem
nationalen Idealismus das Murren und Klagen kleinmenschlicher Kriegsnervosi¬
tät auch im deutschen Hause nicht ganz fehlt, dann ist es ein wenig weit gegangen,
den Ostvölkern diese natürlichen Empfindungen zu verdenken.' Die kurländi-
schen Letten haben keine bolschewistische Tyrannei am eigenen Leibe erfahren,
sondern der vielgeschmähte Zarismus hat sich dort im Zeichen des Deutschen¬
hasses mit einer mehr diplomatischen als ernst gemeinten, dafür aber sehr ernst
genommenen Verbeugung vor den nationalen Eitelkeiten der Letten verab¬
schiedet. Das sollten alle die klugen Leute sich überlegen, die schon heute von
eben diesen Letten eine überschwengliche Dankbarkeit für die Segnungen der
deutschen Kultur nach der russischen „Mißwirtschaft" erwarten, unserer Kultur,
die sich jenen, wie die Dinge liegen und liegen müssen, unter der Form der
Rationierungen, Requisitionen und Verkehrsbeschränkungen nicht eben sehr ver-
, führerisch und werbekräftig präsentiert.

Das deutsche System und der deutsche Mensch im Osten, im Zeichen der
ehernen Zeit als Militärdiktatur und als Etappenkrieger: welch ungeheure sach¬
gebotene Erschwerung für unser Volk, deu Weg zum Herzen der Ostvölker zu
finden! Welch undankbare Herkulesarbeit für unsere tüchtigen Kulturpioniere,
dem Deutschtum rasch zuflutende Sympathien unter solchen Umständen zu er¬
werben. Immerhin: alle die hier angedeuteten Schwierigkeiten bergen in sich
den Trost, daß sie zeitlichen Charakter tragen. Deutsches Feldherrngenie und
deutsche Tapferkeit arbeiten erfolgreich daran, allen Kriegsnotständen möglichst
schnell ein Ende zu bereiten. Einmal werden nicht nur diese Bedrängnisse
selber, sondern auch die Erinnerungen daran ein Ende haben. ^

Aber auch damit ist nicht alles Rauhe geglättet, und hier kommen wir erst
an die eigentlich schwerwiegenden Fragen. Das neudeutsche System und der
neudeutsche Mensch: beide haben auch jenseits des Kriegszustandes und seiner
harten Zwangsläufigkeiten ihre Ecken und .Kanten, an die sich fremde Stämme
und Völker nicht so leicht gewöhnen. Die schon erwähnten peinlichen Schulbei-


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[0274] Rcichsländische Erfahrungen und östliche Behandlungsfragen Es heißt nicht die aufreibende und entsagende Arbeit der Etappe schmähen, wenn man feststellt, daß das Gros der körperlich und seelisch gesunden Kräfte unseres Volkstums heute durch den Waffendienst diesen so zu sagen kriegskoloni¬ satorischen Aufgaben entzogen wird. Auch daß die seelische Lage der Etappe ge¬ wissen unerfreulichen und allgemein verurteilten Entartungserscheinungen der Kriegsmoral besonders günstig ist, ist heute allen kriegführenden Völkern bekannt. Die Etappendisziplin, die mit allen Mitteln in den weiten Okkupationsgebieten dem deutschen Namen Achtung zu schaffen sucht, hat mit inneren Widerständen zu rechnen, die bekämpft, aber nicht ausgerottet werden können, weil sie in der ewigen Natur des Kriegszustandes selber wurzeln. Und ferner: der ungeminderte Kriegwille unsrer Feinde und die daraus hervorwachsende dauernde Lebensgefahr unseres Volkes zwingt uns, ob wir wollen oder nicht, die neu erschlossenen Ge¬ biete des Ostens einstweilen in erster Linie unserer wirtschaftlichen Selbsterhal¬ tung nutzbar zu machen. Ob diejenigen die Bilanz zwischen außenpolitischer und innenpolitischer Klugheit richtig gezogen haben, die beim Friedensschluß mit der Ukraine die Spitzmarke des „Brotfriedens" allzu laut verkündeten, mag dahin¬ gestellt bleiben. Den Tatsachen trägt sie Rechnung, und ob man ihre Proklamie¬ rung als ehrlich, brutal, zynisch oder enfant-terriblehaft ausdeutet, bleibt Standpunktssache. Aber daß das Wort in Kiew einen anderen Klang haben mußte als in Wien, liegt auf der Hand. Mit Mitteleuropa wirtschaftlich verbunden sein, das heißt heute eine verheißungsvolle Zukunft mit einer überaus lastenden Gegenwart voll Opfern und Mühsalen auf Risiko vorweg bezahlen. Auch uns sind die Brotkarten und die fleischlosen Tage samt allen sonstigen Kriegsbeschrän¬ kungen unserer persönlichen und bürgerlichen Freiheit nicht angenehm, aber bei uns weiß jedes Kind, muß jedes Kind wissen, daß es uns um Kopf und Kragen geht und daß wir nicht die Wahl haben, ob wir all dieses auf uns nehmen und er¬ tragen wollen oder nicht. Gerade diese Erkenntnis erhält uns ja die nationale Spannkraft, und die EinPrägung dieses Bewußtseins ist der gute innerpolitische Sinn der sonst recht anfechtbaren Friedensangebote. Aber wenn nun trotz allem nationalen Idealismus das Murren und Klagen kleinmenschlicher Kriegsnervosi¬ tät auch im deutschen Hause nicht ganz fehlt, dann ist es ein wenig weit gegangen, den Ostvölkern diese natürlichen Empfindungen zu verdenken.' Die kurländi- schen Letten haben keine bolschewistische Tyrannei am eigenen Leibe erfahren, sondern der vielgeschmähte Zarismus hat sich dort im Zeichen des Deutschen¬ hasses mit einer mehr diplomatischen als ernst gemeinten, dafür aber sehr ernst genommenen Verbeugung vor den nationalen Eitelkeiten der Letten verab¬ schiedet. Das sollten alle die klugen Leute sich überlegen, die schon heute von eben diesen Letten eine überschwengliche Dankbarkeit für die Segnungen der deutschen Kultur nach der russischen „Mißwirtschaft" erwarten, unserer Kultur, die sich jenen, wie die Dinge liegen und liegen müssen, unter der Form der Rationierungen, Requisitionen und Verkehrsbeschränkungen nicht eben sehr ver- , führerisch und werbekräftig präsentiert. Das deutsche System und der deutsche Mensch im Osten, im Zeichen der ehernen Zeit als Militärdiktatur und als Etappenkrieger: welch ungeheure sach¬ gebotene Erschwerung für unser Volk, deu Weg zum Herzen der Ostvölker zu finden! Welch undankbare Herkulesarbeit für unsere tüchtigen Kulturpioniere, dem Deutschtum rasch zuflutende Sympathien unter solchen Umständen zu er¬ werben. Immerhin: alle die hier angedeuteten Schwierigkeiten bergen in sich den Trost, daß sie zeitlichen Charakter tragen. Deutsches Feldherrngenie und deutsche Tapferkeit arbeiten erfolgreich daran, allen Kriegsnotständen möglichst schnell ein Ende zu bereiten. Einmal werden nicht nur diese Bedrängnisse selber, sondern auch die Erinnerungen daran ein Ende haben. ^ Aber auch damit ist nicht alles Rauhe geglättet, und hier kommen wir erst an die eigentlich schwerwiegenden Fragen. Das neudeutsche System und der neudeutsche Mensch: beide haben auch jenseits des Kriegszustandes und seiner harten Zwangsläufigkeiten ihre Ecken und .Kanten, an die sich fremde Stämme und Völker nicht so leicht gewöhnen. Die schon erwähnten peinlichen Schulbei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/274>, abgerufen am 22.07.2024.