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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Die "östliche Neuorientierung"

An diesem Punkt trennt sich unsere Auffassung vor allem von der bis zur
Ermüdung in der "Vossischen Zeitung" von Georg Bernhard vertretenen An¬
schauung, die wichtigste Forderung der östlichen Neuorientierung sei äußerste Milde
in den Friedensbedingungen, d. h. gegenwärtig eine Revision des Brester Ver-
trages und ein Verzicht auf die nordlivländische und estländische Küste. Daß die
Dura oder gar die berüchtigte Demarkationslinie des Brester Vertrages eine völlig
unmögliche Grenze abgebe, ist jedem Kenner der ethnischen Verhältnisse im Bal¬
tikum unmittelbar einleuchtend. Fast möchte man angesichts der sicheren Konse¬
quenzen einer solchen Regelung den Verzicht auf das gesamte Baltenland der
Angliederung eines bloßen Teiles an Deutschland vorziehen. Ein solch unerhörtes
Herunterschrauben des gewonnenen Einflusses im nahen Osten wäre aber ein so
offenbarer Beweis politischer Schwäche und wäre mit einer derartigen Einbuße
an Prestige bei Rußland und der ganzen Internationale verknüpft, daß daran
wohl auch die extremen Verfechter eines haltlosen Versöhnungsprogrammes nicht
im Ernst denken. Schon die Tatsache, daß wir das militärisch von den Russen
feit langem aufgegebene Liv- und Estland, das uns kampflos in die Hände ge¬
fallen wäre, nicht viel früher besetzt haben, hat in Rußland nach übereinstimmendem
Bericht aller Augenzeugen nur erstauntes Kopfschütieln erzeugt. DaS Hinaus¬
zögern einer endgültigen Regelung der baltischen Frage wirkt dort im Lande aufs
äußerste verstimmend, schwächt das deutsche Prestige in allen Kreisen, weckt den
nationalen Größenwahn der Unterschicht und deren Selbständigkeitsgelüste und
bereitet englischen Hetzereien und Wühlereien den Boden. Wer. wie der Schreiber
dieser Zeilen, die Verhältnisse des Landes vor und nach der Okkupation genau
kennt und soeben Gelegenheit gehabt hat, mit deutschen, lettischen und chemischen
Führern des Landes Fühlung zu nehmen, ist erstaunt über die Einstimmigkeit,
mit der alle das Fortdauern des Provisoriums verurteilen und zugleich auf die
englischen Machenschaften hindeuten, die in Estland begonnen und neuerdings auch
auf das lettische Livland übergegriffen haben. Nicht die Russen sind es, deren
Agitation dort die Angliederung des Landes an Deutschland untergräbt, nicht sie
sind es, die bei der gegenwärtigen Lage det Dinge die Frucht eines deutschen
Verzichts auf beherrschenden Einfluß im baltischen Lande ernten würden, sondern
durch Stärkung des chemischen und lettischen Separatismus sucht England sich dort
ein neues Belgien an der Ostsee zu schaffen, dessen ScheinselbstKndigkeit ihm die
Errichtung einer Basis für seinen Einfluß nach Nutzland und für einen fort¬
dauernden Druck auf Deutschland zum glücklichen Geschenk machen nützte. Die¬
jenigen Vertreter der östlichen Neuorientierung also, die in England den eigentlichen
und gefährlichsten Feind sehen, haben am allerwenigsten Anlaß, einer Regelung
der baltischen Frage das Wort zu reden, die zwar zugunsten Rußlands gedacht
sein mag, tatsächlich aber einzig zum Nutzen Englands und damit gleichermaßen
zum Schaden Deutschlands und Rußlands ausschlagen würde.

Daß wirtschaftliche Interessen Rußland den Besitz des Baltenlandes
wünschenswert erscheinen lassen, soll nicht bestritten werden, allein in dem Zu¬
stande der Gärung, in dem sich Rußland aller Voraussicht nach noch auf Jahre
hinaus befinden wird, spielen diese weltwirtschaftlichen Gesichtspunkte im Umkreise
seiner Interessen nicht die erste Rolle. Der Besitz Finnlands, der Ostseeprovinzen,
Litauens und Polens bedeutete aber andererseits für Rußland eine Belastung
mit kulturellen und nationalen Problemen, denen es sich nicht gewachsen gezeigt
hat. Das alte Rußland mit seiner unorganischen Zusammenballung von Völker¬
schaften des verschiedensten Kulturniveaus ist durch den Weltkrieg abgetan worden.
Nicht der historischen Reaktion zu dienen und das durch den Richtspruch einer
großen und entscheidungsschweren Zeit Zertrümmerte willkürlich und mühsam aus¬
zuflicken, kann nunmehr unsere Aufgabe sein, die Loslösung der von Rußland nie
als wahrhaft zugehörig empfundenen Randvölker ist vollzogene Tatsache. Sie ist
durch die Interessen deutscher Machterweiterung und durch ethnische und kulturelle
Entfremdung dieser Völkerschaften gegenüber Rußland gleichermaßen begründet
und könnte nur durch einen Akt doktrinärer Willkür rückgängig gemacht werden.


Die „östliche Neuorientierung"

An diesem Punkt trennt sich unsere Auffassung vor allem von der bis zur
Ermüdung in der „Vossischen Zeitung" von Georg Bernhard vertretenen An¬
schauung, die wichtigste Forderung der östlichen Neuorientierung sei äußerste Milde
in den Friedensbedingungen, d. h. gegenwärtig eine Revision des Brester Ver-
trages und ein Verzicht auf die nordlivländische und estländische Küste. Daß die
Dura oder gar die berüchtigte Demarkationslinie des Brester Vertrages eine völlig
unmögliche Grenze abgebe, ist jedem Kenner der ethnischen Verhältnisse im Bal¬
tikum unmittelbar einleuchtend. Fast möchte man angesichts der sicheren Konse¬
quenzen einer solchen Regelung den Verzicht auf das gesamte Baltenland der
Angliederung eines bloßen Teiles an Deutschland vorziehen. Ein solch unerhörtes
Herunterschrauben des gewonnenen Einflusses im nahen Osten wäre aber ein so
offenbarer Beweis politischer Schwäche und wäre mit einer derartigen Einbuße
an Prestige bei Rußland und der ganzen Internationale verknüpft, daß daran
wohl auch die extremen Verfechter eines haltlosen Versöhnungsprogrammes nicht
im Ernst denken. Schon die Tatsache, daß wir das militärisch von den Russen
feit langem aufgegebene Liv- und Estland, das uns kampflos in die Hände ge¬
fallen wäre, nicht viel früher besetzt haben, hat in Rußland nach übereinstimmendem
Bericht aller Augenzeugen nur erstauntes Kopfschütieln erzeugt. DaS Hinaus¬
zögern einer endgültigen Regelung der baltischen Frage wirkt dort im Lande aufs
äußerste verstimmend, schwächt das deutsche Prestige in allen Kreisen, weckt den
nationalen Größenwahn der Unterschicht und deren Selbständigkeitsgelüste und
bereitet englischen Hetzereien und Wühlereien den Boden. Wer. wie der Schreiber
dieser Zeilen, die Verhältnisse des Landes vor und nach der Okkupation genau
kennt und soeben Gelegenheit gehabt hat, mit deutschen, lettischen und chemischen
Führern des Landes Fühlung zu nehmen, ist erstaunt über die Einstimmigkeit,
mit der alle das Fortdauern des Provisoriums verurteilen und zugleich auf die
englischen Machenschaften hindeuten, die in Estland begonnen und neuerdings auch
auf das lettische Livland übergegriffen haben. Nicht die Russen sind es, deren
Agitation dort die Angliederung des Landes an Deutschland untergräbt, nicht sie
sind es, die bei der gegenwärtigen Lage det Dinge die Frucht eines deutschen
Verzichts auf beherrschenden Einfluß im baltischen Lande ernten würden, sondern
durch Stärkung des chemischen und lettischen Separatismus sucht England sich dort
ein neues Belgien an der Ostsee zu schaffen, dessen ScheinselbstKndigkeit ihm die
Errichtung einer Basis für seinen Einfluß nach Nutzland und für einen fort¬
dauernden Druck auf Deutschland zum glücklichen Geschenk machen nützte. Die¬
jenigen Vertreter der östlichen Neuorientierung also, die in England den eigentlichen
und gefährlichsten Feind sehen, haben am allerwenigsten Anlaß, einer Regelung
der baltischen Frage das Wort zu reden, die zwar zugunsten Rußlands gedacht
sein mag, tatsächlich aber einzig zum Nutzen Englands und damit gleichermaßen
zum Schaden Deutschlands und Rußlands ausschlagen würde.

Daß wirtschaftliche Interessen Rußland den Besitz des Baltenlandes
wünschenswert erscheinen lassen, soll nicht bestritten werden, allein in dem Zu¬
stande der Gärung, in dem sich Rußland aller Voraussicht nach noch auf Jahre
hinaus befinden wird, spielen diese weltwirtschaftlichen Gesichtspunkte im Umkreise
seiner Interessen nicht die erste Rolle. Der Besitz Finnlands, der Ostseeprovinzen,
Litauens und Polens bedeutete aber andererseits für Rußland eine Belastung
mit kulturellen und nationalen Problemen, denen es sich nicht gewachsen gezeigt
hat. Das alte Rußland mit seiner unorganischen Zusammenballung von Völker¬
schaften des verschiedensten Kulturniveaus ist durch den Weltkrieg abgetan worden.
Nicht der historischen Reaktion zu dienen und das durch den Richtspruch einer
großen und entscheidungsschweren Zeit Zertrümmerte willkürlich und mühsam aus¬
zuflicken, kann nunmehr unsere Aufgabe sein, die Loslösung der von Rußland nie
als wahrhaft zugehörig empfundenen Randvölker ist vollzogene Tatsache. Sie ist
durch die Interessen deutscher Machterweiterung und durch ethnische und kulturelle
Entfremdung dieser Völkerschaften gegenüber Rußland gleichermaßen begründet
und könnte nur durch einen Akt doktrinärer Willkür rückgängig gemacht werden.


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[0225] Die „östliche Neuorientierung" An diesem Punkt trennt sich unsere Auffassung vor allem von der bis zur Ermüdung in der „Vossischen Zeitung" von Georg Bernhard vertretenen An¬ schauung, die wichtigste Forderung der östlichen Neuorientierung sei äußerste Milde in den Friedensbedingungen, d. h. gegenwärtig eine Revision des Brester Ver- trages und ein Verzicht auf die nordlivländische und estländische Küste. Daß die Dura oder gar die berüchtigte Demarkationslinie des Brester Vertrages eine völlig unmögliche Grenze abgebe, ist jedem Kenner der ethnischen Verhältnisse im Bal¬ tikum unmittelbar einleuchtend. Fast möchte man angesichts der sicheren Konse¬ quenzen einer solchen Regelung den Verzicht auf das gesamte Baltenland der Angliederung eines bloßen Teiles an Deutschland vorziehen. Ein solch unerhörtes Herunterschrauben des gewonnenen Einflusses im nahen Osten wäre aber ein so offenbarer Beweis politischer Schwäche und wäre mit einer derartigen Einbuße an Prestige bei Rußland und der ganzen Internationale verknüpft, daß daran wohl auch die extremen Verfechter eines haltlosen Versöhnungsprogrammes nicht im Ernst denken. Schon die Tatsache, daß wir das militärisch von den Russen feit langem aufgegebene Liv- und Estland, das uns kampflos in die Hände ge¬ fallen wäre, nicht viel früher besetzt haben, hat in Rußland nach übereinstimmendem Bericht aller Augenzeugen nur erstauntes Kopfschütieln erzeugt. DaS Hinaus¬ zögern einer endgültigen Regelung der baltischen Frage wirkt dort im Lande aufs äußerste verstimmend, schwächt das deutsche Prestige in allen Kreisen, weckt den nationalen Größenwahn der Unterschicht und deren Selbständigkeitsgelüste und bereitet englischen Hetzereien und Wühlereien den Boden. Wer. wie der Schreiber dieser Zeilen, die Verhältnisse des Landes vor und nach der Okkupation genau kennt und soeben Gelegenheit gehabt hat, mit deutschen, lettischen und chemischen Führern des Landes Fühlung zu nehmen, ist erstaunt über die Einstimmigkeit, mit der alle das Fortdauern des Provisoriums verurteilen und zugleich auf die englischen Machenschaften hindeuten, die in Estland begonnen und neuerdings auch auf das lettische Livland übergegriffen haben. Nicht die Russen sind es, deren Agitation dort die Angliederung des Landes an Deutschland untergräbt, nicht sie sind es, die bei der gegenwärtigen Lage det Dinge die Frucht eines deutschen Verzichts auf beherrschenden Einfluß im baltischen Lande ernten würden, sondern durch Stärkung des chemischen und lettischen Separatismus sucht England sich dort ein neues Belgien an der Ostsee zu schaffen, dessen ScheinselbstKndigkeit ihm die Errichtung einer Basis für seinen Einfluß nach Nutzland und für einen fort¬ dauernden Druck auf Deutschland zum glücklichen Geschenk machen nützte. Die¬ jenigen Vertreter der östlichen Neuorientierung also, die in England den eigentlichen und gefährlichsten Feind sehen, haben am allerwenigsten Anlaß, einer Regelung der baltischen Frage das Wort zu reden, die zwar zugunsten Rußlands gedacht sein mag, tatsächlich aber einzig zum Nutzen Englands und damit gleichermaßen zum Schaden Deutschlands und Rußlands ausschlagen würde. Daß wirtschaftliche Interessen Rußland den Besitz des Baltenlandes wünschenswert erscheinen lassen, soll nicht bestritten werden, allein in dem Zu¬ stande der Gärung, in dem sich Rußland aller Voraussicht nach noch auf Jahre hinaus befinden wird, spielen diese weltwirtschaftlichen Gesichtspunkte im Umkreise seiner Interessen nicht die erste Rolle. Der Besitz Finnlands, der Ostseeprovinzen, Litauens und Polens bedeutete aber andererseits für Rußland eine Belastung mit kulturellen und nationalen Problemen, denen es sich nicht gewachsen gezeigt hat. Das alte Rußland mit seiner unorganischen Zusammenballung von Völker¬ schaften des verschiedensten Kulturniveaus ist durch den Weltkrieg abgetan worden. Nicht der historischen Reaktion zu dienen und das durch den Richtspruch einer großen und entscheidungsschweren Zeit Zertrümmerte willkürlich und mühsam aus¬ zuflicken, kann nunmehr unsere Aufgabe sein, die Loslösung der von Rußland nie als wahrhaft zugehörig empfundenen Randvölker ist vollzogene Tatsache. Sie ist durch die Interessen deutscher Machterweiterung und durch ethnische und kulturelle Entfremdung dieser Völkerschaften gegenüber Rußland gleichermaßen begründet und könnte nur durch einen Akt doktrinärer Willkür rückgängig gemacht werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/225>, abgerufen am 22.07.2024.