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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Das angelsächsische Aulturgefühl

Der allgemein-angelsächsische Typus im Englündertum überwog während des
neunzehnten, Jahrhunderts bereits sehr stark den alteuropäischen, und spätestens
im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts trat die letzte Loslösung ein. In
dieser Hinsicht sind die Programmschriften für neubritischen Imperialismus von
Seeley und Dilke noch nicht in demselben Maße wie der Umstand entscheidend,
daß das Engländertum keinesfalls mehr imstande war, an den Seelenereignissen
teilzunehmen, die gerade im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts als ge¬
meinsame europäische Angelegenheiten auf dem Kontinent vor sich gingen. Es
halte weder Anteil an der geistigen "Revolution" in der modernen Dichtung
Europas, noch am Sozialismus, soweit dieser nicht nur wirtschaftliche "Arbeiter¬
bewegung" sein wollte, sondern Weltanschauungserlebnis und die Geburt einer
Klasse als neuer selbständiger Kraft in der Gesellschaftsentwicklung. Erst nach¬
träglich und ganz neuerdings gelangte dieser tiefere Sozialismus als vereinzelter
Einfuhrartikel nach den britischen Inseln.

Schon in früheren Jahrzehnten war es die Regel, daß man auf dem Bücher¬
brett eines englischen Hauses aus dem besseren Mittelstande neben der Bibel und
dem kastrierten Familien-Shakespeare fast nie ein Werk von Byron antraf, wohl
aber immer den süßlichen WordSworth. Vielleicht sind Lord Byron, Carlyle und
auch Nuskin die letzten richtigen europäischen Altengländer gewesen. Darum
Byrons Fremdheit und Haß gegen die eigene Nation, darum Carlyles dem Kon¬
tinent zugewendete Sehnsucht und Nuskins Verbitterung gegenüber der Kultur¬
modernität, die ihn umgab. Die Männer hingegen, die jetzt in England und im
britischen Reich eine führende oder symptomatische Stellung inne haben, verkörpern
durchaus das uneuropäische Gesamtangelsachsentum. Wie das Gesmntangelsachsentum
mehr zu einer allgemeinen Kultur- und Lebenstendenz geworden, als immer noch
im Blute bedingt ist, so erscheint es charakteristisch genug, daß eben diese Männer,
die Lloyd George, Lord Curzon und Carson, Lord Milner, i^aues, der lang¬
jährige australische Ministerpräsident Hughes und die neuen Lords Northcliffe und
Reading ihrer Herkunft oder persönlichen Entwicklung nach keine bodenständigen
Altenglandgestalten aus den alten Grafschaften, sondern "Briten" im Sinne des
Empire sind. In der europäischen Diktatur, die Lloyd George gern ausüben
möchte und zum Teil auch tatsächlich ausübt, drückt sich die ganze Gefahr des
Angelsachsentums aus.

Mit der Selbstbildung dieses Angelsachsentums hat sich die weiße Nasse ge¬
spalten. Sie hat sich gespalten in eine alteuropäische und eine uneuropäische
Menschheitsgruppe, und die Engländer leben in dieser und gehören jener nicht an.
Worauf es nun für uns zuletzt ankommen würde, das ist nicht allein eine Ab¬
stellung des englischen Einflusses auf unser europäisches Festland, sondern woraus
es eigentlich ankommt, ist dies: das kontinentale Europäerlum (ein anderes gibt
,es nicht) muß endlich zur Selbstbesinnung gelangen und, um zur Selbstbesinnung
kommen zu können, muß es dieser Spaltung der Weißen Rasse bewußt werden
und sie auch von sich aus mit Bewußtsein und Absicht vollziehen.




Das angelsächsische Aulturgefühl

Der allgemein-angelsächsische Typus im Englündertum überwog während des
neunzehnten, Jahrhunderts bereits sehr stark den alteuropäischen, und spätestens
im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts trat die letzte Loslösung ein. In
dieser Hinsicht sind die Programmschriften für neubritischen Imperialismus von
Seeley und Dilke noch nicht in demselben Maße wie der Umstand entscheidend,
daß das Engländertum keinesfalls mehr imstande war, an den Seelenereignissen
teilzunehmen, die gerade im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts als ge¬
meinsame europäische Angelegenheiten auf dem Kontinent vor sich gingen. Es
halte weder Anteil an der geistigen „Revolution" in der modernen Dichtung
Europas, noch am Sozialismus, soweit dieser nicht nur wirtschaftliche „Arbeiter¬
bewegung" sein wollte, sondern Weltanschauungserlebnis und die Geburt einer
Klasse als neuer selbständiger Kraft in der Gesellschaftsentwicklung. Erst nach¬
träglich und ganz neuerdings gelangte dieser tiefere Sozialismus als vereinzelter
Einfuhrartikel nach den britischen Inseln.

Schon in früheren Jahrzehnten war es die Regel, daß man auf dem Bücher¬
brett eines englischen Hauses aus dem besseren Mittelstande neben der Bibel und
dem kastrierten Familien-Shakespeare fast nie ein Werk von Byron antraf, wohl
aber immer den süßlichen WordSworth. Vielleicht sind Lord Byron, Carlyle und
auch Nuskin die letzten richtigen europäischen Altengländer gewesen. Darum
Byrons Fremdheit und Haß gegen die eigene Nation, darum Carlyles dem Kon¬
tinent zugewendete Sehnsucht und Nuskins Verbitterung gegenüber der Kultur¬
modernität, die ihn umgab. Die Männer hingegen, die jetzt in England und im
britischen Reich eine führende oder symptomatische Stellung inne haben, verkörpern
durchaus das uneuropäische Gesamtangelsachsentum. Wie das Gesmntangelsachsentum
mehr zu einer allgemeinen Kultur- und Lebenstendenz geworden, als immer noch
im Blute bedingt ist, so erscheint es charakteristisch genug, daß eben diese Männer,
die Lloyd George, Lord Curzon und Carson, Lord Milner, i^aues, der lang¬
jährige australische Ministerpräsident Hughes und die neuen Lords Northcliffe und
Reading ihrer Herkunft oder persönlichen Entwicklung nach keine bodenständigen
Altenglandgestalten aus den alten Grafschaften, sondern „Briten" im Sinne des
Empire sind. In der europäischen Diktatur, die Lloyd George gern ausüben
möchte und zum Teil auch tatsächlich ausübt, drückt sich die ganze Gefahr des
Angelsachsentums aus.

Mit der Selbstbildung dieses Angelsachsentums hat sich die weiße Nasse ge¬
spalten. Sie hat sich gespalten in eine alteuropäische und eine uneuropäische
Menschheitsgruppe, und die Engländer leben in dieser und gehören jener nicht an.
Worauf es nun für uns zuletzt ankommen würde, das ist nicht allein eine Ab¬
stellung des englischen Einflusses auf unser europäisches Festland, sondern woraus
es eigentlich ankommt, ist dies: das kontinentale Europäerlum (ein anderes gibt
,es nicht) muß endlich zur Selbstbesinnung gelangen und, um zur Selbstbesinnung
kommen zu können, muß es dieser Spaltung der Weißen Rasse bewußt werden
und sie auch von sich aus mit Bewußtsein und Absicht vollziehen.




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[0154] Das angelsächsische Aulturgefühl Der allgemein-angelsächsische Typus im Englündertum überwog während des neunzehnten, Jahrhunderts bereits sehr stark den alteuropäischen, und spätestens im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts trat die letzte Loslösung ein. In dieser Hinsicht sind die Programmschriften für neubritischen Imperialismus von Seeley und Dilke noch nicht in demselben Maße wie der Umstand entscheidend, daß das Engländertum keinesfalls mehr imstande war, an den Seelenereignissen teilzunehmen, die gerade im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts als ge¬ meinsame europäische Angelegenheiten auf dem Kontinent vor sich gingen. Es halte weder Anteil an der geistigen „Revolution" in der modernen Dichtung Europas, noch am Sozialismus, soweit dieser nicht nur wirtschaftliche „Arbeiter¬ bewegung" sein wollte, sondern Weltanschauungserlebnis und die Geburt einer Klasse als neuer selbständiger Kraft in der Gesellschaftsentwicklung. Erst nach¬ träglich und ganz neuerdings gelangte dieser tiefere Sozialismus als vereinzelter Einfuhrartikel nach den britischen Inseln. Schon in früheren Jahrzehnten war es die Regel, daß man auf dem Bücher¬ brett eines englischen Hauses aus dem besseren Mittelstande neben der Bibel und dem kastrierten Familien-Shakespeare fast nie ein Werk von Byron antraf, wohl aber immer den süßlichen WordSworth. Vielleicht sind Lord Byron, Carlyle und auch Nuskin die letzten richtigen europäischen Altengländer gewesen. Darum Byrons Fremdheit und Haß gegen die eigene Nation, darum Carlyles dem Kon¬ tinent zugewendete Sehnsucht und Nuskins Verbitterung gegenüber der Kultur¬ modernität, die ihn umgab. Die Männer hingegen, die jetzt in England und im britischen Reich eine führende oder symptomatische Stellung inne haben, verkörpern durchaus das uneuropäische Gesamtangelsachsentum. Wie das Gesmntangelsachsentum mehr zu einer allgemeinen Kultur- und Lebenstendenz geworden, als immer noch im Blute bedingt ist, so erscheint es charakteristisch genug, daß eben diese Männer, die Lloyd George, Lord Curzon und Carson, Lord Milner, i^aues, der lang¬ jährige australische Ministerpräsident Hughes und die neuen Lords Northcliffe und Reading ihrer Herkunft oder persönlichen Entwicklung nach keine bodenständigen Altenglandgestalten aus den alten Grafschaften, sondern „Briten" im Sinne des Empire sind. In der europäischen Diktatur, die Lloyd George gern ausüben möchte und zum Teil auch tatsächlich ausübt, drückt sich die ganze Gefahr des Angelsachsentums aus. Mit der Selbstbildung dieses Angelsachsentums hat sich die weiße Nasse ge¬ spalten. Sie hat sich gespalten in eine alteuropäische und eine uneuropäische Menschheitsgruppe, und die Engländer leben in dieser und gehören jener nicht an. Worauf es nun für uns zuletzt ankommen würde, das ist nicht allein eine Ab¬ stellung des englischen Einflusses auf unser europäisches Festland, sondern woraus es eigentlich ankommt, ist dies: das kontinentale Europäerlum (ein anderes gibt ,es nicht) muß endlich zur Selbstbesinnung gelangen und, um zur Selbstbesinnung kommen zu können, muß es dieser Spaltung der Weißen Rasse bewußt werden und sie auch von sich aus mit Bewußtsein und Absicht vollziehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/154>, abgerufen am 29.06.2024.