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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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pariser Welt und Halbwelt zur Zeit der Direktorialregierung

denen wir so manche interessante Notiz über die Direktorialzeit verdanken, auf
schwarzem Grunde die verpönte? weiße Lilie der Vourbonen, und wenn man sie
gegen die Sonne hielt, erschienen die Bilder Ludwigs des sechzehnten, der Königin
und des Dauphins. Nahmen aber die promenierenden, in die Trauertoile.ete der
Royalistinnen gekleideten jungen Frauen auf den Bänken des Gartens Platz und
ließen ihre Füße mit herausfordernder Grazie unter dem Saume der Kleider
heroorlugcn, begegnete das durch den lieblichen Anblick gefesselte Auge auch hier
dem mit Silberfüden in die Strümpfe eingestickten Lilienmuster.

Vor allen: aber wurde unter Führung der Frau Tallien und ihrer Freun¬
dinnen die Mode beherrscht durch eine Art Antihomcmie. Der ganze Olymp lebte
wieder aus mit aller seiner klassischen Nacktheit, die Arme entäußerten sich der
Kleidung mehr und mehr, und die unteren Extremitäten folgten ihrem Beispiel,
höchstens daß Sandalen tragende, mit Gemmen geschmückte Riemen sich um die
Knöchel schlangen. Das Griechentum mit seinem Kultus der schönen Form, wie
sie am vollendetsten sich in den Linien des menschlichen Körpers zu erkennen gibt,
hatte es diesen Republikanerinnen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts an¬
getan, und die Toiletten, die Begehrenswertes scharf markierter, übertrafen an
herausfordernder Kühnheit bald alles, was die Monarchie sich je geleistet hatte.
Viele Frauen machten den Eindruck, als seien sie eben der Badewanne entstiegen;
ja man kann sagen, manche war kaum mit etwas anderem bekleidet als mit ihrer
Schamhaftigkeit, und diese war oft fadenscheinig genug. Und wenn eine der
"Merveilleüsen" -- so lautete die Bezeichnung für diese Modenärrinnen -- wirk¬
lich noch einen Kleiderrock trug, war er so kurz, daß sie, einem Anbeter ein Stell¬
dichein bewilligend, zu seiner Information wohl hinzufügen konnte: "Sie können
mich leicht an meinen grünen Strumpfbändern erkennen". Kein Wunder, daß
ganze Scharen junger Mädchen und Frauen einer Koftümierung zum Opfer fielen, die
dem Klima der (milia braccata so wenig entsprach. Die Modetorheiten der Frauen¬
welt wurden aber -- so fabelhaft es klingt -- fast noch übertroffen durch die-
ienigen der jungen Männer-, den "Merveilleüsen" stehen die "Jncroyables" zur
Seite oder, wie sie selbst sich nannten, "Jncoyablcs" denn es galt für vor¬
nehm, den Buchstaben ,,r" nicht zu sprechen -- "unglaublich" moderne Leute, die
"Gigerl der Revolution". Der "Jncroyable" trug eine sein Gesicht fast zur Hälfte
bedeckende, unter Verwendung von vier Ellen Musselin gefertigte Kravatte. mög-
lichst von grüner Farbe. Die Jakobiner perhvrreszierten das Grün, weil Char¬
lotte Corday bei der Ermordung Marats einen Hut dieser Farbe getragen hatte;
so wurde es naturgemäß von allen bevorzugt, denen das Ereignis des 9 Ther-
midor als eine Rettung des Staates aus großer Gefahr erschien. Ein derber
Knotenstock und eine plumpe Lorgnette mit großen Gläsern vervollständigten die
Toilette der Jncroyables, die bald auch wieder den Mut fanden, weiße Wäsche
SU tragen, was zur Konventszeit als unerhörter Luxus gegolten hatte.

Die so wunderlich vermummte Jugend beiderlei Geschlechts fand sich aber
doch zurück zu den natürlichen Freuden ihrer Jahre; vor allem trat sie in eine
voll ausgenutzte Ära des Tanzes ein. In früheren Palästen und einstigen
Klöstern, die zu Vallsälen hergerichtet wurden, vermählte der Rhythmus die Paare;
Brust an Brust gedrückt, daß der Atem sich mischte, wirbelten sie dahin, fest in¬
einander geschlungen, Kreiseln gleich, die sich drehen, gewiegt vom Takte eines
deutsche!? Walzers, der eben seinen Siegeszug über den Rhein begonnen hatte.
Und neben dem Tanze liebten die Sechzehn- und Zwanzigjährigen vielleicht noch
wehr die Tänzer oder die Tänzerinnen. Daneben aber betrieben die jungen
Herren den Sport der Körperkultur; mancher Don Juan war im Nebenamte ein
Herkules. Diese Athleten bedurften jedoch zur Aufrechterhaltung ihrer körperlichen
Leistungsfähigkeit entsprechender Mengen von Speise und Trank; Schlemmereien
waren daher an der Tagesordnung, und es gab Leute, die, wie der spätere General
^unot es liebte, ihren Magen für die Aufnahme der Hauptmahlzeit durch den
Genuß von ein paar hundert Austern vorbereiteten. Und die Frau wetteiferte
um't den Männern um die Palme der Muskelpflege; der Schauplatz, auf dein sie


pariser Welt und Halbwelt zur Zeit der Direktorialregierung

denen wir so manche interessante Notiz über die Direktorialzeit verdanken, auf
schwarzem Grunde die verpönte? weiße Lilie der Vourbonen, und wenn man sie
gegen die Sonne hielt, erschienen die Bilder Ludwigs des sechzehnten, der Königin
und des Dauphins. Nahmen aber die promenierenden, in die Trauertoile.ete der
Royalistinnen gekleideten jungen Frauen auf den Bänken des Gartens Platz und
ließen ihre Füße mit herausfordernder Grazie unter dem Saume der Kleider
heroorlugcn, begegnete das durch den lieblichen Anblick gefesselte Auge auch hier
dem mit Silberfüden in die Strümpfe eingestickten Lilienmuster.

Vor allen: aber wurde unter Führung der Frau Tallien und ihrer Freun¬
dinnen die Mode beherrscht durch eine Art Antihomcmie. Der ganze Olymp lebte
wieder aus mit aller seiner klassischen Nacktheit, die Arme entäußerten sich der
Kleidung mehr und mehr, und die unteren Extremitäten folgten ihrem Beispiel,
höchstens daß Sandalen tragende, mit Gemmen geschmückte Riemen sich um die
Knöchel schlangen. Das Griechentum mit seinem Kultus der schönen Form, wie
sie am vollendetsten sich in den Linien des menschlichen Körpers zu erkennen gibt,
hatte es diesen Republikanerinnen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts an¬
getan, und die Toiletten, die Begehrenswertes scharf markierter, übertrafen an
herausfordernder Kühnheit bald alles, was die Monarchie sich je geleistet hatte.
Viele Frauen machten den Eindruck, als seien sie eben der Badewanne entstiegen;
ja man kann sagen, manche war kaum mit etwas anderem bekleidet als mit ihrer
Schamhaftigkeit, und diese war oft fadenscheinig genug. Und wenn eine der
„Merveilleüsen" — so lautete die Bezeichnung für diese Modenärrinnen — wirk¬
lich noch einen Kleiderrock trug, war er so kurz, daß sie, einem Anbeter ein Stell¬
dichein bewilligend, zu seiner Information wohl hinzufügen konnte: »Sie können
mich leicht an meinen grünen Strumpfbändern erkennen". Kein Wunder, daß
ganze Scharen junger Mädchen und Frauen einer Koftümierung zum Opfer fielen, die
dem Klima der (milia braccata so wenig entsprach. Die Modetorheiten der Frauen¬
welt wurden aber — so fabelhaft es klingt — fast noch übertroffen durch die-
ienigen der jungen Männer-, den „Merveilleüsen" stehen die „Jncroyables" zur
Seite oder, wie sie selbst sich nannten, „Jncoyablcs" denn es galt für vor¬
nehm, den Buchstaben ,,r" nicht zu sprechen — „unglaublich" moderne Leute, die
„Gigerl der Revolution". Der „Jncroyable" trug eine sein Gesicht fast zur Hälfte
bedeckende, unter Verwendung von vier Ellen Musselin gefertigte Kravatte. mög-
lichst von grüner Farbe. Die Jakobiner perhvrreszierten das Grün, weil Char¬
lotte Corday bei der Ermordung Marats einen Hut dieser Farbe getragen hatte;
so wurde es naturgemäß von allen bevorzugt, denen das Ereignis des 9 Ther-
midor als eine Rettung des Staates aus großer Gefahr erschien. Ein derber
Knotenstock und eine plumpe Lorgnette mit großen Gläsern vervollständigten die
Toilette der Jncroyables, die bald auch wieder den Mut fanden, weiße Wäsche
SU tragen, was zur Konventszeit als unerhörter Luxus gegolten hatte.

Die so wunderlich vermummte Jugend beiderlei Geschlechts fand sich aber
doch zurück zu den natürlichen Freuden ihrer Jahre; vor allem trat sie in eine
voll ausgenutzte Ära des Tanzes ein. In früheren Palästen und einstigen
Klöstern, die zu Vallsälen hergerichtet wurden, vermählte der Rhythmus die Paare;
Brust an Brust gedrückt, daß der Atem sich mischte, wirbelten sie dahin, fest in¬
einander geschlungen, Kreiseln gleich, die sich drehen, gewiegt vom Takte eines
deutsche!? Walzers, der eben seinen Siegeszug über den Rhein begonnen hatte.
Und neben dem Tanze liebten die Sechzehn- und Zwanzigjährigen vielleicht noch
wehr die Tänzer oder die Tänzerinnen. Daneben aber betrieben die jungen
Herren den Sport der Körperkultur; mancher Don Juan war im Nebenamte ein
Herkules. Diese Athleten bedurften jedoch zur Aufrechterhaltung ihrer körperlichen
Leistungsfähigkeit entsprechender Mengen von Speise und Trank; Schlemmereien
waren daher an der Tagesordnung, und es gab Leute, die, wie der spätere General
^unot es liebte, ihren Magen für die Aufnahme der Hauptmahlzeit durch den
Genuß von ein paar hundert Austern vorbereiteten. Und die Frau wetteiferte
um't den Männern um die Palme der Muskelpflege; der Schauplatz, auf dein sie


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[0217] pariser Welt und Halbwelt zur Zeit der Direktorialregierung denen wir so manche interessante Notiz über die Direktorialzeit verdanken, auf schwarzem Grunde die verpönte? weiße Lilie der Vourbonen, und wenn man sie gegen die Sonne hielt, erschienen die Bilder Ludwigs des sechzehnten, der Königin und des Dauphins. Nahmen aber die promenierenden, in die Trauertoile.ete der Royalistinnen gekleideten jungen Frauen auf den Bänken des Gartens Platz und ließen ihre Füße mit herausfordernder Grazie unter dem Saume der Kleider heroorlugcn, begegnete das durch den lieblichen Anblick gefesselte Auge auch hier dem mit Silberfüden in die Strümpfe eingestickten Lilienmuster. Vor allen: aber wurde unter Führung der Frau Tallien und ihrer Freun¬ dinnen die Mode beherrscht durch eine Art Antihomcmie. Der ganze Olymp lebte wieder aus mit aller seiner klassischen Nacktheit, die Arme entäußerten sich der Kleidung mehr und mehr, und die unteren Extremitäten folgten ihrem Beispiel, höchstens daß Sandalen tragende, mit Gemmen geschmückte Riemen sich um die Knöchel schlangen. Das Griechentum mit seinem Kultus der schönen Form, wie sie am vollendetsten sich in den Linien des menschlichen Körpers zu erkennen gibt, hatte es diesen Republikanerinnen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts an¬ getan, und die Toiletten, die Begehrenswertes scharf markierter, übertrafen an herausfordernder Kühnheit bald alles, was die Monarchie sich je geleistet hatte. Viele Frauen machten den Eindruck, als seien sie eben der Badewanne entstiegen; ja man kann sagen, manche war kaum mit etwas anderem bekleidet als mit ihrer Schamhaftigkeit, und diese war oft fadenscheinig genug. Und wenn eine der „Merveilleüsen" — so lautete die Bezeichnung für diese Modenärrinnen — wirk¬ lich noch einen Kleiderrock trug, war er so kurz, daß sie, einem Anbeter ein Stell¬ dichein bewilligend, zu seiner Information wohl hinzufügen konnte: »Sie können mich leicht an meinen grünen Strumpfbändern erkennen". Kein Wunder, daß ganze Scharen junger Mädchen und Frauen einer Koftümierung zum Opfer fielen, die dem Klima der (milia braccata so wenig entsprach. Die Modetorheiten der Frauen¬ welt wurden aber — so fabelhaft es klingt — fast noch übertroffen durch die- ienigen der jungen Männer-, den „Merveilleüsen" stehen die „Jncroyables" zur Seite oder, wie sie selbst sich nannten, „Jncoyablcs" denn es galt für vor¬ nehm, den Buchstaben ,,r" nicht zu sprechen — „unglaublich" moderne Leute, die „Gigerl der Revolution". Der „Jncroyable" trug eine sein Gesicht fast zur Hälfte bedeckende, unter Verwendung von vier Ellen Musselin gefertigte Kravatte. mög- lichst von grüner Farbe. Die Jakobiner perhvrreszierten das Grün, weil Char¬ lotte Corday bei der Ermordung Marats einen Hut dieser Farbe getragen hatte; so wurde es naturgemäß von allen bevorzugt, denen das Ereignis des 9 Ther- midor als eine Rettung des Staates aus großer Gefahr erschien. Ein derber Knotenstock und eine plumpe Lorgnette mit großen Gläsern vervollständigten die Toilette der Jncroyables, die bald auch wieder den Mut fanden, weiße Wäsche SU tragen, was zur Konventszeit als unerhörter Luxus gegolten hatte. Die so wunderlich vermummte Jugend beiderlei Geschlechts fand sich aber doch zurück zu den natürlichen Freuden ihrer Jahre; vor allem trat sie in eine voll ausgenutzte Ära des Tanzes ein. In früheren Palästen und einstigen Klöstern, die zu Vallsälen hergerichtet wurden, vermählte der Rhythmus die Paare; Brust an Brust gedrückt, daß der Atem sich mischte, wirbelten sie dahin, fest in¬ einander geschlungen, Kreiseln gleich, die sich drehen, gewiegt vom Takte eines deutsche!? Walzers, der eben seinen Siegeszug über den Rhein begonnen hatte. Und neben dem Tanze liebten die Sechzehn- und Zwanzigjährigen vielleicht noch wehr die Tänzer oder die Tänzerinnen. Daneben aber betrieben die jungen Herren den Sport der Körperkultur; mancher Don Juan war im Nebenamte ein Herkules. Diese Athleten bedurften jedoch zur Aufrechterhaltung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit entsprechender Mengen von Speise und Trank; Schlemmereien waren daher an der Tagesordnung, und es gab Leute, die, wie der spätere General ^unot es liebte, ihren Magen für die Aufnahme der Hauptmahlzeit durch den Genuß von ein paar hundert Austern vorbereiteten. Und die Frau wetteiferte um't den Männern um die Palme der Muskelpflege; der Schauplatz, auf dein sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/217>, abgerufen am 02.10.2024.