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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Z" den bevölkerungspolitischen Geseh¬

entwürfe".

Die Bevölkerung Deutschlands,
zur Zeit der Reichsgründung etwa 41 Mil¬
lionen betragend, hatte sich bis 1914 auf
68 Millionen vermehrt. Die gewaltige Ent¬
wicklung der deutschen Industrie bot dieser
Menschenmasse voll genügende Existenzbedin¬
gungen; die einst erhebliche Abwanderung
war nur noch geringfügig, nach 1900 zeigte
sich vorübergehend sogar ein Wanderungs-
gewimi. Eine allmähliche Verlangsamung des
Wachstums hätte, solange nicht neue Ge¬
biete gewonnen wurden, um einen Überschuß
der Bevölkerung abzuleiten, an sich nichts
Auffallendes gehabt. Die Prüfung der Be¬
völkerungsbewegung ergibt aber, daß die Ge¬
burtenziffer von 1876 bis 1880 ein',stark ab¬
genommen hat; freilich verblieb eS infolge
noch stärkeren Sinkens der Sterbeziffer bei
andauernder Bevölkerungszunahme, doch ging
der Geburtenüberschuß schließlich nicht uner¬
heblich zurück. Auch kann nur eine sehr ober¬
flächliche Betrachtung sich mit einem so ver¬
mittelten Mehr begnügen. Die Verhältnisse
müssen unter den Gesichtspunkten der Volks¬
gesundheit und Volksmoral, den'Saktoren der
Volkskraft, nicht lediglich populationisiisch ge¬
würdigt werden. Die Abnahme der Ge¬
burten führt ganz zweifellos auf den Hang
zum Wohlleben und eine Abschwächung der
ethischen Vestimmungsgründe zUnd des so¬
zialen Verantwortlichkeitsgefühls in breiten
Schichten der Bevölkerung zurück. Nicht wirt¬
schaftliche Rücksichten, mögen sie auch in man¬
chen Kreisen -- bei knappen Einkommen und
starker Belastung durch Abgaben und durch
Aufwendungen unter dem Zwang gesellschaft¬
licher Sitten -- mit in Betracht kommen, sind
das maßgebende Moment. Wie erklärte sich
sonst die hohe Ziffer der Geburten in den
Zeiten, wo unser Volksvermögen noch be¬
scheiden, unsere wirtschaftliche Entwicklung
noch in den Anfängen war, und die stetige
Abnahme bei steigendem Wohlstand? Über
erschreckendes Anwachsen der Abtreibungen
und Empfängnisverhütungen sind die Sach¬
kenner einig. Die Statistik, so wenig sie auf
dieseni Gebiete zu leisten vermag, ergibt im¬

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merhin, daß die Verurteilungen wegen Ab¬
treibung -- und nur ein kleiner Teil der
Fülle gelangt zu amtlicher Kenntnis -- ge¬
waltig gestiegen sind. Erfahrene Gynäkologen
nehmen an, daß an 8V Prozent der Fehl¬
geburten auf kriminelle Eingriffe zurückzu¬
führen sind, und die Überschwemmung von
Stadt und Land mit Anpreisungen "hygie¬
nischer Bedarfsartikel", d. h. von Mitteln zur
Empfängnisverhütung und zur Abtreibung,
redet ihre deutliche Sprache. Sogar eine
förmliche Propaganda zur Freigabe der Ab¬
treibung ist uns nicht erspart geblieben.

Schon vor dem Kriege sind Bestrebungen
zur Besserung dieser Zustände vielfach her¬
vorgetreten. Aber gar manchen hat erst der
gewaltige Menschenverlust, den uns das lange
schwere Ringen auferlegt, der traurige Ausfall
von Hunderttausenden blühender Jünglinge,
kräftigster Männer, die Augen geöffnet. Was
würde aus unserem Volke werden trotz aller
seiner glänzenden Siege, wenn neben der tief¬
schmerzlichen Verminderung der heiratsfähigen,
zeugungskräftigen Männer, dem starken Über¬
schuß von Mädchen, die zur Eheschließung
nicht gelangen können, der großen Zahl jün¬
gerer Witwen usw. die alten nuet weiter
wirken würden? So ist's denn nur zu er¬
klärlich, daß immer lauter der Ruf nach
Reform erschallt.

Von vornherein ist vor einer Überschätzung
der Leistungsfähigkeit des Gesetzgebers zu
warnen. Der Sittenverfall zur Zeit der
sinkenden römischen Republik ist durch die
Bemühungen der Gesetzgebung nicht aufge¬
halten worden. Das Beste muß und wird
von innen heraus, durch ein Selbstbesinnen
unseres Volkes, die Rückkehr zu größerer
Sittenstrenge, die Kräftigung des sozialen
Bewußtseins, kommen. Die einfachere Lebens¬
haltung, zu der die schwere Belastung unserer
Finanzen durch den Krieg gebieterisch nötigt,
wird für viele ein Segen sein; die große
Lehre dieser Zeit, daß jeder einzelne in die
Wohlfahrt des Ganzen verflochten, zur opfer¬
willigen Hingabe an die Gemeinschaft berufen
ist, muß sich auf allen Gebieten des Lebens
zu fruchtbringender Wirkung durchsetzen.

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Z» den bevölkerungspolitischen Geseh¬

entwürfe».

Die Bevölkerung Deutschlands,
zur Zeit der Reichsgründung etwa 41 Mil¬
lionen betragend, hatte sich bis 1914 auf
68 Millionen vermehrt. Die gewaltige Ent¬
wicklung der deutschen Industrie bot dieser
Menschenmasse voll genügende Existenzbedin¬
gungen; die einst erhebliche Abwanderung
war nur noch geringfügig, nach 1900 zeigte
sich vorübergehend sogar ein Wanderungs-
gewimi. Eine allmähliche Verlangsamung des
Wachstums hätte, solange nicht neue Ge¬
biete gewonnen wurden, um einen Überschuß
der Bevölkerung abzuleiten, an sich nichts
Auffallendes gehabt. Die Prüfung der Be¬
völkerungsbewegung ergibt aber, daß die Ge¬
burtenziffer von 1876 bis 1880 ein',stark ab¬
genommen hat; freilich verblieb eS infolge
noch stärkeren Sinkens der Sterbeziffer bei
andauernder Bevölkerungszunahme, doch ging
der Geburtenüberschuß schließlich nicht uner¬
heblich zurück. Auch kann nur eine sehr ober¬
flächliche Betrachtung sich mit einem so ver¬
mittelten Mehr begnügen. Die Verhältnisse
müssen unter den Gesichtspunkten der Volks¬
gesundheit und Volksmoral, den'Saktoren der
Volkskraft, nicht lediglich populationisiisch ge¬
würdigt werden. Die Abnahme der Ge¬
burten führt ganz zweifellos auf den Hang
zum Wohlleben und eine Abschwächung der
ethischen Vestimmungsgründe zUnd des so¬
zialen Verantwortlichkeitsgefühls in breiten
Schichten der Bevölkerung zurück. Nicht wirt¬
schaftliche Rücksichten, mögen sie auch in man¬
chen Kreisen — bei knappen Einkommen und
starker Belastung durch Abgaben und durch
Aufwendungen unter dem Zwang gesellschaft¬
licher Sitten — mit in Betracht kommen, sind
das maßgebende Moment. Wie erklärte sich
sonst die hohe Ziffer der Geburten in den
Zeiten, wo unser Volksvermögen noch be¬
scheiden, unsere wirtschaftliche Entwicklung
noch in den Anfängen war, und die stetige
Abnahme bei steigendem Wohlstand? Über
erschreckendes Anwachsen der Abtreibungen
und Empfängnisverhütungen sind die Sach¬
kenner einig. Die Statistik, so wenig sie auf
dieseni Gebiete zu leisten vermag, ergibt im¬

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merhin, daß die Verurteilungen wegen Ab¬
treibung — und nur ein kleiner Teil der
Fülle gelangt zu amtlicher Kenntnis — ge¬
waltig gestiegen sind. Erfahrene Gynäkologen
nehmen an, daß an 8V Prozent der Fehl¬
geburten auf kriminelle Eingriffe zurückzu¬
führen sind, und die Überschwemmung von
Stadt und Land mit Anpreisungen „hygie¬
nischer Bedarfsartikel", d. h. von Mitteln zur
Empfängnisverhütung und zur Abtreibung,
redet ihre deutliche Sprache. Sogar eine
förmliche Propaganda zur Freigabe der Ab¬
treibung ist uns nicht erspart geblieben.

Schon vor dem Kriege sind Bestrebungen
zur Besserung dieser Zustände vielfach her¬
vorgetreten. Aber gar manchen hat erst der
gewaltige Menschenverlust, den uns das lange
schwere Ringen auferlegt, der traurige Ausfall
von Hunderttausenden blühender Jünglinge,
kräftigster Männer, die Augen geöffnet. Was
würde aus unserem Volke werden trotz aller
seiner glänzenden Siege, wenn neben der tief¬
schmerzlichen Verminderung der heiratsfähigen,
zeugungskräftigen Männer, dem starken Über¬
schuß von Mädchen, die zur Eheschließung
nicht gelangen können, der großen Zahl jün¬
gerer Witwen usw. die alten nuet weiter
wirken würden? So ist's denn nur zu er¬
klärlich, daß immer lauter der Ruf nach
Reform erschallt.

Von vornherein ist vor einer Überschätzung
der Leistungsfähigkeit des Gesetzgebers zu
warnen. Der Sittenverfall zur Zeit der
sinkenden römischen Republik ist durch die
Bemühungen der Gesetzgebung nicht aufge¬
halten worden. Das Beste muß und wird
von innen heraus, durch ein Selbstbesinnen
unseres Volkes, die Rückkehr zu größerer
Sittenstrenge, die Kräftigung des sozialen
Bewußtseins, kommen. Die einfachere Lebens¬
haltung, zu der die schwere Belastung unserer
Finanzen durch den Krieg gebieterisch nötigt,
wird für viele ein Segen sein; die große
Lehre dieser Zeit, daß jeder einzelne in die
Wohlfahrt des Ganzen verflochten, zur opfer¬
willigen Hingabe an die Gemeinschaft berufen
ist, muß sich auf allen Gebieten des Lebens
zu fruchtbringender Wirkung durchsetzen.

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[0200] Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Z» den bevölkerungspolitischen Geseh¬ entwürfe». Die Bevölkerung Deutschlands, zur Zeit der Reichsgründung etwa 41 Mil¬ lionen betragend, hatte sich bis 1914 auf 68 Millionen vermehrt. Die gewaltige Ent¬ wicklung der deutschen Industrie bot dieser Menschenmasse voll genügende Existenzbedin¬ gungen; die einst erhebliche Abwanderung war nur noch geringfügig, nach 1900 zeigte sich vorübergehend sogar ein Wanderungs- gewimi. Eine allmähliche Verlangsamung des Wachstums hätte, solange nicht neue Ge¬ biete gewonnen wurden, um einen Überschuß der Bevölkerung abzuleiten, an sich nichts Auffallendes gehabt. Die Prüfung der Be¬ völkerungsbewegung ergibt aber, daß die Ge¬ burtenziffer von 1876 bis 1880 ein',stark ab¬ genommen hat; freilich verblieb eS infolge noch stärkeren Sinkens der Sterbeziffer bei andauernder Bevölkerungszunahme, doch ging der Geburtenüberschuß schließlich nicht uner¬ heblich zurück. Auch kann nur eine sehr ober¬ flächliche Betrachtung sich mit einem so ver¬ mittelten Mehr begnügen. Die Verhältnisse müssen unter den Gesichtspunkten der Volks¬ gesundheit und Volksmoral, den'Saktoren der Volkskraft, nicht lediglich populationisiisch ge¬ würdigt werden. Die Abnahme der Ge¬ burten führt ganz zweifellos auf den Hang zum Wohlleben und eine Abschwächung der ethischen Vestimmungsgründe zUnd des so¬ zialen Verantwortlichkeitsgefühls in breiten Schichten der Bevölkerung zurück. Nicht wirt¬ schaftliche Rücksichten, mögen sie auch in man¬ chen Kreisen — bei knappen Einkommen und starker Belastung durch Abgaben und durch Aufwendungen unter dem Zwang gesellschaft¬ licher Sitten — mit in Betracht kommen, sind das maßgebende Moment. Wie erklärte sich sonst die hohe Ziffer der Geburten in den Zeiten, wo unser Volksvermögen noch be¬ scheiden, unsere wirtschaftliche Entwicklung noch in den Anfängen war, und die stetige Abnahme bei steigendem Wohlstand? Über erschreckendes Anwachsen der Abtreibungen und Empfängnisverhütungen sind die Sach¬ kenner einig. Die Statistik, so wenig sie auf dieseni Gebiete zu leisten vermag, ergibt im¬ merhin, daß die Verurteilungen wegen Ab¬ treibung — und nur ein kleiner Teil der Fülle gelangt zu amtlicher Kenntnis — ge¬ waltig gestiegen sind. Erfahrene Gynäkologen nehmen an, daß an 8V Prozent der Fehl¬ geburten auf kriminelle Eingriffe zurückzu¬ führen sind, und die Überschwemmung von Stadt und Land mit Anpreisungen „hygie¬ nischer Bedarfsartikel", d. h. von Mitteln zur Empfängnisverhütung und zur Abtreibung, redet ihre deutliche Sprache. Sogar eine förmliche Propaganda zur Freigabe der Ab¬ treibung ist uns nicht erspart geblieben. Schon vor dem Kriege sind Bestrebungen zur Besserung dieser Zustände vielfach her¬ vorgetreten. Aber gar manchen hat erst der gewaltige Menschenverlust, den uns das lange schwere Ringen auferlegt, der traurige Ausfall von Hunderttausenden blühender Jünglinge, kräftigster Männer, die Augen geöffnet. Was würde aus unserem Volke werden trotz aller seiner glänzenden Siege, wenn neben der tief¬ schmerzlichen Verminderung der heiratsfähigen, zeugungskräftigen Männer, dem starken Über¬ schuß von Mädchen, die zur Eheschließung nicht gelangen können, der großen Zahl jün¬ gerer Witwen usw. die alten nuet weiter wirken würden? So ist's denn nur zu er¬ klärlich, daß immer lauter der Ruf nach Reform erschallt. Von vornherein ist vor einer Überschätzung der Leistungsfähigkeit des Gesetzgebers zu warnen. Der Sittenverfall zur Zeit der sinkenden römischen Republik ist durch die Bemühungen der Gesetzgebung nicht aufge¬ halten worden. Das Beste muß und wird von innen heraus, durch ein Selbstbesinnen unseres Volkes, die Rückkehr zu größerer Sittenstrenge, die Kräftigung des sozialen Bewußtseins, kommen. Die einfachere Lebens¬ haltung, zu der die schwere Belastung unserer Finanzen durch den Krieg gebieterisch nötigt, wird für viele ein Segen sein; die große Lehre dieser Zeit, daß jeder einzelne in die Wohlfahrt des Ganzen verflochten, zur opfer¬ willigen Hingabe an die Gemeinschaft berufen ist, muß sich auf allen Gebieten des Lebens zu fruchtbringender Wirkung durchsetzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/200>, abgerufen am 20.10.2024.