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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Der Traum vom Lwigen Frieden

Aber er kam wieder. In den vierziger Jahren trat der amerikanische
Quäker Elihu Burritt aus religiösen Gründen dafür ein, und seit den Revolutions¬
jahren 1848/49 folgten dann allerlei internationale Friedenskongresse und inter¬
parlamentarische Friedenskonferenzen rasch aufeinander. 1889 erschien der Roman
von Berta von Suttner "Die Waffen nieder", und unter diesem Ruf erstarkte die
Friedensbewegung, die Friedensgesellschaften gewannen zahlreiche Mitglieder, jetzt
vor allem aus den Reihen der demokratischen Parteien, und der deutsche Zweig
derselben in Alfred Fried einen geschäftigen Führer und unermüdlichen Agitator.
Das Merkwürdigste aber war, daß im August 1898 der russische Zar Nikolaus
der Zweite, derselbe, der uns sechzehn Jahre später zum Krieg herausgefordert
und gezwungen hat, an sämtliche Mächte eine Einladung zu einem Kongreß er¬
ließ, der "die Bestrebungen aller Staaten vereinigen sollte, die aufrichtig darum
bemüht sind, den großen Gedanken des Weltsriedens triumphieren zu lassen über
alle Elemente des Unfriedens und der Zwietracht". Begründet aber wurde dieser
Vorschlag mit einem Schwarz in Schwarz gemalten Bilde,von der erdrückenden
Last der Kriegsrüstungen und den Gefahren, die diese Kriegsstoffansammlung her¬
aufbeschwöre; an die Stelle von Kriegen sollte das Haager Schiedsgericht treten.
So hatte die Friedensbewegung hinfort ihre zwei praktischen Ziele: Abrüstung und
Schiedsgericht. Der geistige Vater dieses zaristischen Manifestes war wohl Tolstoi,
der wie Elihu Burritt den Krieg vom christlichen Standpunkte aus verwarf; be¬
zeichnend aber war, daß der Zar mit demselben einen Monat nach Bismarcks
Tode hervortrat -- fast als hätte er sich gescheut, bei Lebzeiten dieses großen
Realisten mit seinem himmelblauen Idealismus zu kommen; oder als hätte er
oder seine Hintermänner damit gewartet bis zu seinem Tode, damit der große
Staatsmann nicht durchschaue, was hinter diesem Friedensschleier von Rußland
in Ostasien geplant wurde, und er nicht sein deutsches Volk mehr davor warnen
könne, auf solche Pseudofriedensliebe hereinzufallen.

Aber in all der Zeit hatte man sich doch eines nicht genügend klar gemacht:
was eigentlich der Ewige Friede mit seinen zwei Gedanken der Abrüstung und
des Schiedsgerichts sei? Der Weltwirklichkeit gegenüber jedenfalls eine Utopie,
d. h. etwas, waS in der Welt nirgendwo anzutreffen ist und sein wird, dem
realen Leben und den in der Menschenwelt herrschenden Leidenschaften gegenüber,
die immer stärker sind, als Vernunft und Ratio, ein Traum. Der Weltwirklich¬
keit gegenüber: kaum hatten ja die Friedenskongresse im Haag ihre Arbeit be¬
gonnen, so kam der Burenkrieg, es kamen die Kämpfe der europäischen Mächte
gegen China, es kam der russisch-japanische Krieg, dann die Kämpfe auf dem
Balkan, die Einkreisungspolitik König Eduards des Siebenten gegen Deutschland
und 1914 endlich der größte und schwerste von allen, der Weltkrieg, in dem wir
stehen. Und die Verhandlungen zwischen Deutschland und England vor dem .Krieg
über Beschränkung der Flottenrüstungen haben gezeigt, wie schwierig das in Praxis
herzustellen ist, was sich auf dem Papier oder im Mund so leicht in das eine
Wort "Abrüstung" zusammenfaßt. Daß gleich nach dem .Krieg bei der allgemeinen
Erschöpfung der Völker darum doch vielleicht internationale Abrüstungsverträge
abgeschlossen werden, ist möglich: aber auf wie lange? Bis die Völker wieder
erstarkt sind und die Generation, die unter dem Krieg gelebt und gelitten hat,
ausgestorben ist, sicher nicht länger, vielleicht je nach dem Ausgang des Krieges
viel kürzer. Und gegen Schiedsgerichte -- ? Da hat schon der Mann des klaren
gesunden Menschenverstandes, hat Lessing das durchschlagende Argument ins Feld
geführt: der Haupteinfall jenes Herrn von Palthen, des Mannes eines immer¬
währenden Friedens, sei der: "ein allgemeines Parlament oder Tribunal zu er¬
richten, dessen Ausspruch sich alle europäischen Staaten gefallen lassen müssen.
Wenn sich aber nun unter den europäischen Mächten Halsstarrige fänden, die dem
Urteile des Tribunals Genüge zu leisten sich weigerten? wie da? O, der Herr
von Palthen hat vollstreckende Völker, er hat militärische Exekution. Hat er die?
Nun wohl, so hat er Krieg I" Den ewigen Frieden aber allemal wieder durch
Krieg herbeiführen, erzwingen zu müssen, das wäre doch der vollendete, ein gerade-


Der Traum vom Lwigen Frieden

Aber er kam wieder. In den vierziger Jahren trat der amerikanische
Quäker Elihu Burritt aus religiösen Gründen dafür ein, und seit den Revolutions¬
jahren 1848/49 folgten dann allerlei internationale Friedenskongresse und inter¬
parlamentarische Friedenskonferenzen rasch aufeinander. 1889 erschien der Roman
von Berta von Suttner „Die Waffen nieder", und unter diesem Ruf erstarkte die
Friedensbewegung, die Friedensgesellschaften gewannen zahlreiche Mitglieder, jetzt
vor allem aus den Reihen der demokratischen Parteien, und der deutsche Zweig
derselben in Alfred Fried einen geschäftigen Führer und unermüdlichen Agitator.
Das Merkwürdigste aber war, daß im August 1898 der russische Zar Nikolaus
der Zweite, derselbe, der uns sechzehn Jahre später zum Krieg herausgefordert
und gezwungen hat, an sämtliche Mächte eine Einladung zu einem Kongreß er¬
ließ, der „die Bestrebungen aller Staaten vereinigen sollte, die aufrichtig darum
bemüht sind, den großen Gedanken des Weltsriedens triumphieren zu lassen über
alle Elemente des Unfriedens und der Zwietracht". Begründet aber wurde dieser
Vorschlag mit einem Schwarz in Schwarz gemalten Bilde,von der erdrückenden
Last der Kriegsrüstungen und den Gefahren, die diese Kriegsstoffansammlung her¬
aufbeschwöre; an die Stelle von Kriegen sollte das Haager Schiedsgericht treten.
So hatte die Friedensbewegung hinfort ihre zwei praktischen Ziele: Abrüstung und
Schiedsgericht. Der geistige Vater dieses zaristischen Manifestes war wohl Tolstoi,
der wie Elihu Burritt den Krieg vom christlichen Standpunkte aus verwarf; be¬
zeichnend aber war, daß der Zar mit demselben einen Monat nach Bismarcks
Tode hervortrat — fast als hätte er sich gescheut, bei Lebzeiten dieses großen
Realisten mit seinem himmelblauen Idealismus zu kommen; oder als hätte er
oder seine Hintermänner damit gewartet bis zu seinem Tode, damit der große
Staatsmann nicht durchschaue, was hinter diesem Friedensschleier von Rußland
in Ostasien geplant wurde, und er nicht sein deutsches Volk mehr davor warnen
könne, auf solche Pseudofriedensliebe hereinzufallen.

Aber in all der Zeit hatte man sich doch eines nicht genügend klar gemacht:
was eigentlich der Ewige Friede mit seinen zwei Gedanken der Abrüstung und
des Schiedsgerichts sei? Der Weltwirklichkeit gegenüber jedenfalls eine Utopie,
d. h. etwas, waS in der Welt nirgendwo anzutreffen ist und sein wird, dem
realen Leben und den in der Menschenwelt herrschenden Leidenschaften gegenüber,
die immer stärker sind, als Vernunft und Ratio, ein Traum. Der Weltwirklich¬
keit gegenüber: kaum hatten ja die Friedenskongresse im Haag ihre Arbeit be¬
gonnen, so kam der Burenkrieg, es kamen die Kämpfe der europäischen Mächte
gegen China, es kam der russisch-japanische Krieg, dann die Kämpfe auf dem
Balkan, die Einkreisungspolitik König Eduards des Siebenten gegen Deutschland
und 1914 endlich der größte und schwerste von allen, der Weltkrieg, in dem wir
stehen. Und die Verhandlungen zwischen Deutschland und England vor dem .Krieg
über Beschränkung der Flottenrüstungen haben gezeigt, wie schwierig das in Praxis
herzustellen ist, was sich auf dem Papier oder im Mund so leicht in das eine
Wort „Abrüstung" zusammenfaßt. Daß gleich nach dem .Krieg bei der allgemeinen
Erschöpfung der Völker darum doch vielleicht internationale Abrüstungsverträge
abgeschlossen werden, ist möglich: aber auf wie lange? Bis die Völker wieder
erstarkt sind und die Generation, die unter dem Krieg gelebt und gelitten hat,
ausgestorben ist, sicher nicht länger, vielleicht je nach dem Ausgang des Krieges
viel kürzer. Und gegen Schiedsgerichte — ? Da hat schon der Mann des klaren
gesunden Menschenverstandes, hat Lessing das durchschlagende Argument ins Feld
geführt: der Haupteinfall jenes Herrn von Palthen, des Mannes eines immer¬
währenden Friedens, sei der: „ein allgemeines Parlament oder Tribunal zu er¬
richten, dessen Ausspruch sich alle europäischen Staaten gefallen lassen müssen.
Wenn sich aber nun unter den europäischen Mächten Halsstarrige fänden, die dem
Urteile des Tribunals Genüge zu leisten sich weigerten? wie da? O, der Herr
von Palthen hat vollstreckende Völker, er hat militärische Exekution. Hat er die?
Nun wohl, so hat er Krieg I" Den ewigen Frieden aber allemal wieder durch
Krieg herbeiführen, erzwingen zu müssen, das wäre doch der vollendete, ein gerade-


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[0106] Der Traum vom Lwigen Frieden Aber er kam wieder. In den vierziger Jahren trat der amerikanische Quäker Elihu Burritt aus religiösen Gründen dafür ein, und seit den Revolutions¬ jahren 1848/49 folgten dann allerlei internationale Friedenskongresse und inter¬ parlamentarische Friedenskonferenzen rasch aufeinander. 1889 erschien der Roman von Berta von Suttner „Die Waffen nieder", und unter diesem Ruf erstarkte die Friedensbewegung, die Friedensgesellschaften gewannen zahlreiche Mitglieder, jetzt vor allem aus den Reihen der demokratischen Parteien, und der deutsche Zweig derselben in Alfred Fried einen geschäftigen Führer und unermüdlichen Agitator. Das Merkwürdigste aber war, daß im August 1898 der russische Zar Nikolaus der Zweite, derselbe, der uns sechzehn Jahre später zum Krieg herausgefordert und gezwungen hat, an sämtliche Mächte eine Einladung zu einem Kongreß er¬ ließ, der „die Bestrebungen aller Staaten vereinigen sollte, die aufrichtig darum bemüht sind, den großen Gedanken des Weltsriedens triumphieren zu lassen über alle Elemente des Unfriedens und der Zwietracht". Begründet aber wurde dieser Vorschlag mit einem Schwarz in Schwarz gemalten Bilde,von der erdrückenden Last der Kriegsrüstungen und den Gefahren, die diese Kriegsstoffansammlung her¬ aufbeschwöre; an die Stelle von Kriegen sollte das Haager Schiedsgericht treten. So hatte die Friedensbewegung hinfort ihre zwei praktischen Ziele: Abrüstung und Schiedsgericht. Der geistige Vater dieses zaristischen Manifestes war wohl Tolstoi, der wie Elihu Burritt den Krieg vom christlichen Standpunkte aus verwarf; be¬ zeichnend aber war, daß der Zar mit demselben einen Monat nach Bismarcks Tode hervortrat — fast als hätte er sich gescheut, bei Lebzeiten dieses großen Realisten mit seinem himmelblauen Idealismus zu kommen; oder als hätte er oder seine Hintermänner damit gewartet bis zu seinem Tode, damit der große Staatsmann nicht durchschaue, was hinter diesem Friedensschleier von Rußland in Ostasien geplant wurde, und er nicht sein deutsches Volk mehr davor warnen könne, auf solche Pseudofriedensliebe hereinzufallen. Aber in all der Zeit hatte man sich doch eines nicht genügend klar gemacht: was eigentlich der Ewige Friede mit seinen zwei Gedanken der Abrüstung und des Schiedsgerichts sei? Der Weltwirklichkeit gegenüber jedenfalls eine Utopie, d. h. etwas, waS in der Welt nirgendwo anzutreffen ist und sein wird, dem realen Leben und den in der Menschenwelt herrschenden Leidenschaften gegenüber, die immer stärker sind, als Vernunft und Ratio, ein Traum. Der Weltwirklich¬ keit gegenüber: kaum hatten ja die Friedenskongresse im Haag ihre Arbeit be¬ gonnen, so kam der Burenkrieg, es kamen die Kämpfe der europäischen Mächte gegen China, es kam der russisch-japanische Krieg, dann die Kämpfe auf dem Balkan, die Einkreisungspolitik König Eduards des Siebenten gegen Deutschland und 1914 endlich der größte und schwerste von allen, der Weltkrieg, in dem wir stehen. Und die Verhandlungen zwischen Deutschland und England vor dem .Krieg über Beschränkung der Flottenrüstungen haben gezeigt, wie schwierig das in Praxis herzustellen ist, was sich auf dem Papier oder im Mund so leicht in das eine Wort „Abrüstung" zusammenfaßt. Daß gleich nach dem .Krieg bei der allgemeinen Erschöpfung der Völker darum doch vielleicht internationale Abrüstungsverträge abgeschlossen werden, ist möglich: aber auf wie lange? Bis die Völker wieder erstarkt sind und die Generation, die unter dem Krieg gelebt und gelitten hat, ausgestorben ist, sicher nicht länger, vielleicht je nach dem Ausgang des Krieges viel kürzer. Und gegen Schiedsgerichte — ? Da hat schon der Mann des klaren gesunden Menschenverstandes, hat Lessing das durchschlagende Argument ins Feld geführt: der Haupteinfall jenes Herrn von Palthen, des Mannes eines immer¬ währenden Friedens, sei der: „ein allgemeines Parlament oder Tribunal zu er¬ richten, dessen Ausspruch sich alle europäischen Staaten gefallen lassen müssen. Wenn sich aber nun unter den europäischen Mächten Halsstarrige fänden, die dem Urteile des Tribunals Genüge zu leisten sich weigerten? wie da? O, der Herr von Palthen hat vollstreckende Völker, er hat militärische Exekution. Hat er die? Nun wohl, so hat er Krieg I" Den ewigen Frieden aber allemal wieder durch Krieg herbeiführen, erzwingen zu müssen, das wäre doch der vollendete, ein gerade-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/106>, abgerufen am 22.07.2024.