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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Die Beratungen der Wahlrechtskommission
v I)r. Friedrich Thinae on

I as öffentliche Interesse, das in den letzten Wochen fast ausschließlich
von den östlichen Dingen, insbesondere den Verhandlungen von Brest-
Litowst in Anspruch genommen war, beginnt sich seit dem Zusammen¬
tritt der Wahlrechtskommission am 11. Januar wieder in steigendem
I Maße der Umbildung des preußischen Landtages zuzuwenden. In
der einmonatigen Pause zwischen der ersten Beratung der Verfassungsvorlagen im
Abgeordnetenhause (5. bis 11. Dezember) und dem Beginn der Kommissionsarbeiten
hat sich wenig oder nichts ereignet, was auf die Aussichten der Vorlagen ein neues
Licht zu werfen geeignet wäre. In der optimistischen Auffassung, die ich hier vor
vier Wochen vertreten habe, bin ich auch durch den bisherigen Verlauf der Kommssions-
beratungen nicht irre geworden. Nach der Zusammensetzung der Kommission war
von vornherein zu erwarten, daß in ihr zunächst die Bedenken gegen das gleiche
Wahlrecht in den Vordergrund treten würden. Ausschlaggebend Pflegen aber bei
Vorlagen von solcher Tragweite nicht die Kommissions- sondern erst die Voll¬
verhandlungen zu sein. Und im Schoße der Parteien werden mehr und mehr
Stimmen laut, die von günstiger Vorbedeutung für das endliche Schicksal der
Vorlagen sind. Unumwunden hat ein so hervorragendes Mitglied der Zentrums-
fraktion des Abgeordnetenhauses, wie der Oberlandesgerichtsrat Marx in einer am
80. Dezember in Münster stattgefundenen Versammlung der westfälischen Zentrums¬
partei anerkannt: das Zentrum habe seit vierzig Jahren das gleiche Wahl¬
recht zu einer seiner Hauptförderungen gemacht und könne heute diesen Grund-
satz nicht verleugnen. "Die Zentrumspartei ist verurteilt, wenn sie das
gleiche Wahlrecht ablehnt: das überlebt sie nicht, wenn sie das ablehnen würde,
was sie seit vierzig Jahren verkündet hat." Danach wird man annehmen dürfen,
daß das Zentrum schließlich mit verschwindenden Ausnahmen für das gleiche
Wahlrecht eintreten wird. Auch innerhalb der nationalliberalen Partei, deren
hervorragendste Vertreter, wie Stresemcmn und Schiffer Ende März im Reichstage
nachdrücklich den Grundsatz der vollen staatsbürgerlichen Gleichheit vertreten haben,
mehren sich die Stimmen, die unter den vorhandenen Umständen das gleiche Wahl-


Grenzboten l t918 7


Die Beratungen der Wahlrechtskommission
v I)r. Friedrich Thinae on

I as öffentliche Interesse, das in den letzten Wochen fast ausschließlich
von den östlichen Dingen, insbesondere den Verhandlungen von Brest-
Litowst in Anspruch genommen war, beginnt sich seit dem Zusammen¬
tritt der Wahlrechtskommission am 11. Januar wieder in steigendem
I Maße der Umbildung des preußischen Landtages zuzuwenden. In
der einmonatigen Pause zwischen der ersten Beratung der Verfassungsvorlagen im
Abgeordnetenhause (5. bis 11. Dezember) und dem Beginn der Kommissionsarbeiten
hat sich wenig oder nichts ereignet, was auf die Aussichten der Vorlagen ein neues
Licht zu werfen geeignet wäre. In der optimistischen Auffassung, die ich hier vor
vier Wochen vertreten habe, bin ich auch durch den bisherigen Verlauf der Kommssions-
beratungen nicht irre geworden. Nach der Zusammensetzung der Kommission war
von vornherein zu erwarten, daß in ihr zunächst die Bedenken gegen das gleiche
Wahlrecht in den Vordergrund treten würden. Ausschlaggebend Pflegen aber bei
Vorlagen von solcher Tragweite nicht die Kommissions- sondern erst die Voll¬
verhandlungen zu sein. Und im Schoße der Parteien werden mehr und mehr
Stimmen laut, die von günstiger Vorbedeutung für das endliche Schicksal der
Vorlagen sind. Unumwunden hat ein so hervorragendes Mitglied der Zentrums-
fraktion des Abgeordnetenhauses, wie der Oberlandesgerichtsrat Marx in einer am
80. Dezember in Münster stattgefundenen Versammlung der westfälischen Zentrums¬
partei anerkannt: das Zentrum habe seit vierzig Jahren das gleiche Wahl¬
recht zu einer seiner Hauptförderungen gemacht und könne heute diesen Grund-
satz nicht verleugnen. „Die Zentrumspartei ist verurteilt, wenn sie das
gleiche Wahlrecht ablehnt: das überlebt sie nicht, wenn sie das ablehnen würde,
was sie seit vierzig Jahren verkündet hat." Danach wird man annehmen dürfen,
daß das Zentrum schließlich mit verschwindenden Ausnahmen für das gleiche
Wahlrecht eintreten wird. Auch innerhalb der nationalliberalen Partei, deren
hervorragendste Vertreter, wie Stresemcmn und Schiffer Ende März im Reichstage
nachdrücklich den Grundsatz der vollen staatsbürgerlichen Gleichheit vertreten haben,
mehren sich die Stimmen, die unter den vorhandenen Umständen das gleiche Wahl-


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[0093] [Abbildung] Die Beratungen der Wahlrechtskommission v I)r. Friedrich Thinae on I as öffentliche Interesse, das in den letzten Wochen fast ausschließlich von den östlichen Dingen, insbesondere den Verhandlungen von Brest- Litowst in Anspruch genommen war, beginnt sich seit dem Zusammen¬ tritt der Wahlrechtskommission am 11. Januar wieder in steigendem I Maße der Umbildung des preußischen Landtages zuzuwenden. In der einmonatigen Pause zwischen der ersten Beratung der Verfassungsvorlagen im Abgeordnetenhause (5. bis 11. Dezember) und dem Beginn der Kommissionsarbeiten hat sich wenig oder nichts ereignet, was auf die Aussichten der Vorlagen ein neues Licht zu werfen geeignet wäre. In der optimistischen Auffassung, die ich hier vor vier Wochen vertreten habe, bin ich auch durch den bisherigen Verlauf der Kommssions- beratungen nicht irre geworden. Nach der Zusammensetzung der Kommission war von vornherein zu erwarten, daß in ihr zunächst die Bedenken gegen das gleiche Wahlrecht in den Vordergrund treten würden. Ausschlaggebend Pflegen aber bei Vorlagen von solcher Tragweite nicht die Kommissions- sondern erst die Voll¬ verhandlungen zu sein. Und im Schoße der Parteien werden mehr und mehr Stimmen laut, die von günstiger Vorbedeutung für das endliche Schicksal der Vorlagen sind. Unumwunden hat ein so hervorragendes Mitglied der Zentrums- fraktion des Abgeordnetenhauses, wie der Oberlandesgerichtsrat Marx in einer am 80. Dezember in Münster stattgefundenen Versammlung der westfälischen Zentrums¬ partei anerkannt: das Zentrum habe seit vierzig Jahren das gleiche Wahl¬ recht zu einer seiner Hauptförderungen gemacht und könne heute diesen Grund- satz nicht verleugnen. „Die Zentrumspartei ist verurteilt, wenn sie das gleiche Wahlrecht ablehnt: das überlebt sie nicht, wenn sie das ablehnen würde, was sie seit vierzig Jahren verkündet hat." Danach wird man annehmen dürfen, daß das Zentrum schließlich mit verschwindenden Ausnahmen für das gleiche Wahlrecht eintreten wird. Auch innerhalb der nationalliberalen Partei, deren hervorragendste Vertreter, wie Stresemcmn und Schiffer Ende März im Reichstage nachdrücklich den Grundsatz der vollen staatsbürgerlichen Gleichheit vertreten haben, mehren sich die Stimmen, die unter den vorhandenen Umständen das gleiche Wahl- Grenzboten l t918 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/93>, abgerufen am 22.07.2024.