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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Die neue Wendung der polnischen Frage

die Polenfrage nicht vor Friedensschluß endgültig entschieden werde (Erklärung
Czernins s. oben; Welerle sagte dasselbe 20. November).

Von größter Wichtigkeit ist, daß wegen der schwebenden Verhandlungen
zwischen den völkischen Kreisen Deutschlands und Deutsch-Österreichs keine Spannung
eintrete. So oder so, die Einigkeit zwischen Deutschen hüben und drüben tut
für alle Zukunft not.

Über die weitere Entwicklung der Verhältnisse in Polen seit dem Bekannt¬
werden des Novemberplanes ist nicht viel zu sagen. Nachdem die Berliner Re¬
gierung trotz des Widerstandes der Polen den Grafen Tarnowski als Minister¬
präsidenten zurückgewiesen hatte, ist Jan Kucharzewski, bisher Chef der Sektion
für höheres Schulwesen des Negentschaftsrates, zum polnischen Ministerpräsidenten
ernannt worden. Der Regentschaftsrat findet Anerkennung (auch aus Galizien).
Die aktivistischen Parteien Polens schließen sich der Regierung an und versprechen sie
zu unterstützen. Einzelne polnische Blätter (so "Godzina Polski"), weisen mit Ent¬
schiedenheit die Passivistische Partei und ihre Blätterstiminen in Rußland und
Frankreich, die in Polen die Schaffung einer Regierung und eines Heeres nicht
zulassen, zurück. Ministerpräsident Kucharzewski hat im Dezember in einer Unter¬
redung mit den polnischen Redakteuren betont, daß die Aufgaben der Regierung
schwierig seien, da es an Männern fehlt, die die Tradition eines staatlichen Aufbaues
besitzen; man werde daher Leute aus anderen Gegenden Polens zuziehen müssen.
Die rasche Schaffung einer Armee sei äußerst wichtig, doch seien die Gerüchte
einer Kriegserklärung an Rußland (vgl. oben) irrig. Nach weiteren Nachrichten
sind auch Verhandlungen über die Gestaltung der Heeresverwaltung im Zuge;
damit hängt wohl auch die Nachricht zusammen, daß Kaiser Karl am 15. Dezember
eine polnische Abordnung in Angelegenheit der polnischen Legion empfangen hat.
Auch die Errichtung polnischer Gesandtschaften wird gewünscht; doch tritt z. B.
der Krakauer "Czas" in einem auch sonst sehr klugen Artikel diesen übereilten
Forderungen und dem Treiben der Nationaldemokraten überhaupt entgegen
(24. November). Andererseits hielt aber Prof, Römer, der Herausgeber des gro߬
polnischen Atlasses, in Lemberg einen Vortrag über die Notwendigkeit der Meeres¬
küste für Polen (24. November) und in Warschau veranstaltete die polnische Jugend
auf Veranlassung der Pilsudski ergebenen freien polnischen militärischen Organi¬
sation eine Kundgebung, die blutige Zusammenstöße herbeiführte (9. Dezember).
Auch fehlt es nicht an Spannung zwischen dem Ministerpräsidenten Kucharzewski
und den nicht aktivistischen Gruppen ("Kurjer polski" vom 5. Dezember).*)





dieser Anschauungen ist aber bisher ebensowenig vorhanden, wie für das Bestehen der Neu¬
ordnung Rußlands überhaupt.
*) Die Darstellung des Herrn Professor Kaindl schließt mit dem Jahre 1S17 ab.
Zur jüngsten Entwicklungsphase der polnischen Frage wird der Herausgeber der Grenzboten
Die Schriftleitung. zu gegebener Zeit Stellung nehmen.
Grenzboten I 1918ö
Die neue Wendung der polnischen Frage

die Polenfrage nicht vor Friedensschluß endgültig entschieden werde (Erklärung
Czernins s. oben; Welerle sagte dasselbe 20. November).

Von größter Wichtigkeit ist, daß wegen der schwebenden Verhandlungen
zwischen den völkischen Kreisen Deutschlands und Deutsch-Österreichs keine Spannung
eintrete. So oder so, die Einigkeit zwischen Deutschen hüben und drüben tut
für alle Zukunft not.

Über die weitere Entwicklung der Verhältnisse in Polen seit dem Bekannt¬
werden des Novemberplanes ist nicht viel zu sagen. Nachdem die Berliner Re¬
gierung trotz des Widerstandes der Polen den Grafen Tarnowski als Minister¬
präsidenten zurückgewiesen hatte, ist Jan Kucharzewski, bisher Chef der Sektion
für höheres Schulwesen des Negentschaftsrates, zum polnischen Ministerpräsidenten
ernannt worden. Der Regentschaftsrat findet Anerkennung (auch aus Galizien).
Die aktivistischen Parteien Polens schließen sich der Regierung an und versprechen sie
zu unterstützen. Einzelne polnische Blätter (so „Godzina Polski"), weisen mit Ent¬
schiedenheit die Passivistische Partei und ihre Blätterstiminen in Rußland und
Frankreich, die in Polen die Schaffung einer Regierung und eines Heeres nicht
zulassen, zurück. Ministerpräsident Kucharzewski hat im Dezember in einer Unter¬
redung mit den polnischen Redakteuren betont, daß die Aufgaben der Regierung
schwierig seien, da es an Männern fehlt, die die Tradition eines staatlichen Aufbaues
besitzen; man werde daher Leute aus anderen Gegenden Polens zuziehen müssen.
Die rasche Schaffung einer Armee sei äußerst wichtig, doch seien die Gerüchte
einer Kriegserklärung an Rußland (vgl. oben) irrig. Nach weiteren Nachrichten
sind auch Verhandlungen über die Gestaltung der Heeresverwaltung im Zuge;
damit hängt wohl auch die Nachricht zusammen, daß Kaiser Karl am 15. Dezember
eine polnische Abordnung in Angelegenheit der polnischen Legion empfangen hat.
Auch die Errichtung polnischer Gesandtschaften wird gewünscht; doch tritt z. B.
der Krakauer „Czas" in einem auch sonst sehr klugen Artikel diesen übereilten
Forderungen und dem Treiben der Nationaldemokraten überhaupt entgegen
(24. November). Andererseits hielt aber Prof, Römer, der Herausgeber des gro߬
polnischen Atlasses, in Lemberg einen Vortrag über die Notwendigkeit der Meeres¬
küste für Polen (24. November) und in Warschau veranstaltete die polnische Jugend
auf Veranlassung der Pilsudski ergebenen freien polnischen militärischen Organi¬
sation eine Kundgebung, die blutige Zusammenstöße herbeiführte (9. Dezember).
Auch fehlt es nicht an Spannung zwischen dem Ministerpräsidenten Kucharzewski
und den nicht aktivistischen Gruppen („Kurjer polski" vom 5. Dezember).*)





dieser Anschauungen ist aber bisher ebensowenig vorhanden, wie für das Bestehen der Neu¬
ordnung Rußlands überhaupt.
*) Die Darstellung des Herrn Professor Kaindl schließt mit dem Jahre 1S17 ab.
Zur jüngsten Entwicklungsphase der polnischen Frage wird der Herausgeber der Grenzboten
Die Schriftleitung. zu gegebener Zeit Stellung nehmen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/85>, abgerufen am 22.07.2024.