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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Belgien

Kraft sich doch nicht militärisch sichern kann, nicht einmal zeitweilig; denn
Lüttich und Namur fielen in drei Tagen, Antwerpen in etwa acht Tagen.
Die militärische Rüstung ist ihm also nutzlos und verleitet nur zu nationalem
Größenwahn, Eroberungs- und Vergrößerungsgier, wie wir- das nicht uur in
Belgien, sondern in allen neuen Kleinstaaten -- Serbien, Montenegro,
Rumänien usw. -- haben beobachten können, und damit früher oder später zu
einer einseitigen Machtpolitik, die an so empfindlicher Stelle nicht nur den
Kleinstaat selbst, sondern die ganze Welt mit Tod und Verderben bedroht.
Überdies, wenn alle drei Großmächte mit gleicher Leichtigkeit und Schwierigkeit
in das dann offene Land einmarschieren und feindlichem Einmarsch entgegen¬
treten können, wird keine von ihnen benachteiligt. Das Risiko von Konflikten
fiele zunächst immer auf Belgien selbst zurück, weil es Kampfplatz wird, ein
Ansporn mehr, zu sein und zu bleiben, wozu es bestimmt ist: ein Pufferstaat,
der seine Sicherheit und sein Gedeihen in einem dauernd guten Verhältnis zu
allen seinen Nachbarn findet, wie etwa die Schweiz.

Die zweite unerläßliche Neutralitätsbedingung wäre: Verwaltungs¬
trennung Flanderns und Walloniens, etwa nach dem Muster Österreich-
Ungarns oder der Schweizer Kantone. Nur so erlangt man eine genügende
Selbstkontrolle der Belgier mittelst Überwachung der einen Reichshälfte durch
die andere und verhindert den nach dem Kriege sonst sicher mit wachsender
Erbitterung ausbrechenden Nationalitätenstreil. der eine dauernde Konflikts- und
Einmischungsquelle um so mehr bilden würde, weil sehr bald die große
germanische und romanische Staatenwelt an ihm aufgeregten Anteil nehmen
würde und müßte. Hier ist also für die Entente eine Gelegenheit wie keine
zweite, die Ernsthaftigkeit ihres Nationalitäts- und Selbstbeftimmungsprinzips
zu beweisen, ohne das Prinzip des Schutzes der Kleinstaaten anzutasten.

Mit dieser militärisch-politischen Regelung wäre es aber allein nicht getan.
Die handelspolitische Neutralisierung muß hinzukommen. Sie ist für alle
Teile nicht minder wichtig als jene kraft der einzigartigen, die territoriale weit
überragenden Bedeutung dieses hochkultivierten Nordwestzipfels Europas für die
Weltwirtschaft, bedingt durch seine Lage an der Friedrichstraße des Weltmeeres,
dem Kanal, im Kreuzungspunkte der größten Land-, Fluß-, Seestraßen Nord-,
Mittel- und Westeuropas, durch seine idealen Hafen- und Schiffahrtsverhältnisse,
des ausgebauten Straßen-, Bahn- und Kanalnetzes, der unerhörten ober- und
unterirdischen Bodenreichtümer bei einer kräftigen, betriebsamen Bevölkerung
von alter Kultur, Die Furcht vor der Wirtschaftskraft dieses Gebietes, welche
einst Brügge zum nordischen Venedig und zum mittelalterlichen London in eins
machte, veranlaßte ganz wesentlich England aus ähnlichen Gründen, wie sie
einst seine arti-holländische Politik leiteten, Belgien durch Herausschneidung
aus seiner Umgebung und durch Abriegelung der Scheldemündung möglichst
kaltzustellen; denn England glaubt seine überragende monopolartige Handels¬
und Schiffahrtsstellung in Westeuropa und darüber hinaus abhängig von der


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Belgien

Kraft sich doch nicht militärisch sichern kann, nicht einmal zeitweilig; denn
Lüttich und Namur fielen in drei Tagen, Antwerpen in etwa acht Tagen.
Die militärische Rüstung ist ihm also nutzlos und verleitet nur zu nationalem
Größenwahn, Eroberungs- und Vergrößerungsgier, wie wir- das nicht uur in
Belgien, sondern in allen neuen Kleinstaaten — Serbien, Montenegro,
Rumänien usw. — haben beobachten können, und damit früher oder später zu
einer einseitigen Machtpolitik, die an so empfindlicher Stelle nicht nur den
Kleinstaat selbst, sondern die ganze Welt mit Tod und Verderben bedroht.
Überdies, wenn alle drei Großmächte mit gleicher Leichtigkeit und Schwierigkeit
in das dann offene Land einmarschieren und feindlichem Einmarsch entgegen¬
treten können, wird keine von ihnen benachteiligt. Das Risiko von Konflikten
fiele zunächst immer auf Belgien selbst zurück, weil es Kampfplatz wird, ein
Ansporn mehr, zu sein und zu bleiben, wozu es bestimmt ist: ein Pufferstaat,
der seine Sicherheit und sein Gedeihen in einem dauernd guten Verhältnis zu
allen seinen Nachbarn findet, wie etwa die Schweiz.

Die zweite unerläßliche Neutralitätsbedingung wäre: Verwaltungs¬
trennung Flanderns und Walloniens, etwa nach dem Muster Österreich-
Ungarns oder der Schweizer Kantone. Nur so erlangt man eine genügende
Selbstkontrolle der Belgier mittelst Überwachung der einen Reichshälfte durch
die andere und verhindert den nach dem Kriege sonst sicher mit wachsender
Erbitterung ausbrechenden Nationalitätenstreil. der eine dauernde Konflikts- und
Einmischungsquelle um so mehr bilden würde, weil sehr bald die große
germanische und romanische Staatenwelt an ihm aufgeregten Anteil nehmen
würde und müßte. Hier ist also für die Entente eine Gelegenheit wie keine
zweite, die Ernsthaftigkeit ihres Nationalitäts- und Selbstbeftimmungsprinzips
zu beweisen, ohne das Prinzip des Schutzes der Kleinstaaten anzutasten.

Mit dieser militärisch-politischen Regelung wäre es aber allein nicht getan.
Die handelspolitische Neutralisierung muß hinzukommen. Sie ist für alle
Teile nicht minder wichtig als jene kraft der einzigartigen, die territoriale weit
überragenden Bedeutung dieses hochkultivierten Nordwestzipfels Europas für die
Weltwirtschaft, bedingt durch seine Lage an der Friedrichstraße des Weltmeeres,
dem Kanal, im Kreuzungspunkte der größten Land-, Fluß-, Seestraßen Nord-,
Mittel- und Westeuropas, durch seine idealen Hafen- und Schiffahrtsverhältnisse,
des ausgebauten Straßen-, Bahn- und Kanalnetzes, der unerhörten ober- und
unterirdischen Bodenreichtümer bei einer kräftigen, betriebsamen Bevölkerung
von alter Kultur, Die Furcht vor der Wirtschaftskraft dieses Gebietes, welche
einst Brügge zum nordischen Venedig und zum mittelalterlichen London in eins
machte, veranlaßte ganz wesentlich England aus ähnlichen Gründen, wie sie
einst seine arti-holländische Politik leiteten, Belgien durch Herausschneidung
aus seiner Umgebung und durch Abriegelung der Scheldemündung möglichst
kaltzustellen; denn England glaubt seine überragende monopolartige Handels¬
und Schiffahrtsstellung in Westeuropa und darüber hinaus abhängig von der


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[0079] Belgien Kraft sich doch nicht militärisch sichern kann, nicht einmal zeitweilig; denn Lüttich und Namur fielen in drei Tagen, Antwerpen in etwa acht Tagen. Die militärische Rüstung ist ihm also nutzlos und verleitet nur zu nationalem Größenwahn, Eroberungs- und Vergrößerungsgier, wie wir- das nicht uur in Belgien, sondern in allen neuen Kleinstaaten — Serbien, Montenegro, Rumänien usw. — haben beobachten können, und damit früher oder später zu einer einseitigen Machtpolitik, die an so empfindlicher Stelle nicht nur den Kleinstaat selbst, sondern die ganze Welt mit Tod und Verderben bedroht. Überdies, wenn alle drei Großmächte mit gleicher Leichtigkeit und Schwierigkeit in das dann offene Land einmarschieren und feindlichem Einmarsch entgegen¬ treten können, wird keine von ihnen benachteiligt. Das Risiko von Konflikten fiele zunächst immer auf Belgien selbst zurück, weil es Kampfplatz wird, ein Ansporn mehr, zu sein und zu bleiben, wozu es bestimmt ist: ein Pufferstaat, der seine Sicherheit und sein Gedeihen in einem dauernd guten Verhältnis zu allen seinen Nachbarn findet, wie etwa die Schweiz. Die zweite unerläßliche Neutralitätsbedingung wäre: Verwaltungs¬ trennung Flanderns und Walloniens, etwa nach dem Muster Österreich- Ungarns oder der Schweizer Kantone. Nur so erlangt man eine genügende Selbstkontrolle der Belgier mittelst Überwachung der einen Reichshälfte durch die andere und verhindert den nach dem Kriege sonst sicher mit wachsender Erbitterung ausbrechenden Nationalitätenstreil. der eine dauernde Konflikts- und Einmischungsquelle um so mehr bilden würde, weil sehr bald die große germanische und romanische Staatenwelt an ihm aufgeregten Anteil nehmen würde und müßte. Hier ist also für die Entente eine Gelegenheit wie keine zweite, die Ernsthaftigkeit ihres Nationalitäts- und Selbstbeftimmungsprinzips zu beweisen, ohne das Prinzip des Schutzes der Kleinstaaten anzutasten. Mit dieser militärisch-politischen Regelung wäre es aber allein nicht getan. Die handelspolitische Neutralisierung muß hinzukommen. Sie ist für alle Teile nicht minder wichtig als jene kraft der einzigartigen, die territoriale weit überragenden Bedeutung dieses hochkultivierten Nordwestzipfels Europas für die Weltwirtschaft, bedingt durch seine Lage an der Friedrichstraße des Weltmeeres, dem Kanal, im Kreuzungspunkte der größten Land-, Fluß-, Seestraßen Nord-, Mittel- und Westeuropas, durch seine idealen Hafen- und Schiffahrtsverhältnisse, des ausgebauten Straßen-, Bahn- und Kanalnetzes, der unerhörten ober- und unterirdischen Bodenreichtümer bei einer kräftigen, betriebsamen Bevölkerung von alter Kultur, Die Furcht vor der Wirtschaftskraft dieses Gebietes, welche einst Brügge zum nordischen Venedig und zum mittelalterlichen London in eins machte, veranlaßte ganz wesentlich England aus ähnlichen Gründen, wie sie einst seine arti-holländische Politik leiteten, Belgien durch Herausschneidung aus seiner Umgebung und durch Abriegelung der Scheldemündung möglichst kaltzustellen; denn England glaubt seine überragende monopolartige Handels¬ und Schiffahrtsstellung in Westeuropa und darüber hinaus abhängig von der 5«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/79>, abgerufen am 01.09.2024.