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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Ueber den Zusammenhang von innerer und äußerer Politik

Leben bewegt. War in Zeiten geringer entwickelten Gemeingeistes, an Stellen
mehr künstlich geschaffener politischer Kraft die Anziehung von feiten des ersten
stärker, so konnte und mußte überall nach Erreichung innerer Kohäsion und
organischer Durchdringung von Volk und Staat ein stärkerer Ausschlag in der
Richtung des zweiten erfolgen. Über diesem inneren Gesetz aber stand zu
allen Zeiten das äußere, von der Grenze diktierte, das die Forderung aufstellt:

Bei gleichen inneren Bedingungen müssen die Länder der beständigen
en-veäette-Stellung in der Lockerung ihrer verfassungsrechtlichen Struktur not¬
gedrungen einen Schritt zurückbleiben hinter ihren von der Natur begünstigten
Rivalen.

In solcher ergänzten, dem Wandel der Zeit Rechnung tragenden Fassung
ist der Seeleysche Satz auch für die Gegenwart noch zutreffend. (Wobei wir
uns bewußt bleiben, daß es sich wie auch sonst in der politischen Welt nicht
um ein "Gesetz", dessen Gültigkeit neuerdings ja sogar für das natürliche
Geschehen bestritten wird, handelt, sondern eben um eine bloße Maxime, also
eine "Hauptregel", die auch Ausnahmen zuläßt.)

Darin ist allerdings Preuß recht zu geben: das "Dogma", als "stände
die militärische Schlagkraft und Tüchtigkeit eines Staates in bedingender Wechsel¬
wirkung mit seiner straff obrigkeitlichen Struktur"*) ist irrig**); aber ein solches
kann aus Seeleys Worten nur der ableiten, der sie zu extremen Parteizwecken
mißbrauchen will. Die Begriffe "liberty" und "Aovernment" haben in dem
uns bekannten Zusammenhang einen relativen Sinn. Seelen spricht ausdrück¬
lich von einem jeweils zu verwirklichenden Grade (äeZree) oder Maße von
staatlichem Zwang und politischer Freiheit, die also beide nicht feststehende,
sondern veränderliche Größen find. Wie sie im einzelnen Falle beschaffen sein
können, das lehrt nur eine historische Anschauung.

Für die letzten Jahrhunderte des alten Deutschen Reiches muß man in
der Tat (was Preuß S. 12 als unzulässig hinstellen möchte) "den Begriff der
politischen Freiheit" gleichsetzen mit dein der "Teutschen Libertät", da ihre Er¬
scheinung in den modernen Formen des "Volksstaates", wie ihn Preuß sich
als Gegensatz zum "Obrigkeitsstaate" denkt***), damals schlechterdings unmöglich
war. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern überall sonst, England
eingeschlossen, wo die gleiche ständische Oligarchie (hier in der Form des zur
Plutolratie unaufhaltsam hinführenden Besitzadels) als Widerpart der Krone
ihr Wesen trieb, wie im Heiligen Römischen Reiche deutscher Nation, nur daß
sie dort dank mannigfacher historischer Ursachen innerhalb des staatlichen
Rahmens zur Erscheinung kommt, während hier -- wiederum als Erbteil der





*) "Das deutsche Volk und die Politik". 1916. Jena, Diederichs.
**
) Gerade das Gegenteil kann man behaupten. Vgl. die oben zitierte Stelle von
"ante über das ancien rö^ime Frankreichs. Vgl. auch Preuß, "Obrigkeitsstaat". S. 10.
Das steht aber mit Nichten im Widerspruch zu dem richtig verstandenen Seeleyschen Satz.
"**
) Vgl. "Das deutsche Volk und die Politik".
Ueber den Zusammenhang von innerer und äußerer Politik

Leben bewegt. War in Zeiten geringer entwickelten Gemeingeistes, an Stellen
mehr künstlich geschaffener politischer Kraft die Anziehung von feiten des ersten
stärker, so konnte und mußte überall nach Erreichung innerer Kohäsion und
organischer Durchdringung von Volk und Staat ein stärkerer Ausschlag in der
Richtung des zweiten erfolgen. Über diesem inneren Gesetz aber stand zu
allen Zeiten das äußere, von der Grenze diktierte, das die Forderung aufstellt:

Bei gleichen inneren Bedingungen müssen die Länder der beständigen
en-veäette-Stellung in der Lockerung ihrer verfassungsrechtlichen Struktur not¬
gedrungen einen Schritt zurückbleiben hinter ihren von der Natur begünstigten
Rivalen.

In solcher ergänzten, dem Wandel der Zeit Rechnung tragenden Fassung
ist der Seeleysche Satz auch für die Gegenwart noch zutreffend. (Wobei wir
uns bewußt bleiben, daß es sich wie auch sonst in der politischen Welt nicht
um ein „Gesetz", dessen Gültigkeit neuerdings ja sogar für das natürliche
Geschehen bestritten wird, handelt, sondern eben um eine bloße Maxime, also
eine „Hauptregel", die auch Ausnahmen zuläßt.)

Darin ist allerdings Preuß recht zu geben: das „Dogma", als „stände
die militärische Schlagkraft und Tüchtigkeit eines Staates in bedingender Wechsel¬
wirkung mit seiner straff obrigkeitlichen Struktur"*) ist irrig**); aber ein solches
kann aus Seeleys Worten nur der ableiten, der sie zu extremen Parteizwecken
mißbrauchen will. Die Begriffe „liberty" und „Aovernment" haben in dem
uns bekannten Zusammenhang einen relativen Sinn. Seelen spricht ausdrück¬
lich von einem jeweils zu verwirklichenden Grade (äeZree) oder Maße von
staatlichem Zwang und politischer Freiheit, die also beide nicht feststehende,
sondern veränderliche Größen find. Wie sie im einzelnen Falle beschaffen sein
können, das lehrt nur eine historische Anschauung.

Für die letzten Jahrhunderte des alten Deutschen Reiches muß man in
der Tat (was Preuß S. 12 als unzulässig hinstellen möchte) „den Begriff der
politischen Freiheit" gleichsetzen mit dein der „Teutschen Libertät", da ihre Er¬
scheinung in den modernen Formen des „Volksstaates", wie ihn Preuß sich
als Gegensatz zum „Obrigkeitsstaate" denkt***), damals schlechterdings unmöglich
war. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern überall sonst, England
eingeschlossen, wo die gleiche ständische Oligarchie (hier in der Form des zur
Plutolratie unaufhaltsam hinführenden Besitzadels) als Widerpart der Krone
ihr Wesen trieb, wie im Heiligen Römischen Reiche deutscher Nation, nur daß
sie dort dank mannigfacher historischer Ursachen innerhalb des staatlichen
Rahmens zur Erscheinung kommt, während hier — wiederum als Erbteil der





*) „Das deutsche Volk und die Politik". 1916. Jena, Diederichs.
**
) Gerade das Gegenteil kann man behaupten. Vgl. die oben zitierte Stelle von
«ante über das ancien rö^ime Frankreichs. Vgl. auch Preuß, „Obrigkeitsstaat". S. 10.
Das steht aber mit Nichten im Widerspruch zu dem richtig verstandenen Seeleyschen Satz.
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) Vgl. „Das deutsche Volk und die Politik".
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[0066] Ueber den Zusammenhang von innerer und äußerer Politik Leben bewegt. War in Zeiten geringer entwickelten Gemeingeistes, an Stellen mehr künstlich geschaffener politischer Kraft die Anziehung von feiten des ersten stärker, so konnte und mußte überall nach Erreichung innerer Kohäsion und organischer Durchdringung von Volk und Staat ein stärkerer Ausschlag in der Richtung des zweiten erfolgen. Über diesem inneren Gesetz aber stand zu allen Zeiten das äußere, von der Grenze diktierte, das die Forderung aufstellt: Bei gleichen inneren Bedingungen müssen die Länder der beständigen en-veäette-Stellung in der Lockerung ihrer verfassungsrechtlichen Struktur not¬ gedrungen einen Schritt zurückbleiben hinter ihren von der Natur begünstigten Rivalen. In solcher ergänzten, dem Wandel der Zeit Rechnung tragenden Fassung ist der Seeleysche Satz auch für die Gegenwart noch zutreffend. (Wobei wir uns bewußt bleiben, daß es sich wie auch sonst in der politischen Welt nicht um ein „Gesetz", dessen Gültigkeit neuerdings ja sogar für das natürliche Geschehen bestritten wird, handelt, sondern eben um eine bloße Maxime, also eine „Hauptregel", die auch Ausnahmen zuläßt.) Darin ist allerdings Preuß recht zu geben: das „Dogma", als „stände die militärische Schlagkraft und Tüchtigkeit eines Staates in bedingender Wechsel¬ wirkung mit seiner straff obrigkeitlichen Struktur"*) ist irrig**); aber ein solches kann aus Seeleys Worten nur der ableiten, der sie zu extremen Parteizwecken mißbrauchen will. Die Begriffe „liberty" und „Aovernment" haben in dem uns bekannten Zusammenhang einen relativen Sinn. Seelen spricht ausdrück¬ lich von einem jeweils zu verwirklichenden Grade (äeZree) oder Maße von staatlichem Zwang und politischer Freiheit, die also beide nicht feststehende, sondern veränderliche Größen find. Wie sie im einzelnen Falle beschaffen sein können, das lehrt nur eine historische Anschauung. Für die letzten Jahrhunderte des alten Deutschen Reiches muß man in der Tat (was Preuß S. 12 als unzulässig hinstellen möchte) „den Begriff der politischen Freiheit" gleichsetzen mit dein der „Teutschen Libertät", da ihre Er¬ scheinung in den modernen Formen des „Volksstaates", wie ihn Preuß sich als Gegensatz zum „Obrigkeitsstaate" denkt***), damals schlechterdings unmöglich war. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern überall sonst, England eingeschlossen, wo die gleiche ständische Oligarchie (hier in der Form des zur Plutolratie unaufhaltsam hinführenden Besitzadels) als Widerpart der Krone ihr Wesen trieb, wie im Heiligen Römischen Reiche deutscher Nation, nur daß sie dort dank mannigfacher historischer Ursachen innerhalb des staatlichen Rahmens zur Erscheinung kommt, während hier — wiederum als Erbteil der *) „Das deutsche Volk und die Politik". 1916. Jena, Diederichs. ** ) Gerade das Gegenteil kann man behaupten. Vgl. die oben zitierte Stelle von «ante über das ancien rö^ime Frankreichs. Vgl. auch Preuß, „Obrigkeitsstaat". S. 10. Das steht aber mit Nichten im Widerspruch zu dem richtig verstandenen Seeleyschen Satz. "** ) Vgl. „Das deutsche Volk und die Politik".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/66>, abgerufen am 27.07.2024.